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Polytechnische Bildung: Alter Hut oder neue Chance?

Von Rosemarie Hein

Schulisches Lernen mit praktischer Arbeit zu verbinden,ist eine der frühen Ideen der sozialistischen Bewegung. Für heute könnte sie neu gedacht werden.

In meiner Schulzeit in der DDR habe ich ein Vogelhäuschen aus Holz gebaut, im Kuhstall ausgemistet und Kühe gestriegelt, Rüben verzogen, Metallbolzen an einer Drehmaschine gefertigt, Blechwinkel gefeilt, Kabelbäume für Elektroloks gebunden und dabei gelernt, wie man Kabel mit Kabelschuhen versieht. In der Abiturstufe durfte ich den Schwefelgehalt in Metallspänen bestimmen – als Teil der Qualitätskontrolle in einem Industriebetrieb, in dem ich im Rahmen der wissenschaftlich-praktischen Arbeit tätig war. Nichts davon wurde später zu meinem Beruf. Nicht vergessen werde ich allerdings, dass ich einmal zur Fehlersuche an einer V60-Lok in der Endmontage jenes Betriebes gerufen wurde, für die ich den Kabelbaum gebunden hatte. Zum Glück war es am Ende nicht mein Fehler, aber kurzzeitig wurde ich mit den möglichen Konsequenzen meines Tuns konfrontiert.

Die großen Betriebe in der DDR hatten polytechnische Zentren, in denen Schüler*innen grundlegende Arbeitstechniken wie Bohren, Sägen, Feilen und Messen lernen konnten. In den Landwirtschaftsbetrieben ging es eher um Arbeiten auf dem Feld oder im Stall. In höheren Klassenstufen waren wir in die Brigaden der Betriebe integriert, hatten also auch sozialen Kontakt zu den Arbeitskollektiven. Hinzu kam ein theoretisches Fach, in dem verschiedene wirtschaftliche Themen behandelt wurden. Technisches Zeichnen war reguläres Unterrichtsfach. All das kann man unter dem Begriff »polytechnische Bildung« zusammenfassen. Außerdem gab es die »Stationen junger Naturforscher und Techniker«, die als Freizeitangebote in jedem Landkreis Interessierten aller Altersstufen offenstanden.

Nach 1990 war all das mit einem Mal Geschichte. Lehrkräfte für Polytechnik wurden kaum mehr gebraucht, denn die Fächergruppe Hauswirtschaft und Technik war völlig anders ausgerichtet und wurde an Gymnasien meist gar nicht unterrichtet. Mit der Abschaffung der polytechnischen Bildung entstand auch für die technikorientierte Allgemeinbildung ein großes Loch. Vieles, worauf vorher aufgebaut werden konnte, war einfach weg. Der Verlust wurde jedoch zunächst nur im Osten so empfunden. Mit der Aufwertung naturwissenschaftlich-technischer Bildung drang er langsam auch im Westen ins Bewusstsein.

Allgemeinbildung oder 
Praxisorientierung?

Seit Jahren werden nun für die schulische Bildung immer neue Fächer gefordert. Technik ist nur eines davon. Wirtschaft als Schulfach wird gefordert. Überall wird ein Mangel an Praxisorientierung in der Schulbildung beklagt. So sollten Kinder in der Schule auch lernen, einen Fahrkartenautomaten zu ­bedienen, oder Kenntnisse in Hausarbeit, ­Kochen und Buchführung erwerben. Gleichzeitig häufen sich die Klagen über mangelhafte Berufs­orientierung an den allgemeinbildenden Schulen, vor allem in den nicht-gymnasialen Bildungsgängen. Ständig werden neue Programme erfunden, die den Übergang ins Berufsleben erleichtern sollen. Und zunehmend wird dabei auch der Begriff der polytechnischen Bildung bemüht. Aber ­damit hat das alles wenig zu tun. Polytechnische Bildung an der allgemeinbildenden Schule ist keine vorgezogene berufliche Bildung und auch etwas anderes als Berufsorientierung.

Zur Geschichte der Industrie- 
und Arbeitsschulen

Die Forderung nach der Verbindung von Arbeit und Unterricht für Kinder und Jugendliche ist mit der fortschreitenden Entwicklung der industriellen Produktion seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verknüpft. Einer der ersten Verfechter dieses Ansatzes war Robert Owen, der in seiner Wollfabrik in New Lanark zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine solche Schule für die in der Fabrik arbeitenden Kinder einrichtete. Trotz aller Kritik an Kinderarbeit war dieses Beispiel maßgebend für die Entwicklung des polytechnischen Ansatzes in den Bildungsvorstellungen bei Marx und Engels. Sie sahen in der Verbindung von (bezahlter) Arbeit und Bildung einen Weg, um »die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie zu erheben« (Marx 1866, 195).

