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Die Polizei abschaffen? Was uns wirklich sicher macht

Mit Melanie Brazzell

Nach den jüngsten Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung hat der Stadtrat in Minneapolis beschlossen, die Polizeibehörde aufzulösen. In anderen Städten wird über defunding gesprochen. Was bedeutet das?

Bis Sommer 2020 hatten 13 Städte in den USA, darunter Seattle, Washington, D.C., Los Angeles, San Francisco, Boston, New York und Baltimore, ihre Polizeibudgets bereits gekürzt. Der Defunding-Ansatz, also die Idee, finanzielle Mittel der Polizei in andere gesell­schaftliche Bereiche umzulenken, geht aber eigentlich auf die radikalere Forderung nach einer Abschaffung der Polizei zurück. Insofern ist es eine Art strategischer Übergangsfor­derung. Critical Resistance, ein Netzwerk von Aktivist*innen, das unter anderem von Angela Davis mitgegründet wurde, nennt dies eine »nicht reformistische Reform« – also eine Reform, die den Weg für weitergehende Transformationen öffnen kann (vgl. Critical Resistance, 2018). Das Konzept hat eine lange sozialistische Tradition. In der aktuellen Debatte geht es aber letztlich um abolition, also um die Abschaffung der Polizei.

Wofür tritt das Abolitionist Movement ein?

Der Begriff wurde in Bezug auf Polizei und Gefängnisse in den 1990er Jahren ebenfalls von Critical Resistance geprägt, um auf die Kontinuitäten zwischen der Sklaverei und dem strukturellen Rassismus der heutigen Polizei und der Gefängnisindustrie hinzuweisen. In den USA hat die Polizei ihre Wurzeln in den Skla­venpatrouillen, im Nordosten lag ihre zentrale Funktion darin, Streiks und Gewerkschaften zu zerschlagen. In Deutschland ist die Geschichte natürlich eine etwas andere, hier spielen eher Kolonialismus und Nationalsozialismus eine Rol­le. Das Abolitionist Movement sieht sich in der »Schwarzen radikalen Tradition« nach Cedric Robinson (1983) und wird maßgeblich von Schwarzen Frauen und Queers angeführt. Ich denke, dass diese Tradition in den Schwarzen Communitys in Deutschland auch sehr präsent ist und in der Linken Beachtung finden sollte.

Würde eine grundlegende Polizeireform nicht reichen?

Die Funktion der Polizei ist es, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Das ist ein Sys­tem der Unterdrückung, aber natürlich trifft die damit verbundene Gewalt nicht alle gleich. Communitys of Color berichten, was es heißt, ständig mit Polizeikontrollen konfrontiert zu sein. Geflüchtete werden kriminalisiert, weil sie hier Asyl suchen. Frauen, die sich gegen gewalttätige Partner oder sexualisierte Gewalt wehren, oder Sexarbeiter*innen erhalten oft keinen Schutz von der Polizei. Für einen relevanten Teil der Bevölkerung – nämlich für die Marginalisierten – bietet die Polizei keine Sicherheit. Im Gegenteil, sie haben Angst, verletzt, verhaftet oder gar ermordet zu werden (vgl. Thompson in diesem Heft). Polizei, Grenzregime und Gefängnisse produ­zieren und reproduzieren also Unsicherheit auf struktureller Ebene. Teils schaffen sie erst Probleme, die dann wieder polizeilich gelöst werden müssen. Diese Einsicht legt nahe, dass es mit einer bloßen »Reform« nicht getan ist. Eine emanzipatorische Bewegung muss die Polizei wirklich abschaffen.

In Teilen der hiesigen Linken wird Polizei eher im Kontext sozialer Infrastrukturen diskutiert. Es geht um Demokratisierung, um die Stärkung von Bürgerpolizeielementen oder veränderte Ausbildungsinhalte. Sie wird nicht als zentrales Problem für die Linke gesehen.

Naja, die Polizei und die Sicherheitsdienste sind derzeit die Orte, wo sich Nazis, white supremacists und die Alt-Right-Bewegung in den Staatsapparat einschreiben. Auch in Deutschland. Sie vernetzen sich innerhalb die­ser Institutionen, hier beschaffen sie sich ihre Infos, ihre Waffen, ihre Daten, ihre Zugänge. Das ist gefährlich, es ist momentan ihr Weg in die Regierung und ihr Weg zur Legitimie­rung. Das sollte man ernst nehmen.

