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Offene Grenzen als Utopie und Realpolitik

Von Fabian Georgi

Linke Strategien gegen Chauvinismus und soziale Konkurrenz

Nachdem die Bundesregierung Anfang September 2015 die deutschen Grenzen partiell für Flüchtende auf der Balkan-Route geöffnet hatte, sah der linke Philosoph Slavoj Žižek Mitte Oktober ›Europa‹ nicht nur durch rechtspopulistische EinwanderungsgegnerInnen infrage gestellt, sondern »auch bedroht von sentimentalen Linken, die heuchlerisch für offene Grenzen plädieren« (Žižek 2015). In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bezeichnete er die Idee offener Grenzen als »nicht durchsetzbar«, es werde »nie dazu kommen«. Diese Forderung werde von »Linksliberalen« vertreten, die ihre moralische Überlegenheit genauso genössen wie ihre politische Impotenz.

Die Art und Weise, wie Žižek diese seit Jahren von Antira-Gruppen und Refugee-AktivistInnen vertretene Position kritisierte, war ärgerlich und unsolidarisch. Seine rhetorische Pöbelei enthielt jedoch einen wahren Kern: Seit den 1990er Jahren funktionieren linke Slogans wie »No Border, No Nation« oder »Grenzen auf für alle Menschen« als inspirierende Provokationen, deren Attraktivität sich unter anderem daraus speist, der Unmenschlichkeit der Grenzregime mit einer Radikalität zu begegnen, die sich auch moralisch gut anfühlt. Tatsächlich ist die Forderung nach offenen Grenzen oft eine ›leere‹ Provokation. Nur selten wird darüber nachgedacht, welche Konsequenzen eine Welt ohne Grenzen praktisch haben würde. No-Border-AktivistInnen bleiben oft sprachlos gegenüber dem liberalen Argument, globale Bewegungsfreiheit sei zwar eine nette Idee, aber wenn man die Grenzen wirklich öffnete, ›würde hier doch alles zusammenbrechen‹. Vielen AktivistInnen ist wohl selbst unklar, ob ihre Forderung als realpolitische policy ernst gemeint ist oder eher den Status einer Utopie hat, die erst in einer systemtransformierenden Perspektive überhaupt Sinn ergibt.

Heute, nachdem im ›Sommer der Migration‹ 2015 einige Grenzen tatsächlich offenstanden, fällt der gesellschaftlichen Linken dieser Mangel an Reflexion auf die Füße. Als Problem erweist sich nicht nur, dass als Resultat neoliberaler Austeritätspolitik gerade kommunale Strukturen bei der Aufnahme der Geflüchteten teils überfordert sind. Mehr noch: Relevante Teile der deutschen und europäischen Bevölkerungen fürchten, eine Politik der offenen Grenzen würde die soziale Konkurrenz um ohnehin prekäre (öffentliche) Güter wie Wohnen, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, Wohlfahrt und Arbeit weiter verschärfen. Im Umfeld von Pegida und AfD wird diese Sorge angeheizt und für rechte Scheinlösungen instrumentalisiert. Gleichzeitig ist es kaum verwunderlich, dass bestimmte Milieus, etwa die 27 Prozent »EnttäuschtAutoritären« (vgl. Brie/Hildebrandt 2015: 105), unter den Bedingungen eines austeritärneoliberalen Krisenregimes auf reale oder drohende Prekarität und Angst vor verschärfter sozialer Konkurrenz wohlstandschauvinistisch reagieren. Der nationalistische Backlash gegen die Folgen partiell offener Grenzen zeigt, dass der Philosoph Michael Walzer (1983, 39) nicht völlig unrecht hatte, als er warnte, offene Grenzen würden nicht automatisch zu mehr Freiheit führen: »To tear down the walls of the state is not […] to create a world without walls, but rather to create a thousand petty fortresses.« Angesichts dieser Entwicklung ist die gesellschaftliche Linke mit harten Fragen nach den realpolitischen Konsequenzen ihrer Forderung nach offenen Grenzen konfrontiert. Sie steht vor der Aufgabe, intensiv über eine ›linke Migrationspolitik‹ zu debattieren. Hierfür schlage ich drei Ansatzpunkte vor.