Mit den Industrieschulen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der späteren Arbeitsschulbewegung wurden wesentliche Grundlagen für die Praxis der polytechnischen Bildung gelegt. In den damals entwickelten sozialistischen und reformpädagogischen Ansätzen ging es vor allem um die Erziehung von Kindern aus den unteren Schichten der Bevölkerung, um ihre zeitgemäße Bildungsteilhabe. Marx bezeichnete die Verbindung von Unterricht und Produktion »als eine fortschrittliche gesunde und berechtigte Tendenz« (ebd., 193), obgleich er die Praxis der kapitalistischen Ausbeutung von Kindern scharf kritisierte. Die Vorstellungen von ­polytechnischer Bildung waren seitdem Bestandteil der Ideen der sozialistischen Bewegung.

Die Betrachtung von Industrie- und Arbeitsschulen war stets ambivalent: Die einen sahen darin eine nützliche Weise der Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte für die sich entwickelnde industrielle Produktion und gleichzeitig deren Einpassung in die vorgegebenen Gesellschaftsstrukturen, eine Zielsetzung, die heute noch das Herangehen wirtschaftsorientierter Interessengruppen leitet. Andere betonten stärker den emanzipatorischen Aspekt produktiver Arbeit als immanenten Bestandteil der allgemeinen Menschenbildung.

Die Vorstellungen von der Verbindung von Bildung und produktiver Arbeit konnten auf verschiedenen Vorarbeiten humanistischer Bildung bei Humboldt, Pestalozzi, Fröbel und anderen aufbauen. Die beiden Erstgenannten kritisierten allerdings die Industrieschulen wegen ihrer Ausrichtung an den Bedürfnissen der Industrie und der Beförderung von Kinderarbeit. John Dewey und William H. Kilpatrick haben mit der Entwicklung der Projektmethode, Georg Kerschensteiner mit der Beförderung der Arbeitsschulbewegung und Paul Oestreich mit seiner Idee der »elastischen Einheitsschule« Anfang des 20. Jahrhunderts wesentliche Grundlagen für die spätere Entwicklung der polytechnischen Bildung geschaffen.

Schließlich war es Nadeshda Krupskaja, die 1929 die polytechnische Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung für die Schule im Sozialismus weiterentwickelte. Ihre Auffassung dürfte für die Akzeptanz der polytechnischen Bildung in der DDR-Schule am Ende prägend gewesen sein

Polytechnische Bildung zielte auf eine an der Lebenspraxis der Kinder orientierte Bildung und wurde in der sozialistischen Bewegung fortan als notwendiger Teil der allgemeinen Menschenbildung verstanden. Doch dieses Verständnis war zunächst nur eines auf dem Papier und hat sich in der DDR erst später wirklich entwickelt.

Die DDR-Schule

In der DDR-Schule war die »polytechnische Bildung und Erziehung […] Grundzug und Bestandteil des Unterrichts und der Erziehung in allen Schuljahren. Entsprechend dem Alter der Kinder ist der Unterricht mit gesellschaftlich-nützlicher Tätigkeit bzw. mit produktiver Arbeit zu verbinden. Im Mittelpunkt des polytechnischen Unterrichts steht in den unteren Klassen der Werkunterricht und von der Klasse 7 an der Unterricht in der sozialistischen Produktion.« (GBL I, § 4) Noch in den 1950er Jahren wurden reform­pädagogische Ansätze in der DDR beargwöhnt. Auch die Arbeitsschulidee wurde verworfen und dem reformpädagogischen Ansatz einer ­»Erziehung vom Kinde aus« wurde eine ­Abfuhr erteilt, weil »sie nicht die Anforderungen der Gesellschaft zum Bezugssystem pädagogischen Denkens und Handelns« wähle, sondern »in lebensfremder und utopischer Denkweise – die Bedürfnisse und Interessen der Kinder« (Borneleit 2003, 137–138) zum Ausgangspunkt nehme. Auch darum wurde der polytechnische Unterricht erst am Ende der 1950er Jahre eingeführt.

