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Neugründung Europas? Strategische Orientierungen

Von Mario Candeias, Lukas Oberndorfer und Anne Steckner

Europa ist mehr als die Europäische Union und die EU mehr als ihre neoliberale und zunehmend undemokratisch-autoritäre Gestalt. Doch ist Letztere die gegenwärtig existierende. Simple Bekenntnisse zu Europa oder gar ›mehr Europa‹ verfehlen den zu Recht skeptischen Alltagsverstand. Immer wieder wurde die europäische Ebene als Hebel genutzt, um Sozial- und Arbeitsrechte auszuhöhlen sowie Kapital- und Marktlogik zu stärken – und zwar nicht erst seit der Krise 2008, sondern spätestens seit dem Mitte der 1980er Jahre forcierten Projekt des europäischen Binnenmarktes.

Hieraus die Rückbesinnung auf die Verteidigung nationaler Errungenschaften abzuleiten, ist ebenso kurzschlüssig. Zentrale Richtungsentscheidungen fallen nach wie vor im europäischen Rat, also durch nationale Regierungen, aber jenseits nationaler Parlamente. Die Prekarisierung der Arbeit wurde durch europäische Entscheidungen zwar erleichtert, vorangetrieben wurde sie jedoch über nationale Parlamente: die Workfare-Programme in Großbritannien ebenso wie die Agenda 2010 in Deutschland. Die Privatisierung kommunaler Stadtwerke ist von der EU gewünscht, betrieben wurde sie von klammen Kommunen, die sich schnelle Einnahmen und Effizienzgewinne versprachen. Dienstleistungen müssen laut EU-Recht europaweit ausgeschrieben werden, doch niemand hat die Kommunen gezwungen, darauf zu verzichten, diese Dienste selbst anzubieten. Gerade die Bundesregierung nützt das europäische Krisenmanagement, um die Interessen der deutschen und transnationalen Export- und Finanzindustrie durchzusetzen: Neoliberale Politik wird in der ganzen EU verallgemeinert und durch Recht auf Dauer gestellt.

Von rechts bedient die Alternative für Deutschland (AfD) im Chor mit anderen rechtspopulistischen Parteien den Traum von der Rückkehr zu einer nationalen Währung. Indem sie zur Krisenbewältigung »imaginäre Gemeinschaften« (Benedict Anderson) beschwört – ›wir Deutschen‹ ohne Klassen oder andere gesellschaftliche Gegensätze – bedient sie die Sehnsucht nach einem überschaubaren und beeinflussbaren Währungs- und Wirtschaftsraum. Sie malt das Bild einer »imaginären Ökonomie«, von Volkswirtschaften, die es längst nicht mehr gibt. Transnationalisierte Produktionsnetze und liberalisierte globale Finanzmärkte bestimmen das Bild.

Im Ensemble von Institutionen und Abkommen der EU sind lokale, regionale, nationale, supranationale und internationale Ebenen zu einem komplexen Geflecht verwoben. Zwar hat dieser Umstand keineswegs zur Überwindung der Nationalstaaten geführt. Vielmehr spielen nationale Wettbewerbsstaaten eine entscheidende Rolle im Prozess der Transnationalisierung. Doch übersieht beispielsweise die Forderung nach einem geregelten Euro-Austritt eben diese transnationale Qualität: Wie soll auf nationaler Ebene die Reregulierung internationaler Finanzmärkte erfolgen? Wie soll das gegeneinander Ausspielen von Standorten in transnationalen Produktionsnetzen verhindert werden? Wie soll angesichts globaler Märkte eine national ausgerichtete keynesianische Strategie greifen? Sie würde in kürzester Zeit mit der Transnationalisierung von Kapitalströmen und Machtstrukturen kollidieren. Nationalstaatlich beschränkte Politik würde nicht einmal zur Verteidigung sozialer Errungenschaften ausreichen. Und auch für Griechenland unter einer möglichen Linksregierung gilt: Sozialismus in einem Land war schon in weniger transnationalisierten Zeiten ein unmögliches Unterfangen. Es gibt keine Möglichkeit des Exodus.