Illusionslose Analyse

Erstens sollte einer linken Migrationspolitik eine illusionslose Analyse zugrunde liegen, die Prozesse der Flucht und Migration sowie deren politische Regulationen konsequent als ›systemische‹ Fragen kapitalistischer und rassistischer Reproduktionsverhältnisse interpretiert. Gegenüber solchen Darstellungen bestehen mitunter Vorbehalte. So wurde etwa in Debatten des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) argumentiert, eine Analyse, die Fluchtursachen maßgeblich in kapitalistischen Krisenprozessen verorte, würde »die Pluralität und Heterogenität von Migrationsbewegungen und -motiven auf die alt bekannten Größen eindampfen«, die relative Autonomie der Migration unterschätzen und Gefahr laufen, durch die Unterscheidung verschiedener Ursachen die Spaltung in ›gute Flüchtlinge‹ und ›böse Wirt schaftsmigrantInnen‹ zu reproduzieren.

»Warum«, so eine in diesen Debatten geäu- ßert Frage, »müssen wir denn sagen, warum sich Menschen in Bewegung setzen, [ob] aus Liebe, Abenteuer, Arbeit etc.?«. Die Antwort ist, dass ein solch pointiertes Desinteresse an den Ursachen von Migration politisch fatal ist. Denn: Nur ein Verständnis von Migration als eigensinniger sozialer Bewegung, die maßgeblich auf strukturelle Widersprüche und politische Dynamiken eines globalen Kapitalismus reagiert, macht es möglich, den Kampf gegen die Unmenschlichkeit von Grenzen nicht isoliert zu betrachten, sondern zu verstehen, dass er erfolgreich letztlich nur als Teilkonflikt einer tief greifenderen gesellschaftlichen Transformation geführt werden kann. Nur so lässt sich also die Kritik an Migrationsregimen innerhalb der strategischen Bestimmungen eines breiteren linken Projekts verorten.

Produktiver, als zu vermeiden, über konkrete Fluchtursachen überhaupt zu reden, ist der Verweis darauf, dass bestimmte Wirtschaftspolitiken (land grabbing, Freihandel, Waffenexporte u.a.) direkt dazu beitragen, dass Menschen sich zum Weggehen entscheiden (müssen). Zugleich dürfen solche Politiken nicht isoliert von ihrem systemischen Kontext kritisiert werden. Würde man der kapitalistischen Weltwirtschaft heute all jene Verwertungsmöglichkeiten entziehen, die mittelbar Fluchtursachen produzieren, würde dies die strukturelle Krise der gegenwärtigen Formation dramatisch verschärfen. Solange linke Akteure ihre Anklage ›fluchtauslösender‹ Akkumulationsstrategien nicht mit einer Kritik ihrer Notwendigkeit für die Reproduktion der gegenwärtigen Formation und des ›Gesamtsystems‹ sowie einer Perspektive zu deren Überwindung verbinden, bleibt ihre Analyse oberflächlich und unehrlich. Ein solch systemisches Verständnis von wirtschaftlichen Fluchtursachen als inhärentem Ausdruck eines die Verhältnisse ungleich umwälzenden und schöpferisch-zerstörenden Kapitalismus könnte es zudem ermöglichen, der Delegitimierung von Migration wegen ökonomischer Perspektivlosigkeit politisch offensiv entgegenzutreten.

Weiterhin sollten sich Analysen um ein präziseres Verständnis des Backlashs gegen die Politik der partiell offenen Grenzen bemühen. Entscheidend ist hier meines Erachtens die Einsicht, dass die chauvinistischen Strategien von AfD, Pegida & Co. gerade deshalb so machtvoll sind, weil ihnen eine spezifische unmenschliche Rationalität zukommt. Diese Rationalität speist sich aus der »national-sozialen« Regulation sozialer (Klassen-)Konflikte (Étienne Balibar) in den europäischen Wohlfahrtsstaaten. Die deutsche Bevölkerung ist Teil eines nationalen Klassenbündnisses, das seinen Angehörigen in Gestalt von Lohnniveau, Infrastruktur und Sozialstaat materielle Vorteile bietet. Diese sind historisch erkämpfte Errungenschaften und zugleich nationale Privilegien einer imperialen Produktions- und Lebensweise. Wenn das rechtskonservative Spektrum Angela Merkel nun den Bruch des ›Gesellschaftsvertrags‹ vorwirft, dann spiegelt sich darin die Einsicht, dass diese Privilegien auf die abgestufte Ausgrenzung von Nicht-Zugehörigen angewiesen sind, um dauerhaft stabil zu sein. Da die materiellen Zugeständnisse im Rahmen nationaler Sozialstaaten vom kapitalistischen Mehrprodukt abgezogen werden, würde deren territorial oder ›personell‹ grenzenlose Ausweitung die Profitraten gegen Null sinken lassen und so die ökonomische Grundlage nationaler Klassenkompromisse untergraben.