Allerdings war der in der DDR-Schule praktizierte polytechnische Ansatz nicht frei von politischen Zwecken jenseits von allgemeiner Bildung. Vor allem die Notwendigkeit, gut qualifizierte Facharbeiter*innen sowie wissenschaftliche und technischen Fachkräfte auszubilden, veränderte den Stellenwert polytechnischer Bildung. Schülerinnen und Schüler sollten bereits mit Beginn des Schuljahres 1958/59 in die Grundlagen der Produktion »eingewiesen« werden. Der »Unterrichtstag in der Produktion« wurde eingeführt. Auch hier ging es vor allem um gesellschaftspolitische Erwartungshaltungen.

Der polytechnische Unterricht fand aber für alle Schüler*innen gleichermaßen statt. Eine unmittelbare Ausrichtung auf die Vorbereitung beruflicher Bildung gab es bis zur 10. Klasse nicht. Vielmehr spielten Erfahrungen des direkten Kontakts zu unterschiedlichsten Arbeitsbereichen und Produktionsbetrieben und die produktive Arbeit eine prägende Rolle. Es wurde die Verbindung zu ortsansässigen Betrieben gepflegt. Insofern war polytechnische Bildung auch Wertebildung. Sie war keine vorgezogene berufliche Bildung, vielmehr ein wesentlicher Teil der ­allgemeinen Bildung neben der mathematisch-naturwissenschaftlichen, der sprachlichen und neben der musisch-ästhe­tischen und der gesellschaftswissenschaftlichen Bildung.

Über die Jahre hat sich die polytechnische Bildung der DDR-Schule zu einem auch international anerkannten Erfolgsmodell entwickelt, an dem sich heute anknüpfen lässt. Dabei sollte jedoch weder die ideologische Prägung übersehen werden noch die Ausrichtung der Fächer ab der 7. Klasse an politischen Vorgaben des Staates.

Mit der Wende wurden die Erfahrungen der Polytechnik aus den Schulen der DDR ignoriert oder negiert. Die Fächer »Einführung in die sozialistische Produktion« (ESP) und »Praktische Arbeit« (PA)1 wurden als ideologisch belastet und an der Planwirtschaft orientiert betrachtet und aus der Stundentafel verbannt. Für die speziell ausgebildeten Lehrkräfte gab es kaum noch Verwendung. Die Fächer Wirtschaft und Technik sowie Hauswirtschaft folgen heute anderen Prämissen und lassen insbesondere den Praxisbezug des polytechnischen Unterrichts vermissen.

Polytechik 2.0

Lernen an praktischen Gegenständen und Themen steht im Zentrum polytechnischer Bildung und kann dadurch anschaulicher und nachhaltiger erfolgen als ausschließlich über Bücher oder das Internet. Gerade angesichts der gegenwärtigen Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Umwälzungen in der Arbeitsgesellschaft ist es notwendig, die Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zu kritischem Denken in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu fördern sowie die Fähigkeit, ihr erworbenes Wissen für das eigene Leben kritisch zu werten. Dazu benötigen sie Kenntnisse über technische und wirtschaftliche Zusammenhänge auch globaler Natur, Verständnis für technologische Entwicklungen in der modernen Produktion und ihre Folgen. Sie müssen lernen, scheinbar unverrückbare Wahrheiten infrage zu stellen. Das alles sind gerade in einer sich ständig und rasant verändernden Welt wichtige Bildungsziele, die praktisch erfahren werden müssen und nicht nur theoretisch erlernt. Auch in diesem Sinne ist polytechnische Bildung für alle Kinder und Jugendlichen ein notwendiger Bestandteil von allgemeinbildender Schule. Sie wirkt so auch heute wertebildend.