Wir haben in den USA all diese Reformver­suche erlebt, darunter auch Community-Policing. Es gab die 8-Can’t-Wait-Kampagne, um die Polizei weniger gewalttätig zu machen, und Diversity- oder Anti-Vorurteils-Trainings, aber letztlich sind das kosmetische Dinge. Durch das Community-Policing konnte die Polizei sogar noch stärker in den Alltag der Menschen eingreifen.

Wir brauchen unbedingt eine Demokra­tisierung, aber was heißt das? Dass wir die Polizei nicht von innen, sondern von außen verändern müssen. Sie muss zur Verant­wortung gezogen und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Transparenz, Kenn­zeichnungspflicht, unabhängige Beschwerde­stellen, ein Antidiskriminierungsgesetz so wie in Berlin – all das sind Versuche der Demokra­tisierung von außen (vgl. Renner/Wehrhahn in diesem Heft). In Chicago konnte 2015 beispielsweise im Zuge eines Gerichtsverfah­rens durchgesetzt werden, dass das Wissen über die jahrzehntelangen Folterskandale der Chicagoer Polizei unter Jon Burge nun verpflichtendes Thema im Schulunterricht ist. Auch das heißt Demokratisierung von außen: nicht die Ausbildung der Polizei verändern, sondern das gesellschaftliche Wissen über ihr Handeln und ihre Funktion erweitern. Ein all­gemeines Wissen darüber, wie Polizeigewalt erlebt wird, hilft, die Grenze zwischen den Communitys, die mit dieser Gewalt im Alltag konfrontiert sind, und den anderen Teilen der Bevölkerung einzureißen.

Mariame Kaba, eine prominente Aktivistin des Abolitionist Movement argumentiert, Polizei und Gefängnisse müssten erst »abgeschafft« werden, bevor sie reformiert werden könnten. Was meint sie?

Mit diesem Paradox weist sie darauf hin, dass es um einen sehr grundlegenden gesellschaft­lichen Umbau geht. Abolition wird oft einfach als die Abwesenheit von Polizei verstanden. Ruth Wilson Gilmore, ebenfalls Mitbegründe­rin von Critical Resistance, widerspricht dem: Es gehe nicht darum, aus der bestehenden Gesellschaft einfach die Polizei zu entfernen, alles andere aber so zu lassen. Das wäre ja verrückt. Abolition entwirft eine Welt, in der Polizei und Gefängnisse nicht mehr nötig sind. Das ist weitreichend. Es geht also auch darum, Alternativen zur Polizei aufzubauen: lebensbe­jahende und demokratische Strukturen.

Muss also Rassismuskritik mit einer grund­legend anderen Sozialpolitik verbunden werden?

Ja, dazu ist es wichtig, sich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte anzuschauen. Ab den 1970er Jahren, mit dem Aufstieg des Neoliberalismus, gab es einen punitive turn, eine Wende hin zum strafenden Staat. Der Wohlfahrtsstaat wurde rückgebaut, aber anders, als die neoliberale Ideologie behaup­tet, entsteht damit nicht weniger, sondern nur eine andere Staatlichkeit – ein strafender oder Sicherheitsstaat. Soziale Dienstleistungen wurden in vielen Bereichen zurückgefahren und durch Sicherheitsinstitutionen ersetzt. Natürlich erleben die verschiedenen Klassen und Gruppen dies unterschiedlich. Reiche können von den Resten des Wohlfahrtsstaats noch profitieren, die Lücken durch privatisier­te Angebote füllen, während die Armen und People of Color (PoC) den Staat zunehmend von seiner disziplinierenden, repressiven Seite erleben. Dies gilt tendenziell auch für Deutschland – je mehr der Wohlfahrtsstaat abgebaut wird, desto mehr Probleme entste­hen, auf die repressiv geantwortet wird. Wir müssen aber nicht nur die Polizei in den Blick nehmen, auch die Institutionen des Wohl­fahrtsstaats haben eine disziplinierende Seite, sind von Rassismus und der Verächtlichkeit gegenüber armen Menschen durchzogen.

Wäre mit mehr Geld für soziale Dienstleistun­gen das Gewaltproblem erledigt?