Wenn also etwa die im Februar 2016 gestartete Kampagne des Ums-Ganze-Spektrums »gegen die Festung Europa und ihre Fans« in ihrem Titel argumentiert, »Nationalismus ist keine Alternative«, dann stimmt dies zwar insoweit, als nationaler Chauvinismus an den tatsächlichen Ursachen von Abstiegsangst und Prekarität völlig vorbeigeht. Dennoch hat die Entscheidung großer Teile der deutschen und europäischen Bevölkerungen, auf die nationalistische Karte zu setzen, eine gewisse Logik. Angesichts der scheinbar übermächtigen Stellung neoliberaler Kapitalfraktionen im europäischen Kräfteverhältnis erscheint es ihnen kurzfristig erfolgversprechender, die eigene Lebensweise durch die Wiederherstellung nationaler Klassenkompromisse zu verteidigen, als auf einen internationalistischen Postkapitalismus zu setzen. Es ist diese Rationalität eines unmenschlichen Irrationalen, mit der linke Migrationspolitik umgehen muss, wenn sie ihr Anliegen als Teil eines gegenhegemonialen Projekts konstituieren will.

Humanismus und Internationalismus

So wichtig solch grundlegende Analyse ist, genügt es nicht, »angesichts der Missstände die Zustände verantwortlich zu machen« (Agnoli 2004, 200). Linke Akteure sollten deshalb, zweitens, daran arbeiten, eine offensive Rechtfertigung für eine Politik offener Grenzen und gleicher Rechte zu entwickeln. Diese könnte sich aus den doppelten Quellen des Humanismus und Internationalismus speisen: Aus humanistischer Perspektive ließen sich die Implikationen des Menschenrechtsdiskurses zuspitzen (vgl. Muggenthaler in diesem Heft). Die Maxime, nach der alle Menschen frei und gleich an Würde und an Rechten geboren sind, verlangt, dass alle Privilegien, die auf zufälligen oder ethisch irrelevanten Eigenschaften basieren, abgeschafft werden. Nimmt man dieses Prinzip ernst, lassen sich hiermit nicht nur Ungleichbehandlungen auf der Grundlage von Stand oder Kaste, Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder Sexualität kritisieren, sondern auch solche Vorrechte, die Einzelnen erwachsen, weil sie eine meist zufällig ererbte Staatsbürgerschaft besitzen oder sie sich vermeintlich allein in die marktwirtschaftliche ›Leistungsgemeinschaft‹ hineingearbeit haben (vgl. Georgi in LuXemburg 3/2014).

Eine solch humanistische Kritik muss jedoch um einen politischen Internationalismus ergänzt werden, der Grenzregime als Bestandteil der ›Regulationsweise‹ kapitalistischer Formation begreift. Dies hieße zu verstehen, dass in Grenzregimen die Stabilisierung einer Ordnung ausgefochten und organisiert wird, die für die große Mehrheit der Menschen – und zwar sowohl im globalen Süden als auch im Norden – zunehmend negative Konsequenzen hat. Ein wichtiger Schritt besteht deshalb darin, das gemeinsame Interesse von Menschen im Süden und im Norden an einer Aufhebung der Vielfachkrisen eines scheiternden Kapitalismus zum gemeinsamen Ankerpunkt einer praktischen Kritik unmenschlicher Grenzregime zu machen. Auch wenn es kompliziert ist, diesen Anspruch in der politischen Alltagspraxis umzusetzen: Grund für Optimismus bietet immerhin die Einsicht, dass vielfältiges Engagement und (real)poli-tische Praxis zu Migration und Grenzen dann zu einer (langfristigen) Überwindung des in Grenzregimen menschengemachten Leids beitragen können, wenn zugleich deren systemischen Gehalte offen artikuliert und angegriffen werden.