Darum ist es wichtig, den Bezug zum wirtschaftlichen und sozialen Leben im gesamten Bildungsprozess und in allen Schulformen und allen Schulstufen zu stärken. Dabei geht es nicht nur um die nicht-gymnasialen Bildungsgänge. Doch in dem Allgemeinbildungsverständnis, das heute die meisten bildungspolitischen Auffassungen prägt, gilt immer noch der Grundsatz: praxisorientierte Bildung vor allem für die nicht-gymnasialen Schulformen und die »hohe« Allgemeinbildung für die Gymnasien. Dies ist ein anachronistisches Überbleibsel der Ständegesellschaft und ihres Bildungskonzepts aus dem frühen 19. Jahrhundert und auch für gymnasiale Bildung heute alles andere als zeitgemäß. In den Rahmenlehrplänen aller Bundesländer finden sich auch heute noch diese Differenzierungen für den Zugang zu Bildung, die sich an der vermeintlichen späteren Stellung der ­Lernenden im Arbeitsleben und in der Gesellschaft orientieren. Danach wird auch heute öffentlich finanzierte Bildung zugeteilt. Dahinter stehen Fragen der wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Bildung und die Bestimmung dessen, was öffentlich finanzierte Schule heute leisten soll. Tatsächlich stehen hinter solchen bildungspolitischen Orientierungen vor allem Interessen von Wirtschaftsverbänden. Darum die zahlreichen Programme zur besseren Berufsorientierung, die Forderungen nach neuen Fächern und Bildungsinhalten, die vor allem der wirtschaftlichen Verwertung von Bildung dienen. Das aber ist nicht Aufgabe von allgemeinbildender Schule, zu der die ­polytechnische Bildung gehört. Polytechnische Bildung darf keinesfalls als vorgezogene berufliche Bildung oder einfach nur als bessere Berufsorientierung missverstanden werden. Berufliche Bildung bleibt ureigene Aufgabe beruflicher Schulen. Stattdessen geht es um einen emanzipa­torischen, ­persönlichkeitsbildenden Allgemeinbildungsansatz, der dazu beiträgt, Schule zu einer am wirklichen Leben orientierten Einrichtung zur Bildung von Kindern und Jugendlichen zu machen, die den Zusammenhang ­zwischen Schule und Leben nicht nur predigt, sondern lebt. Polytechnische Bildung ist eine Säule der Allgemeinbildung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wo anknüpfen?

Ansätze für gute Erfahrungen gibt es bereits: Über das Prinzip des »produktiven Lernens« fanden Schüler*innen, die an der Schule, wie sie heute ist, gescheitert sind, wieder Freude am Lernen.2 Beim produktiven Lernen werden die Lerngegenstände anhand von Aufgaben aus der Praxis – begleitet von Lehrkräften – erarbeitet. In einer Autowerkstatt zum Beispiel kann das Funktionsprinzip eines Ottomotors erlernt werden, in einer Fahrradwerkstatt die Funktion der Kraft­übertragung beim Fahrrad. Physik zum Anfassen, Lernen wird so nachhaltiger.

Lehrkräfte und Beschäftigte aus den Betrieben arbeiten dabei zusammen. Die Bildungsinhalte und ­Lerngegenstände werden im Alltag gefunden und an diese vielfältigen konkreten Situationen angepasst. Das in der jeweiligen Praxisstelle Erlernte kann am Ende eines Zyklus den Mitschüler*innen präsentiert werden. Die Arbeiten, die daraus entstehen, können mit jedem gymnasialen Anspruch mithalten.

Bisher wird diese Art zu lernen nur den jungen Menschen ermöglicht, die in Regelschulen nicht weiterkommen. Stattdessen könnte sie ein anderes Lernprinzip für viele sein. Lernen durch konkrete Anschauung und praktische Erfahrung. Aus solchen in der Praxis gewachsenen Erfahrungen können dann auch Berufswünsche wachsen, und in diesem Sinne kann polytechnische Bildung dann auch berufsorientierend sein – es ist aber eben nicht ihr erster Zweck.

Eine linke Bildungspolitik, die sich nicht nur mit den Strukturen beschäftigen will, die soziale Ungerechtigkeit zementieren, muss sich auch um eine Reform der Bildungsinhalte kümmern. Sie muss neue Wege beschreiten und ausgetretene Pfade ewig geglaubter Wahrheiten verlassen. Das gilt für die Auswahl des zu Lernenden und die Entdeckung neuer Lernwege. Innovation ist angesagt und Vielfalt bei Inhalt und Methoden. Viele Erfahrungen aus der polytechnischen Bildung könnten für diese neuen Wege einen produktiven Rahmen bieten.

Der Artikel greift auf eine Veröffentlichung der Landtagsfraktion der Linkspartei.PDS in Sachsen-Anhalt zurück, zu finden in Forum Schulbildung 2006.

Literatur

Borneleit, Peter, 2003: Lehrplan und Lehrplanerarbeitung, Schulbuchentwicklung und -verwendung in der DDR, in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 35, 134–145

GBL I,Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, § 4, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik I, Berlin

Marx, Karl, 1866: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, in: MEW 16, Berlin

Technikunterricht für alle allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. Ein Beitrag zu einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Bildung. Memorandum, April 1996

Anmerkungen

1 Früher: Unterrichtstag in der Produktion (UTP).

2 Die besondere Unterrichtsform des produktiven Lernens hat das Institut für Produktives Lernen (IPLE) entwickelt.