Nein, das heißt nicht, dass es dann gar keine Gewalt mehr gäbe. Strukturelle Gewaltver­hältnisse wollen wir zwar überwinden, aber auch in einer befreiten Gesellschaft werden Konflikte und zwischenmenschliche Probleme existieren. Dafür lassen sich aber andere Lösungen entwickeln als die, die ich als »negative Sicherheit« bezeichne, also Diszi­plinierung und Eindämmung. Wir müssen neue Umgangsformen mit Konflikten und interpersonaler Gewalt finden – positive Sicherheitsvorstellungen. Insofern reicht es nicht, die Polizei abzuschaffen und beste­hende Institutionen umzubauen. Wir müssen Fantasie entwickeln und ausprobieren, wie solche neuen Strukturen aussehen könnten. In meiner Arbeit stelle ich deshalb die Frage: Was macht uns wirklich sicher?

Du arbeitest seit Jahren zu Transformativer Gerechtigkeit, wie steht dieser Ansatz zum Abolitionist Movement?

In den USA gibt es eine lange Geschichte des weißen Feminismus, in dem Fragen von Rassismus und Staatsgewalt kaum eine Rolle gespielt hat. Und umgekehrt haben die Kämpfe gegen rassistische Staatsgewalt die spezifischen Probleme von Schwarzen Frauen nicht immer ernst genommen. Frauen und Queers of Color befinden sich an der Schnittstelle dieser beiden Bewegungen. Sie haben eine strategische Scharnierfunktion. Aus dieser Erfahrung ist Ende der 1990er Jahre die Idee von community accountability, von kollektiver Verantwortungsübernahme und Transformative Justice entstanden. Eine der ersten Gruppen war Communities Against Rape and Abuse (CARA) aus Seattle, gegrün­det von Frauen und Queers of Color, die im Anti-Gewalt-Bereich gearbeitet haben. Sie haben den punitive turn hautnah miterlebt, emblematisch war hier der Violence Against Women Act von 1994, mit dem übrigens der neue US-Präsident Joe Biden bekannt wurde. Das war ein feministischer Durchbruch gegen patriarchale Gewalt qua verschärfter Strafverfolgung, ähnlich wie die Sexualstraf­rechtsreform 2016 in Deutschland. Für die betroffenen Frauen verbesserte sich dadurch aber kaum etwas. In Gewaltsituationen haben sie letztlich nur die Möglichkeit, die Polizei zu rufen und die Täter anzuzeigen. Genau das ist aber für viele keine Option: Oft ist der Kontakt mit der Polizei eher retraumatisierend oder sie laufen Gefahr, selbst kriminalisiert zu werden: Sie können abgeschoben werden, die Kinder verlieren oder selbst ins Gefängnis kommen. Wenn beispielsweise der Typ, der gegen rassistische Polizeigewalt kämpft, seine Partnerin zu Hause verprügelt, ist klar, dass es für sie nicht infrage kommt, die Polizei zu rufen, weil sie ihn massiv gefährden würde. Ihrem Bedürfnis nach »echter Gerechtigkeit« und nach Heilung ist damit auch nicht ent­sprochen. Außerdem trägt Strafe kaum dazu bei, dass sich gewalttätiges Verhalten ändert oder Täter die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Zu CARA kamen damals viele Betroffene mit dem Wunsch, einen anderen Umgang mit diesen Problemen zu finden.

Wie genau kann das aussehen?

Wir alle wissen, wie wir mit Konfliktsituati­onen umgehen könnten, aber viele von uns sträuben sich dagegen. Wir wollen lieber eine Nummer anrufen und das Problem an eine staatliche Institution delegieren. Für andere ist dies aber, wie gesagt, keine Option, um ihren Konflikt zu lösen. Von ihnen können wir in diesen Fragen am meisten lernen. In Geflüchtetenunterkünften, in Communitys von Sexarbeiter*innen und People of Color sind aus der Not heraus kreative, improvi­sierte Strategien für den Umgang mit Gewalt jenseits des »strafenden Staates« entstanden. Sie versuchen auch die Menschlichkeit von Leuten in Gewaltkonstellationen zu sehen, ihr Transformationspotenzial. Es gibt die Erfahrung, dass Gewalt aus einem Zyklus von Gewalt heraus entsteht: Oft gebe ich die Gewalt weiter, die ich – nicht nur individuell oder in der Familie, sondern auch vonseiten gesellschaftlicher Institutionen – erlebt habe. Das ist die Sprache, in der ich mich behaup­ten kann. Ich muss also erst eine andere Sprache lernen und mich mit meinen eigenen Gewalterfahrungen auseinandersetzen.

Lassen sich diese Ansätze in weiße Zusam­menhänge übersetzen?