Gesellschaftlichen Pol bilden

Auf die Situation in Deutschland bezogen hieße dies, einen heterogenen gesellschaftlichen Pol zu bilden, dessen Angehörige sich schlicht weigern, die dauerhafte Verteidigung ihrer eigenen, ohnehin prekären Lebensweise durch tödliche Grenzregime zu akzeptieren, die sich über die systemische Dimension dieser Regime, der Fluchtursachen und des erstarkenden Chauvinismus keinerlei Illusionen machen und die wissen, dass eine Verbesserung ihrer eigenen Situation angesichts von kapitalistischer Strukturkrise und Klimakatastrophe nicht von einer sozialökologischen Transformation des Gesamtsystems zu trennen ist. Der Kern dieses politischen Blocks würde sich wohl aus den Milieus der gesellschaftlichen Linken zusammensetzen, das heißt den »kritischen Bildungseliten« und dem »engagierten Bürgertum« (vgl. Brie/ Hildebrand 2015, 104). Entscheidend wäre, aus den gemeinsamen Kämpfen von RefugeeAktivistInnen, migrantischen Gruppen, länger hier lebenden Linken und dem Spektrum der Willkommensinitiativen eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Die politische und moralische Anziehungs- und Ausstrahlungskraft eines solchen Pols – gestützt auf Humanismus, Internationalismus und eine scharfe materialistische Analyse, mit der eine linke Migrationspolitik offener Grenzen aktiv vertreten werden könnte – auf andere gesellschaftliche Gruppen, bis weit in linksliberale oder gar liberalkonservative bürgerliche Milieus hinein, sollte nicht unterschätzt werden.

Neoliberalismus überwinden

Dennoch, die gesellschaftliche Linke kann sich nicht allein auf ihre ethische Kraft verlassen. Um überhaupt eine Chance zu haben, weite Teile der prekarisierten Schichten und kleinbürgerliche Milieus anzusprechen, müsste sie, drittens, ihre migrations-, wirtschafts- und sozialpolitischen Strategien verbinden. Eine progressive Verschiebung von Migrations- und Asylpolitiken wird sich erst dann erreichen lassen, wenn die durch neoliberal regulierte Wachstumsmodelle erzeugte Prekarität substanziell abgeschwächt wird.

Es ist gerade die verbreitete Furcht vor dem Ausschluss aus der neoliberalen Leistungs- und Wohlstandsgemeinschaft, die rassistischen Kräften ideale Bedingungen bietet. Würde es gelingen, eine sozialökologische Transformation in Gang zu setzen, die Existenzängste und Konkurrenz durch soziale Sicherheit ersetzt, würde dies chauvinistischen Kräften die Mobilisierung erschweren und sie strukturell schwächen. Eine Überwindung neoliberaler Austeritätspolitik würde auch die politisch erzeugte Überforderung öffentlicher Strukturen bei der Unterstützung von Geflüchteten beenden. Die Kosten hierfür wie auch für massive Investitionen in soziale Infrastrukturen und eine ökologische Transformation können nur durch eine Umverteilung von oben nach unten finanziert werden.

In der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/16 schießen somit wie in einem Brennglas die inneren Widersprüche und selbstzerstörerischen Tendenzen der gegenwärtigen Formation zusammen. Die Vielfachkrisen im globalen Süden haben entscheidend zum ›Sommer der Migration‹ beigetragen. Die tiefe Krise des europäischen Grenzregimes macht deutlich, dass das globale Modell eines »Gated Capitalism« (Rainer Rilling), in dem sich schrumpfende Wohlstandszonen vom zerfallenden Rest der Weltwirtschaft abschotten, nur dann stabil sein könnte, wenn das Gewaltniveau ein neues Niveau erreicht. Die AfD-Forderungen nach einem Schießbefehl für die europäische Grenzpolizei lassen dies ahnen. Innerhalb der EU haben Sozialabbau und Prekarisierung national-chauvinistische Reaktionen derart begünstigt, dass sie das Kernprojekt der EU, die freie Zirkulation von Waren und Arbeitskräften, zu zerstören drohen. Schließlich haben die EU-Staaten durch Schuldenbremsen und economic governance ihre Möglichkeiten beschnitten, die gegenwärtigen Krisen durch den Einsatz öffentlicher Ressourcen zu bearbeiten. Nicht nur die gesellschaftliche Linke, sondern die Gesellschaften des globalen Nordens insgesamt stehen heute vor der Entscheidung, ob sie bereit sind zu akzeptieren, dass ihre eigene bröckelnde Lebensweise durch die globale Apartheid tödlicher Grenzregime abgesichert wird.

 

 

Literatur

Agnoli, Johannes, 2004: Von der kritischen Politologie zur Kritik der Politik, in: ders., Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, Hamburg, 193–202
Brie, Michael und Cornelia Hildebrandt, 2015: Solidarische Mitte-Unten-Bündnisse, in: LuXemburg 2/2015, 100–107
Georgi, Fabian, 2014: Was ist linke Migrationspolitik?, in: LuXemburg 3/2014, 110–115
Walzer, Michael, 1983: Spheres of Justice, New York
Žižek, Slavoj, 2015: »Merkel hat zu lange geblufft«, in: Süddeutsche Zeitung, 20.10.2015