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PARTEIENLANDSCHAFT IM UMBRUCH

Von Horst Kahrs

Die Wählerinnen und Wähler haben am 27. September 2009 die bundesdeutsche Parteienlandschaft verändert. Erstmals seit 1994 verfügen Union und FDP wieder über eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Die ›strukturelle Mehrheit‹ der Parteien ›links der Mitte‹, also die Summe der Abgeordneten von SPD, Grünen und PDS bzw. die Partei Die Linke, existiert nun auch rechnerisch nicht mehr. Ob dieser politische Umbruch nachhaltig über mehrere Wahlperioden wirkt oder bereits 2013 umkehrbar ist, hängt vom weiteren Verlauf der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, dem Agieren der Parteien und – von denjenigen Wahlberechtigten ab, die 2009 ins Lager der Nichtwähler gewechselt sind.

Mit diesen Ergebnissen strukturiert sich das Parteiengefüge neu. Die Union erzielte ihr schlechtestes Ergebnis nach 1949, die SPD landete in sechs Ländern, darunter zwei in Westdeutschland, unter 20 Prozent. Die »kleinen« Parteien wurden mit zweistelligen Ergebnissen zu ›mittleren‹ Parteien. Noch nie war in der Bundesrepublik eine parlamentarische Partei links von der SPD so stark vertreten. Im Osten konkurriert sie mit der CDU um die Regierungsmacht.

Die deutliche Stimmenmehrheit von Union und FDP im Bundestag täuscht darüber hinweg, dass diese Regierung über die bisher geringste Verankerung unter den Wählenden wie unter allen Wahlberechtigten verfügt. Die Stimmenanteile der ›rot-rot-grünen‹ Parteien fielen zwar von zusammen 51,6 Prozent im Jahr 2005 auf jetzt 45,6 Prozent und die Anteile von Union und FDP stiegen von 45,0 Prozent auf nur 48,4 Prozent. Doch damit steht lediglich ein Drittel der Wahlberechtigten hinter der schwarz-gelben Regierung. Die gegenwärtige Stärke der neuen Regierung verdankt sich vor allem der Schwäche ihrer Gegner, nicht eigener politischer Substanz. Der Koalitionsvertrag setzt die Merkelsche Wahlkampfstrategie fort: Zuspitzungen vermeiden, die Gegner mobilisieren könnten. Über 80 Prüfaufträge sollen entsprechende Ecken und Kanten der FDP schleifen. Die neue Regierung hat keine stabile neue Mehrheit.

Eine neue Epoche christdemokratisch dominierter Mehrheiten kann aus den politischen Verwüstungen erwachsen, die die SPD hinterlassen hat. 1998 erreichte die SPD mit 20 Mio. Stimmen so viel Zustimmung wie nie zuvor. Nach elf Jahren sozialdemokratischer Regierung ist davon knapp die Hälfte geblieben. Allein zwischen 2005 und 2009 verlor die SPD weit über 6 Mio. Zweitstimmen. Im Saldo ergeben Gewinne und Verluste für die Neufindung der SPD keine klaren Signale: 1,1 Mio. Stimmen gingen an die Partei Die Linke, knapp 0,9 Mio. an die Grünen, 1,4 Mio. an Union und FDP und über 2,1 Mio. an die Nichtwähler. Dieses Wahl ergebnis gibt den Richtungskämpfen in der SPD neue Nahrung, zumal durch das Agieren der Grünen die nahe liegende Rolle, sich als führende Partei in einem rot-rot-grünen Lager kurzfristig zu erneuern, zunächst gestrichen wurde.

Für die Herausbildung zukünftiger Mehrheiten wird die Wahlbeteiligung eine entscheidende Rolle spielen. Nach den bisher bekannten Zahlen hat der Zuwachs bei der Nichtwählerschaft bereits seit 2002, verstärkt bis 2009 einen zunehmend klassenspezifi- schen Charakter. Vor allem in Gebieten mit einem hohen Anteil von prekären Arbeitsund Lebensverhältnissen und SozialtransferBeziehenden, mit vielen Wahlberechtigten aus Familien mit Migrationshintergrund, niedrigen Durchschnittseinkommen und Bildungsabschlüssen gibt es überdurchschnittliche Rückgänge bei der Wahlbeteiligung. Für manche Städte des Ruhrgebietes oder in den nord- und ostdeutschen Krisenregionen muss sogar von einer »Kultur der Nichtbeteiligung« gesprochen werden.