Dabei ist nicht jeder Euroskeptiker gleich Nationalist. Es gibt ein wachsendes Unbehagen gegenüber der EU, auch innerhalb linker Parteien, das nicht dumpf nationalistisch, sondern erfahrungsgesättigt ist. Dem kann mit der Predigt eines hilflosen Internationalismus nicht begegnet werden. Schließlich war in den letzten Jahrzehnten fast jeder Schritt zur europäischen Integration ein Mittel zur Durchsetzung neoliberaler Politiken. Die EU gleicht immer mehr einem wirtschaftsnahen Lobbyverein, der angesichts eines schwachen Europäischen Parlaments kaum der politischen Kontrolle oder der Beeinflussung durch zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen unterliegt. Die parteiförmige Linke bewegt sich also in einem strategischen Dilemma, das im Europa-Wahlprogramm der LINKEN auf den Punkt gebracht wird: »Für DIE LINKE stellt sich keine Entscheidung für oder gegen das eine oder andere – wir führen die Kämpfe dort, wo sie stattfinden, in der EU, in Deutschland, weltweit. Nicht, indem wir uns zurückziehen auf den Nationalstaat, in der Hoffnung, dass sich Löhne und Sozialstandards leichter verteidigen lassen. Nicht, indem wir uns Illusionen machen über die neoliberale Europäische Union.«

Autoritärer Konstitutionalismus

Neben den Troika-Auflagen für »Hilfskredite«, die auch gegen Grund- und Menschenrechte (z.B. das Recht auf Tarifautonomie) verstoßen, steht eine New Economic Governance (NEG) mit diversen Austeritäts- und Wettbewerbspeitschen im Zentrum des europäischen Krisenmanagements. Hierbei werden demokratische Prinzipien und geltendes Recht, wenn nötig, umgangen oder gebrochen. Das geschieht über den Umweg zwischenstaatlicher Abkommen (wie z.B. im Fall des Fiskalpaktes) oder über die europarechtswidrige Einpressung von Sekundärecht in die geltenden Verträge (wie im Fall der NEG). Hierbei werden die Exekutivapparate mit umfassenden Beschluss- und Sanktionskompetenzen ausgestattet, während die parlamentarischen Arenen geschwächt werden – sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Dieser autoritäre Konstitutionalismus zählt weder auf Recht noch auf Zustimmung. Sein Zwangscharakter tritt nicht nur in Südeuropa offen zutage. Dies geht über eine postdemokratische Situation hinaus, in der formal fortbestehende demokratische Verfahren entleert werden. Hier geht es um eine offen autoritäre Setzung von Recht bei Bruch demokratischer Verfahren.

Das heißt: Selbst die im europäischen Recht verdichteten Handlungsräume werden zu eng für die Radikalisierung des neoliberalen Projekts. Nachdem die Regeln für eine strikte Austeritätspolitik europaweit auf Dauer gestellt und einer demokratischen Infragestellung entzogen wurden, geht es nun um eine Europäisierung der im südeuropäischen Laboratorium erprobten Strukturreformen. In den »Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit« sollen sich die Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Kommission zur Deregulierung ihrer Arbeitsmärkte, zur Reform ihrer Pensionssysteme und zur Senkung ihrer Löhne verpflichten (vgl. Händel in LuXemburg-Online). Die geplanten wie die beschlossenen Instrumente der Krisenpolitik gehen noch deutlich weiter als das mögliche Freihandelsabkommen mit den USA. Die Kommission erklärt ganz offen, dass die angedachten Verträge auf die Überwindung politischer Widerstände zielen. Die zentrale Konfliktachse im autoritären Konstitutionalismus lautet daher nicht Europa vs. Nationalstaat, sondern europäisches Staatsapparate-Ensemble vs. (repräsentative) Demokratie.