Es ist wichtig, klein anzufangen. Wir sind für solche Praxen transformativer Gerechtigkeit nicht vorbereitet. Fang klein an, bevor die Sa­chen groß werden, denn jede Gewaltsituation oder Gewaltbeziehung hat einen harmlosen Anfang. Wir müssen üben, Verantwortung zu übernehmen. Das ist unter Linken oft be­sonders schwierig, denn wir wollen alle gute Menschen sein und es besser machen als die Mehrheit der Gesellschaft. Aber genau das hindert uns oft daran, wirklich empathisch zu sein, wenn Menschen Fehler machen. Wir stecken in einer »Moral-Hygiene-Kultur«. Wenn andere Fehler machen oder Gewalt ausüben, wollen wir uns davon distanzieren, wir betrachten das Schlechte, als wäre es ansteckend. Eine Aufgabe für uns alle ist es, diese emotionale Arbeit zu leisten.

Du sprichst viel von der Community. Wer ist das in einer konkreten Konfliktsituation?

Die Frage wurde mir oft gestellt, als ich in Berlin zu transformativer Gerechtigkeit gearbeitet habe. Die Community ist das jeweilige soziale Umfeld von Menschen, sind diejenigen, mit denen wir uns im Alltag ver­bunden fühlen. Auch in den USA erlebe ich, dass Leute zwar eine abstrakte Vorstellung ihrer Communitys haben, aber im konkreten Fall nicht wissen, wen sie anrufen sollen, wenn sie Gewalt erfahren oder ausgeübt haben – das ist Teil des Prozesses. Das Bay Area Tranformative Justice Collective hat deshalb den pod-Ansatz entwickelt: Dabei benennen die Leute ihre Community konkret und schreiben sie zum Beispiel in Gruppen oder Kreisen auf: Wer sind die ein, zwei oder fünf Leute, die ich anrufen würde, wenn ich Gewalt erfahre oder ausübe? Das können ganz andere Menschen sein als diejenigen, die in meiner Nachbarschaft wohnen oder mit denen ich politisch organisiert bin. An und in diesen pod-Beziehungen kann dann gearbeitet werden, da besteht eine Möglich­keit für Veränderung, für Organisierung. Das gefällt mir am Transformative-Justice-Ansatz: Hier findet die große politische Arbeit auch auf einer Mikroebene statt, auf einer sehr affektiven, somatischen Ebene. Insofern ist damit auch ein anderer Politikbegriff verbun­den: eine queere, Schwarze, intersektionale Vorstellung davon, was Politik heißt. Es geht darum, die Beziehungen, die uns am Leben halten, aktiv zu pflegen. Im Grunde ist das eine alte linke Erkenntnis, die aber kaum progressive Praxis hat (vgl. Brazzell 2018).

Lass uns noch einmal auf das Abolitionist Movement zurückkommen. Wenn von staatli­cher Gewalt vor allem Minderheiten betroffen sind, wie gelingt es, für diesen Umbau eine gesellschaftliche Mehrheit zu gewinnen? Für Leute, die mit der Polizei keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, bedeutet deren Abschaffung ja potenziell mehr Gewalt, mehr Chaos.

Diese Spaltung – auf der einen Seite diejeni­gen, die Polizeigewalt erfahren, und auf der anderen Seite Menschen, die die Polizei als Schutz sehen – müssen wir überwinden. In den USA hat die Möglichkeit, Polizeigewalt mit Handys zu filmen, sehr geholfen. So wur­de die bis dahin oft unsichtbare Gewalt für die Mehrheit der Gesellschaft wahrnehmbar. Kämpfe gegen Unterdrückung, wie Black-Lives-Matter, haben eine befreiende Wirkung für alle in einer Gesellschaft – auch für die Weißen. Die Linke sollte Zeit, Energie und Ressourcen dafür aufwenden, Schwarzen Wi­derstand zu unterstützen, muslimischen und anderen PoC-Communitys zuzuhören und ihnen Gehör zu verschaffen. Nur dann wird es möglich, diese Spaltung zu überwinden. Außerdem müssen wir deutlich machen, wie diese staatliche Gewalt auch mit Hartz IV, mit dem Jugendamt, der Ausländerbehörde, mit Antigewerkschaftspolitik oder mit Zwangs­räumungen zusammenhängt. Jede soziale Bewegung sollte die Polizei als zentrales Problem wahrnehmen – sobald sie über das Bestehende hinauswill, ist sie ihr erster Feind.

LITERATUR

Das Gespräch führte Barbara Fried.