Ein Zusammenhang zwischen wachsender sozialer und gesellschaftlicher Spaltung, anhaltender Arbeitslosigkeit und Armut, sozialer Perspektivlosigkeit und Exklusion einerseits und politischer Partizipation und Repräsentation andererseits ist deutlich erkennbar, aber noch nicht durchgängig und ungebrochen. Sollten sich jedoch die sozialen Entmischungen bei der Wahlbeteiligung, wie sie bei Europawahlen, Kommunalwahlen und manchen Landtagswahlen bereits prägend sind, auch bei Bundestagswahlen verstetigen, bekäme das politische System parlamentarischer Repräsentation einen klar ausgeprägten Klassencharakter.

Wenn nicht mehr alle wesentlichen Schichten und Klassen im parlamentarischen System vertreten sind, eine Stimme haben und Gehör finden, höhlt der demokratische Prozess auch zur Seite der Gesellschaft aus, nachdem er bereits gegenüber wirtschaftlicher Macht seine Unzulänglichkeit gezeigt hat. In der Trendenz stärkt dieser Prozess die Rechte. Gelingt es den Parteien links von der Mitte nicht, den Rückzug aus dem System der politischen Repräsentation zu stoppen und umzukehren, zerbricht das Fundament für längerfristige Mitte-Links-Mehrheiten und gesellschaftliche Reformprojekte.

Union und SPD haben ihren Zenit als massenhaft integrierende Volksparteien, die den Wahlberechtigten Richtungsentscheidungen über das gesellschaftliche Allgemeinwohl ermöglichen, überschritten. Ihren Höchststand erreichte die Union mit einem Anteil von 43,7 Prozent aller Wahlberechtigten 1976. Der Höchstwert der SPD (41,4 Prozent der Wahlberechtigten) kam 1972 zustande. Bei beiden Wahlen erreichten Union und SPD zusammen jeweils 82 Prozent aller Wahlberechtigen. Zusammen erreichten Union und SPD 1998 noch 37,5 Mio. Stimmen. Sie repräsentierten damit 76,1 Prozent der gültigen Stimmen und 61,7 Prozent der Wahlberechtigten. 2009 erreichten beide zusammen nur noch 24,6 Mio. Stimmen, das sind 56,8 Prozent der gültigen Stimmen und 39,7 Prozent der Wahlberechtigten.

Die Stimmverluste verteilen sich bis 2009 auf Stimmengewinne für andere Parteien (knapp 7 Mio. Stimmen) und auf einen Zuwachs bei den Nichtwählern (gut 6 Mio.). Bei ihrem bisher schlechtesten Wahlergebnis erreichte die SPD 1949 die Stimmen von 22,2 Prozent der Wahlberechtigten; 2009 waren es nur noch 16,1 Prozent. Aber auch die Union fällt zurückt: Mit 23,6 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten erreicht sie die gleiche Verankerung in der Wahlbevölkerung wie 1949. Beachtenswert sind die Unionsverluste in den süddeutschen Ländern (Bayern, Baden-Württemberg, Teile von Rheinland-Pfalz und einige weitere rheinische Regionen) mit starken katholischen Sozialmilieus. Auch die Union scheint, ähnlich wie die Schröder-SPD, ›moderne‹ Politik gegen einen größeren Teil ihrer Wählerschaft durchsetzen zu müssen. Die Spannungen zwischen drängenden Modernisierungsprozessen und bewahrendem Wertkonservatismus prägte den Wahlkampf und erklärt einen Teil des Wahlerfolges der FDP. Unionsanhänger, die bei ihrer Partei die neoliberalen Zuspitzungen des Leipziger Parteitages vermissten und eine Neuauflage der CDU-SPD-Koalition verhindern wollten, sahen sich bei einer marktradikal inszenierten FDP gut aufgehoben. Gleichwohl verwundert die Höhe des FDP-Ergebnisses angesichts der tiefen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die FDP ist über die Jahre zur Ein-Punkt-Partei (»Steuern senken!«) geworden. Es scheint ihr gelungen, materielle Interessen und ideologische Einstellungen zu verbinden im verbalen Kampf gegen den »Steuerstaat«, der die »Früchte der eigenen Leistung wegsteuert«. Mit durchaus klassischen Staats- und Gesellschaftsbildern konnte sie in den kleinbürgerlich-mittelständischen Populismus, damit in neue soziale Schichten vordringen: Sie gewann in allen Sozialstrukturgruppen zwischen sieben (Selbständige, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter) und zwei (Arbeitslose) Prozentpunkte und bei den Selbständigen erreicht sie 26 Prozent. Sie gewann in allen Altersgruppen: Ihr bestes Ergebnis hatte sie bei den unter-45-jährigen Männern, hier erreichte sie bei den 25- bis 34-Jährigen sogar 20 Prozent der Stimmen – mehr als die SPD.