Strukturelle Selektivität der EU

Jeder Versuch einer linken Reform muss sich mit der strukturellen Selektivität der EU-Institutionen auseinandersetzen. Die LINKE fordert daher zu Recht einen »Neustart mit einer Revision jener primärrechtlichen Grundelemente der EU, die militaristisch, undemokratisch und neoliberal sind«, wie es im Grundsatzprogramm heißt. Entsprechende Vertragsänderungen sind aber schwierig. Das in Artikel 48 des Vertrages über die Europäische Union festgeschriebene Prozedere sieht die Zustimmung jedes Nationalstaates vor. Durch diese zentrale Rolle der Nationalstaaten im Vertragsänderungsverfahren können sich Interessen im Wesentlichen nur als nationale Interessen und nur durch ihre Exekutiven hindurch artikulieren. Französische ArbeiterInnen sitzen so im selben Boot mit französischen Großbauern und Konzernen, anstatt nach gemeinsamen Interessen mit deutschen oder österreichischen Lohnabhängigen zu suchen. Dieser nationalstaatliche Flaschenhals führt zu einer Horizontalisierung der Konfliktachsen: ›Die Deutschen/Österreicher/Belgier‹ müssen vermeintlich für ›die Griechen/Portugiesen/Irländer‹ die Zeche zahlen. Klassenwidersprüche, Geschlechterhierarchien und andere Machtverhältnisse werden unsichtbar, die Verursacher der Krise bleiben ungenannt.

Zudem ist die komplexe Rechtslage ein Feld für ausgewiesene ExpertInnen: Nur wer sich im juristischen Dschungel der EU zu bewegen weiß, kann Vorschläge einbringen, die ins bisherige Vertragsgefüge passen. Das führt nicht nur zu einer Verrechtlichung und Bürokratisierung der Debatte. Es stärkt auch die Exekutiven und schließt die Bevölkerungen von realer Beteiligung aus. Darüber hinaus kann das Veto jedes Mitgliedslandes (bzw. seines Staats- und Regierungschefs) dafür sorgen, dass auch nur die kleinste Infragestellung der autoritär-neoliberalen Integration zunichte gemacht wird: ohne den Konsens aller Mitgliedsstaaten keine relevante Vertragsänderung. Auf diese Weise kann sich die Vetomacht einer einzigen Regierung gegen die große Mehrheit der Bevölkerung in Europa wenden. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Neugründung Europas von unten nicht einmal in Ansätzen erringen. Was bedeutet das für strategische Orientierungen der Linken?

Kritik des autoritären Krisenmanagements und Solidarität

Die klare Ablehnung des autoritären Krisenmanagements war medial durchaus erfolgreich und wurde an der Wählerbasis von Parteien links der Sozialdemokratie auch positiv aufgenommen. Es gelang, die Ursachen der Krise mit einer Perspektive der Solidarität mit den Krisenopfern zu verbinden, statt sich durch nationalistische Deutungen spalten zu lassen.

Sinnvoll bleibt auch, auf nationalem Terrain Möglichkeiten gegen neoliberale und autoritäre Maßnahmen auf europäischer Ebene zu nutzen, etwa mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch vor europäischen Gerichten, insbesondere dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, lassen sich innerhalb des bestehenden Rechts soziale und demokratische Rechte verteidigen, zum Beispiel mit Klagen gegen die New Economic Governance, den Fiskalpakt, das grund- und kompetenzrechtlich nicht gedeckte Vorgehen der EU-Organe im Rahmen der Troika oder gegen das Agieren von Frontex. Alle diese möglichen Schritte sind wichtiger Teil einer linken Gegenstrategie und erreichen ein beachtliches Medienecho.

Verknüpfung von Krise, Alltag und Kommune

Trotz kleiner (kommunikativer) Erfolge zeigt sich aber, dass das Thema Eurokrise oft schwer vermittelbar ist. Linke Strategien sollten weniger von der großen Krise als vom Alltag der Menschen ausgehend entwickelt werden: Wie hängen Krise und Alltag zusammen? Was haben meine Probleme mit den Forderungen vieler Menschen in den Krisenländern zu tun? Wie lässt sich daraus eine gemeinsame, solidarische Perspektive entwickeln? Für die am stärksten von der Krise betroffenen Länder in Europa ist ein Schuldenaudit eine unverzichtbare Forderung, um sich von der erdrückenden Schuldenlast zu befreien (vgl. Weber in diesem Heft). Solch ein Audit zielt darauf ab, die Unrechtmäßigkeit der Schulden herauszustellen, indem gefragt wird: Muss der Schuldendienst an jene, eben noch vom Staat geretteten Finanzinstitutionen überhaupt geleistet werden? Sind diese Schulden nicht zu großen Teilen illegitim, also unrechtmäßig? Welche Schulden sollten zurückgezahlt werden – und vor allem: welche nicht? Darüber wäre in demokratischen Konsultations- und Entscheidungsprozessen zu beraten.

In Deutschland ließe sich die Schuldenproblematik mit Forderungen verknüpfen, die der Situation hierzulande entsprechen. Ein wichtiges Thema wäre die Schuldenbremse. Sie bedroht die ohnehin schon prekäre Finanzlage der Kommunen ganz unmittelbar. Die Einschränkung von öffentlichen Leistungen bekommt die Bevölkerung direkt zu spüren. Zahlreiche Auseinandersetzungen um soziale Infrastrukturen, von der Ausstattung der Schulen über ausreichende Kindergartenplätze, öffentlichen Nahverkehr, die Rekommunalisierung von Wasserwerken und Energieversorgern bis hin zu Kämpfen um bezahlbaren Wohnraum, spielen sich auf kommunaler Ebene ab. Hier ist die Krise am deutlichsten zu spüren. Und es stehen zahlreiche Kommunalwahlen an.

Ein Beispiel für eine europaweit verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe wäre die Arbeit an einer Forderung für eine entgeltfreie soziale Infrastruktur für alle, eine bedingungslose sozialökologische Grundversorgung in den Bereichen Energie, Wasser, Mobilität, Internet etc. sowie kostenfreie Gesundheit und Bildung.

Kritische Aneignung von Herrschaftswissen

Um gemeinsam kämpfen zu können, ist es unabdingbar zu wissen, in welchem Feld man sich bewegt, und die Bedingungen des eigenen Handelns zu verstehen. Die Schwierigkeit der Vermittlung der Eurokrise in den Alltag der Menschen gründet auch darin, dass viele sich gar nicht in der Lage sehen, sich politisch einzubringen und an den strategischen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Probleme Europas und der Eurokrise werden allzu häufig im Rahmen von ›Experten-Debatten‹ verhandelt, von deren tiefer Materie die Massen nicht viel verstünden. Diese Wahrnehmung ist nicht bloß mangelndem Wissen oder weitverbreiteter Verunsicherung geschuldet, sondern ein tatsächliches Problem: Die EU ist ein komplexes Institutionengefüge, ihre rechtlichen Verfahrensweisen sind schwierig zu durchschauen, ihre Organe auf bekanntem demokratischem Wege nicht erreichbar. Brüssel bleibt hochgradig ­abstrakt, und das ist durchaus gewollt. So wird eine umfassende Beteiligung von unten durch Herrschaftswissen verhindert.

Politikverdrossenheit und Desinteresse an der EU sind also mehr als die realistische Einsicht in begrenzte Gestaltungsmacht. Hier kommt linker Bildungsarbeit eine wichtige Rolle zu: Ohne sich über das vermachtete Terrain der EU irgendwelche Illusionen zu machen, können nüchterne Analyse und gelungene Bildungsveranstaltungen die kritische, kollektive Aneignung von Herrschaftswissen dahingehend befördern, dass politisch Interessierte sich selbstbewusster und kenntnisreicher in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um ein anderes Europa einmischen. Die Herausforderung an die Linke besteht darin, auf diesem Feld überzeugende Übersetzungsleistungen anzubieten.

Europäische Bewegungen und transnationale Widerstände

In Griechenland, Spanien und Portugal hat die gesellschaftliche Mobilisierung neue Massenorganisationen und Solidaritätsnetzwerke hervorgebracht, wie die Plattform der von den Hypotheken Betroffenen (PAH) oder Solidarity4all (vgl. Candeias/Völpel 2014). Sie bieten die Basis für eine Reorganisierung der Linken. Auch bei uns gehören Mobilisierungen gegen Zwangsräumungen oder Initiativen wie Kotti & Co und für ein »Recht auf Stadt« zu den Hoffnungszeichen einer ansonsten wenig beweglichen bundesdeutschen Protestgesellschaft. Der Protest zeigt lokal Wirkung, und auch auf nationaler Ebene setzt er Regierungen unter Druck. Doch zerschellt er an den soliden Institutionen der Macht. Denn die Regierungen der Krisenstaaten sind in transnational und europäisch gesicherte Herrschaftsverhältnisse eingebettet.

