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Occupy Wall Street öffnet politische Räume für die US-Linke

Von Ethan Young

Not peopleʼs park
peopleʼs planet, can they
fence that one in, bulldoze it
4 a.m.?

Können sie, nach dem People’s Park,
auch die ganze Erde einzäunen
und plattwalzen
morgens um vier?

Diane di Prima,
Revolutionary Letter #38 (1969)

Das als Occupy Wall Street (OWS) bekannt gewordene Ereignis, mittlerweile eine Bewegung, vereint Elemente von drei Massenreaktionen auf verschiedene Krisen zu unterschiedlichen Zeiten in den USA.

Obdachlose und verarmte Familien errichteten zu Beginn der Großen Depression notdürftige Behausungen, meist an den Rändern größerer Städte. Diese Elendsviertel hießen umgangssprachlich Hoovervilles – ein Begriff, der sich gegen den Präsidenten richtete, der während des wirtschaftlichen Kollapses bis zum Schluss das freie Marktkapital hochhielt. Sie wurden zum Symbol für die Auswirkungen von Massenarmut auf eine gesellschaftliche Ordnung, die durch Weltkrieg und Finanzkollaps bereits schwer erschüttert war. Die Mobilisierung protestierender Menschen erfolgte damals über Mundpropaganda.

Das kalifornische Berkeley verwandelte sich in den Jahren nach dem Free Speech Movement 1964 von einer beschaulichen Studentenstadt zu einem Mekka der Gegenkultur und revolutionären Politik. Nach den Ereignissen von 1968, die das öffentliche Vertrauen in die Regierung erschütterten, gab es in der Region Zehntausende radikalisierter Studierender, politischer Aktivisten und vagabundierender Freaks. Im April 1969 wurde ein zur Universität gehöriger Parkplatz besetzt und in People’s Park umbenannt. Die Teilnehmenden reagierten damit auf einen Artikel im Berkeley Barb, der lokalen Untergrundzeitung. Im People’s Park wurden Gebrauchsgüter geteilt, Gegenkultur gelebt und politische Diskussionen geführt, bis er nach zwei Monaten von einem zwei Meter hohen Zaun und Polizeiwachen umstellt wurde.

Der »Battle in Seattle« von 1999 richtete sich gegen eine wto-Konferenz, die in einer Stadt mit einem hohen Anteil an Studierenden, Aktivisten und Gewerkschaftsmitgliedern stattfand. Der Protest war weitaus breiter und militanter, als nach Jahren relativer Ruhe innerhalb der Linken erwartet wurde. Der leichte Zugang zu Informationen und die einfache Massenkommunikation, beides auf Grundlage des Internets, ermöglichten diesen einzigartigen Moment, in dem viele soziale Bewegungen zusammenkamen und die Machenschaften des globalen Kapitals ins kollektive Bewusstsein drangen.

Ob Depression oder Rezession, wir befinden uns heute in einer Wirtschaftskrise wie 1930. Wie 1969 haben heute Millionen das Vertrauen in die Regierung verloren, einige geben der Macht des herrschenden »einen Prozents« die Schuld dafür, andere Obama (time 2011). Hinzu kommt die im Vergleich zu 1999 gestiegene und mittlerweile massenhafte Präsenz und Nutzung sozialer Medien. All diese Faktoren machten ows sowohl politisch als auch kulturell zu einem Volltreffer. OWS stellt sich gegen die rechtspopulistische Tea-Party-Bewegung und erfährt laut einer landesweiten Umfrage vom 10. Oktober auch mehr Zustimmung: 54 Prozent stehen hinter ows, aber nur 27 Prozent hinter der Tea Party (ebd.).

Die historischen Vorläufer geben Hinweise darauf, warum eine solche scheinbar abseitige Bewegung so breit und begeistert aufgenommen wurde. Im Weißen Haus wird sie anerkannt und bereits mit ihr taktiert (Wallsten 2011). In Los Angeles haben Stadtverordnete den Protestierenden ihre Unterstützung angeboten (Wilson 2011). Diese Entwicklungen haben für die Bewegung jedoch kaum unmittelbare Bedeutung. Viel wichtiger ist, dass OWS den zermürbten Linken im ganzen Land einen neuen Bezugspunkt geliefert und einen Weg für das Zusammenkommen sozialer Bewegungen aufgezeigt hat, die seit Jahrzehnten von Fragmentierung und Demoralisierung geplagt sind.