Die FDP besetzt das eine Ende der gesellschafts- und ordnungspolitischen Achse Staat – Markt, die zumindest in den kommenden vier Jahren die Politik prägen wird. Am anderen Ende steht die Partei Die Linke, die ihre absolute Stimmenzahl um 25 Prozent gegenüber der Bundestagswahl 2005 erhöhen konnte und deren Stimmenanteil bei den Wahlberechtigten auf 8,3 Prozent anstieg. Sie hat durch das Wahlergebnis die Meinungs- und Oppositionsführerschaft in Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Reichweite und Art und Weise staatlicher Tätigkeit, des Öffentlichen angeboten bekommen. Wie sie diese Rolle ausfüllt, wird entscheiden, ob eine mehrheitsfähige gesellschaftliche Reformbewegung gegen eine mögliche strukturelle schwarz-gelbe Mehrheit 2013 entsteht.

Bundesweit scheint die Partei Die Linke über eine Stammwählerschaft von rund 2,5 Mio. Wählerinnen und Wählern zu verfügen. Zumindest haben nach Auskunft der Wahlforschung so viele, die 2005 die Linkspartei.PDS gewählt hatten, sie erneut gewählt. Umgekehrt bedeutet das, dass 1,6 Mio. Stimmen von 2005 zu anderen Parteien und den Nichtwählern gewandert sind und gleichzeitig 2,5 Mio. Stimmen neu hinzugewonnen wurden, die meisten von der SPD. Ihre Stimmengewinne machen bundesweit jedoch nur ein knappes Sechstel der Stimmenverluste der SPD aus, in den alten Ländern 22,5 Prozent. Bemerkenswert ist folgende Tendenz: Die Partei Die Linke gewinnt unterdurchschnittlich in Gebieten mit überdurchschnittlich sinkender Wahlbeteiligung. Es wird eine entscheidende Aufgabe sein, Menschen aus dem unteren sozialen Drittel der Gesellschaft, die dem politischen System eher fern stehen und zur Wahlabstinenz tendieren, gute Gründe zu liefern, zur Wahl zu gehen.

Die Partei Die Linke wird nicht bleiben können, wie sie ist. Neue Reformprojekte und rot-rote Referenzprojekte aus den Ländern sind notwendig, um 2013 die schwarz-gelbe Mehrheit angreifen zu können. Eine linke Partei in einer sozial gespaltenen Gesellschaft kann dem Gemeinwohl und damit der Gesellschaft nur dienen, indem sie offen und konsequent die partikularen Interessen der gesellschaftlich Schwächeren wahrnimmt. Stellt man Land und Partei in einen Gegensatz, wie es die SPD mit der Agenda 2010 getan hat, ist der Niedergang besiegelt. Ohne produktiven Oppositionsgeist wird auch linke Regierungspolitik zum bloßen Management der herrschenden Verhältnisse. Oppositionsgeist ist nicht das meist eher übellaunige Dagegen-Sein. Produktiv wird oppositioneller Geist mit dem Bewusstsein, dass etwas auf grundsätzliche Weise falsch läuft und dass die Dinge auf grundsätzliche Weise anders geregelt gehören – und das auch möglich ist.

Die Zeiten, in denen sich die Partei Die Linke über die Schwächen der SPD definieren konnte, sind vorbei. Ihre Rolle ist nicht die eines Medizinmannes am Krankenbett der SPD. Sie ist in eine neue gesellschaftspolitische Verantwortung gestellt. Soll es eine ›linke Reformmehrheit‹ im Lande geben, wird sich die SPD in der Tat ›neu erfinden‹ müssen. Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit zusammenzubringen, könnte ein Grundanliegen einer linken Reformmehrheit sein, deren Parteien sich nicht gegenseitig kannibalisieren.

In einem fluiden Fünf-Parteien-System, in dem die Parteien unterschiedliche, pluralistische soziale Lagen, Interessen und Lösungswege vertreten, blockieren die alten Koalitionsmodelle gemeinsame Schnittmengen für notwendige linke Reformmehrheiten. Dieses Modell besagt ja, dass Koalitionen um so wahrscheinlicher und ›machbarer‹ sind, je mehr gemeinsame Vorhaben darstellbar sind: Ähnlichkeit statt Unterscheidbarkeit, die Restmenge wird zur potenziellen Störgröße. Kooperationskonstellationen könnten jedoch auch nach dem Modell von Zahnrädern funktionieren: Welche Vorhaben greifen so ineinander, dass sie arbeitsteilig jeden Part eines solchen linken Reformprojektes in Schwung halten?

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder