| Alle Artikel von Norbert Niemann

| Mauerfall Memories

Dezember 2019
Von Norbert Niemann

Im Jahr des Falls der Mauer schloss ich mein Studium ab. Im Jahr davor saß ich im Oberseminar des Literatursoziologen Jürgen Scharfschwerdt an der Ludwig­Maximilians­Universität München. Scharfschwerdts Schwerpunkt war DDR-Literatur. Ich erinnere mich, dass die dissidenten, in der BRD publizierten Texte für einige von uns – sicher jedenfalls für mich – die mit Abstand relevantesten in deutscher Sprache geschriebenen Texte jener Zeit gewesen sind. In der BRD hatte bereits in den Achtzigern – das wird oft vergessen – eine Kommerzialisierung und Neoliberalisierung des Kulturbetriebs eingesetzt. Gefeiert wurden Romane wie »Die letzte Welt« von Christoph Ransmayr, »Das Parfüm« von Patrick Süskind, »Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten Nadolny. Meine Lesesozialisation ab den späten Siebzigern hatte ganz andere Weichen gestellt und Erwartungen gesetzt. Damals erschienen die Bücher Rolf Dieter Brinkmanns oder Nicolas Borns, »Die Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss und so weiter. Im Westen brach diese Linie in den frühen Achtzigern ab – nicht aber im Osten. Über den Umweg Heiner Müller machte sich dort auch eine politisch und ästhetisch anders konnotierte Lesart französischer Poststrukturalisten wie Michel Foucault und Gilles Deleuze geltend, nicht zuletzt in der Prenzlauer­Berg­Szene. Statt Spiel und »Anything Goes« wie im Westen »Mikrophysik der Macht«.
| mehr »