OWS entstand jenseits der etablierten sozialen Bewegungen, mit Ausnahme vielleicht einer radikalen Nutzergruppe sozialer Medien. Das Rautenzeichen am Anfang des Namens verweist auf die Nutzung von Twitter bei der Mobilisierung vor und nach dem Start am 17. September 2011.

Alles begann als ein Vorschlag in der Juli-Ausgabe des in Vancouver ansässigen anti-konsumistischen Hochglanzmagazins Adbusters. Wie dessen Herausgeber und Chefredakteur Kalle Lasn erzählt, war das von den Situationisten inspirierte Magazin auf der Suche nach einer mit der Tahrir-Bewegung vergleichbaren Reaktion:

Nach Tunesien und Ägypten waren wir völlig begeistert von der Tatsache, dass ein paar kluge Leute mit Hilfe von Facebook und Twitter einen Aufruf starten können und daraufhin sehr viele Leute auf die Straße gehen, um ihrem Ärger Luft zu machen. […] Wir spürten, dass es in Amerika ein wirkliches Potenzial für einen Tahrir-Moment gab, weil (a) die politische Linke einen solchen braucht und (b) die Leute ihre Arbeit [und] ihr Haus verlieren und junge Leute keine Arbeit finden.« (zit. n. Elliott 2011)

Sie hatten Recht, wie die öffentliche Reaktion zeigt: Tausende junger Menschen, die einer düsteren Zukunft mit endlosen College-Schulden und ohne Jobchancen entgegensehen, und ältere Menschen, deren staatliche Renten durch die verschärfte Sparpolitik bedroht sind, gingen auf die Straße. Die Organisatoren hofften gleich zu Beginn auf 20000 Menschen, es kamen jedoch nur einige hundert. Aber es wurden schnell mehr. Die politische Linke war völlig überrascht. Die Mobilisierung lief über soziale Medien – also weder über die mit den sozialen Bewegungen verbundenen etablierten Gruppen noch über die politische Maschinerie oder den Einsatz von Geld.

Dieser Mobilisierungserfolg wird durch das Ausmaß der öffentlichen Unterstützung für die Proteste noch in den Schatten gestellt. Die Bilder erinnern an altes NachrichtenFilmmaterial zu Woodstock. Anfangs versuchten Rundfunk und Fernsehen, die Teilnehmenden dem alten Stereotyp entsprechend als »dreckige Faulenzer« darzustellen. Aber bald merkten die Medien, dass sie eine Story gefunden hatten, die unbegrenzt ausgeschlachtet werden konnte, und sie begannen, über die Proteste als ein tägliches »David gegen Goliath« zu berichten (mit Ausnahme von Murdochs konservativen Fox News).

Die Protestierenden zielen in erster Linie auf die Wall Street – statt auf die Gesellschaft als ganze – und agieren gewaltfrei. ows bietet eine nicht-religiöse, universalistische kulturelle Alternative zum fremdenfeindlichen Stumpfsinn der populistischen Rechten. Die fehlende Identifikation mit politischen Parteien entkräftete zudem die Unterstellung der Rechten, OWS werde von verborgenen Eliten manipuliert.

Der Form nach bestehen die Proteste aus campierenden Menschen im nahe des Bankenviertels von Manhattan gelegenen Zuccotti Park, in dem viele ihre Mittagspause verbringen (die Wall Street selbst wird seit 9/11 streng bewacht, mit Straßensperren, Polizei und Soldaten mit großen Maschinengewehren, die den Börsenbereich schützen). Nahrungsmittel werden von Teilnehmenden organisiert und kostenlos verteilt. Jeden Tag werden Generalversammlungen abgehalten. Da die Polizei den Einsatz von Lautsprechern untersagt hat, werden Wortmeldungen von den in Hörweite Stehenden laut wiederholt für diejenigen, die weiter weg stehen. Folglich müssen alle klar und knapp sprechen – ein Novum auf linken Versammlungen. Die Versammlungen und Abstimmungen sind offen und nicht-hierarchisch, entsprechend der Ziele der Initiatoren. In den Worten von Lasn: »Dieses neue Modell könnte ein neuartiges horizontales Ding sein, das irgendwie ähnlich wie das Internet funktioniert.« (zit. n. Elliott 2011)

Dem Inhalt nach richten sich die Proteste allgemein gegen die Macht der Konzerne, allerdings sind die Protestierenden offen für Forderungen von fortschrittlichen sozialen Bewegungen. Kräfte der politischen Linken sind vertreten, aber keine von ihnen konnte bislang sichtbar an Einfluss gewinnen. Das Beharren darauf, die Proteste ohne ausdrückliches Programm, Forderungen oder erkennbare Leitpersonen weiterzutreiben, wurde früh von einigen Beobachtern aus der Mitte und der Linken kritisiert (Henwood 2011; Ellis 2011). Peter Marcuse (2011) hingegen bemerkt:

»Das Wesen der Bewegung besteht gerade darin, die bisherigen Spielregeln abzulehnen und Veränderungen herbeizuführen, in denen [konkrete] Forderungen aufgehoben sind, die aber weit über solche hinausgehen, indem die Strukturen in Frage gestellt werden, die diese Forderungen überhaupt notwendig machen. Die Analogie zum Wesen der Aufstände des Arabischen Frühlings, der Bürgerrechtsbewegung und der gegenkulturellen Proteste der 1960er Jahre sind offensichtlich. Sie alle glaubten, dass sie innerhalb eines Systems agierten, dessen Funktionsweise verändert werden musste, bevor ihre spezifischen Forderungen verwirklicht werden konnten. Die Stärke all dieser Bewegungen lag in der massenhaften Unterstützung für Veränderungen, die sie organisierten, in ihrem Nachweis, dass es so nicht weitergehen könne, so dass die Machthabenden gezwungen waren, tiefgreifende Veränderungen entweder selbst umzusetzen oder den Weg freizumachen, damit andere dies tun.«

Seit dem Erfolg von ows in den ersten Wochen haben liberale Kritiker die Frage umgedreht und darüber spekuliert, wie sich das Weiße Haus und die Demokratische Partei an die neue Anti-Wall-Street-Stimmung anpassen können (Lind 2011; Creamer 2011). Innerhalb von OWS wurde vor Kooptation gewarnt, einige vermuten, Reformforderungen jeglicher Art würden die Bewegung dem Untergang weihen (Gupta 2011). Andere betonen, dass allein enge Verbindungen zu den etablierten sozialen Bewegungen und zur Arbeiterklasse das Überleben der Bewegung sichern können, wie der entscheidende Zuwachs an öffentlicher Unterstützung seit der dritten Woche der Besetzung gezeigt habe.

Denn die Ereignisse nahmen seitdem einige Wendungen. Ein Marsch über die Brooklyn Bridge am 1. Oktober führte unter merkwürdigen Umständen zu Massenverhaftungen, die die öffentliche Meinung von Neugier in Sympathie für die Proteste umschlagen ließ – seitdem stehen die Stadt und besonders die Polizei unter kritischer Beobachtung, wobei polizeiliches Fehlverhalten in den schwarzen und Latino-Stadtvierteln freilich keine Überraschung, sondern die Regel ist (Marzulli 2011). Daraufhin brachte ein Bündnis großer Gewerkschaften und Nachbarschaftsgruppen am 5. Oktober Zehntausende auf die Straße, um ows zu unterstützen. So kamen Demonstranten aus vielen Stadtteilen im Zuccotti Park zusammen und solidarisierten sich mit OWS.

Die breite Unterstützung beeinflusste den Gang der Ereignisse am 14. Oktober, als eine angekündigte »Säuberung« des besetzten Gebiets, also die geplante Zerstreuung der Protestierenden durch die Polizei, plötzlich verschoben wurde. Tausende versammelten sich innerhalb weniger Stunden, um den Park zu verteidigen. Die privaten Eigentümer des Grundstücks berichteten, sie seien von Aufforderungen offizieller Stellen überflutet worden, die Polizei von der Räumung abzuhalten, was den Bürgermeister wiederum empörte und in Verlegenheit brachte. Solidarität wurde so unerwartet zu einer Kraft, mit der die städtische Machtelite, die ein wesentlicher Teil der nationalen und globalen herrschenden Klasse ist, zu rechnen hatte. Gewählte Mandatsträger stehen in engem Kontakt zu Arbeiter- und Stadtteilgruppen. Diese Gruppen, organisierte Initiativen sozialer Bewegungen und innerstädtischer Bezirke, haben Verbindungen zu den Protestierenden – und untereinander – aufgebaut, die im Moment für wichtiger gehalten werden als ihre Verbindungen zum Kapital und ins Rathaus.

Die Zukunft der Proteste scheint durch die Umstände bestimmt. Letztlich wird die Besetzung des Parks zu Ende gehen, entweder durch die Polizei oder den Winter. Sehr viel schwieriger wird es sein, den Gärprozess der Massen, den ows in Gang gebracht hat, wieder zu stoppen. Das Auftauchen einer Opposition im Embryonalstadium hat dem System bislang nur eine leichte morgendliche Übelkeit beschert. Ob – und wann – sich daraus eine massenwirksame politische Kraft entwickelt, wird sich zeigen.

Aus dem Amerikanischen von Oliver Walkenhorst

 

Literatur

Creamer, Robert, 2011: 5 Reasons the Right Is Terrified of Occupy Wall St., 12.10.2011, www.alternet.org/teaparty/152707 [1]
Elliott, Justin, 2011: The origins of Occupy Wall Street explained, 4.10.2011, politics.salon [2]. com/2011/10/04/adbusters_occupy_wall_st/singleton
Ellis, Lauren, 2011: Is #OccupyWallStreet Working?, 27.9.2011, motherjones.com/mojo/2011/09/ [3] occupy-wall-street
Gupta, Arun, 2011: What the occupation means to me, Roundtable, SocialistWorker.org [4], 14.10.2011, http:// socialistworker.org/2011/10/14/what-occupy-wall-streetmeans [5]
Henwood, Doug, 2011: The Occupy Wall Street non-agenda, LBO News from Doug Henwood, 29.9.2011, http:// lbo-news.com/2011/09/29/the-occupy-wall-street-nonagenda [6]
Lind, Michael, 2011: 6 Reasons Why Occupy Wall Street Protests Won’t Help Democrats, 11.10.2011, www.alternet. org/story/152693
Marcuse, Peter, 2011: Occupy Wall Street – For What? For Whom? Where? Why?, Peter Marcuse’s Blog, 7.10.2011, pmarcuse.wordpress.com/2011/10/07/97 [7]
Marzulli, John, 2011: We fabricated drug charges against innocent people to meet arrest quotas, former detective testifies, in: New York Daily News, 13.10.2011, http:// articles.nydailynews.com/2011-10-13/news/30291567_1_ [8] nypd-narcotics-detective-false-arrest-suit-henry-tavarez
TIME, 2011: Topline Results of Oct. 9-10, 2011, TIME Poll, Time Magazine Blog, swampland.time.com/fullresults-of-oct-9-10-2011-time-poll [9]
Wallsten, Peter, 2011: Obama plans to turn anti-Wall Street anger on Mitt Romney, Republicans, in: Washington Post vom 15.10.2011, www.washingtonpost.com/ [10] business/economy/obama-plans-to-turn-anti-wall-streetanger-on-mitt-romney-republicans/2011/10/14/gIQAZfiwkL_story.html
Wilson, Simone, 2011: Occupy L.A.: City Council Resolution Supports Anti-Wall Street Protesters, Lets Them Keep Sleeping on Front Lawn, LA Weekly Blog, 5.10.2011, blogs.laweekly.com/informer/2011/10/occupy_la_ [11] city_council_resolution.php