Die Reorganisierung der Linken bindet enorme Ressourcen und Kräfte. So bleibt wenig, um die lokalen Kämpfe transnational zu verbinden. Und doch wird diese Notwendigkeit des jumping the scale, des Sprungs auf die nächst höhere Ebene, formuliert, um auch die Kräfteverhältnisse transnationaler Staatlichkeit zu verändern. Die existierenden internationalen Organisationen wie der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) oder die vielen transnationalen Treffen der Protestbewegungen reichen dafür nicht aus.

Auf unzähligen kleinen und größeren Treffen wird sich über Widersprüche und Probleme, Thematisierungsweisen und Strategien ausgetauscht, ob beim Treffen Florenz 10+10, dem AlterSummit in Athen, den diversen Agora-Treffen oder anlässlich gemeinsamer Aktionstage, Konferenzen und Workshops. Auch wenn der Fokus der Organisierung angesichts beschränkter Ressourcen überwiegend lokal und national ausgerichtet bleibt und darin dennoch größere Fortschritte der Organisierung erzielt werden als in den vergangenen 10 oder 20 Jahren, wird immer wieder auch die Beschränktheit des ›Lokalen‹ und ›Nationalen‹ deutlich. Die Durchsetzung weitreichender Forderungen scheitert noch an der transnationalisierten Macht. Daher bleiben die europäische Ebene und die transnationale Organisierung ein wichtiger Horizont.

Die Eröffnung des neuen EZB-Hochhauses im Jahr 2014 und eine Neuauflage der Blockupy-Proteste in Frankfurt können in diesem Zusammenhang symbolische Bedeutung entfalten. Veränderungen bewirken sie nicht. Wichtiger noch als das Ereignis selbst kann jedoch der Prozess der Organisierung der Blockupy-Aktionen sein, er kann zugleich als regelmäßiger transnationaler Austausch über gemeinsame Strategien und Aktionen dienen. Jenseits dessen bleibt ein qualitativer Sprung transnationaler Organisierung nötig.

Vorschläge für eine programmatische Reform der EU

Die vielen nach vorn gerichteten Vorschläge linker Parteien zur Bearbeitung der Eurokrise und zur sozialen Gestaltung Europas könnten noch deutlicher als Elemente eines solidarischen Prozesses der Neukonstitution Europas vertreten werden: erstens durch kurzfristige Krisenintervention soziale und finanzielle Not von den Menschen abwenden – zulasten derjenigen, die die Krise verursacht und mit ihr noch Profite gemacht haben; zweitens einen alternativen wirtschaftlichen Entwicklungspfad in Europa möglich machen, der soziale und ökologische Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt; und drittens eine langfristige Vision für die Zukunft der europäischen Einigung zur Diskussion stellen.

Zugleich deuten sich in der gegenwärtigen EU-Politik Veränderungen herrschender Politik an, die gewisse Debattenräume öffnen. Diese Verschiebungen können genutzt werden, um linken Vorschlägen mehr Gehör zu verschaffen: Wie könnte eine kooperative europäische Wirtschaftskoordination aussehen, was wären Elemente einer sozialökologischen Industriepolitik in Europa, wie wären solidarische Perspektiven europäischer Arbeitsteilung zu entwickeln?

Vor falschen Hoffnungen sollte man jedoch auf der Hut sein: Wirklich linke Reformen innerhalb des autoritären Konstitutionalismus der EU sind aufgrund der genannten Selektivitäten kaum durchsetzbar. Vielmehr droht mit sinnvoll erscheinenden Reformen die Vertiefung neoliberaler Politik: So wird Industriepolitik im Sinne der Kommission auf verbesserte Wettbewerbsbedingungen und Zugang zu Märkten reduziert. Ansätze einer europäischen Arbeitslosenversicherung zur konjunkturellen Abfederung von Krisen sollen in einzelnen Mitgliedsstaaten an eine weitere Flexibilisierung von Arbeitsmärkten gekoppelt werden.

Doch selbst unter den herrschenden Verhältnissen im EU-Parlament ist es möglich, scharfe Kritiken zum Beispiel an der Troika-Politik zu üben und Räume für eine Formulierung alternativer Politiken zu öffnen. Und über linke ParlamentarierInnen können frühzeitig Informationen über Kommissionspläne bekannt gemacht und Öffentlichkeit hergestellt werden. Das Europäische Parlament gilt es als Gegengewicht zur Kommission jetzt schon weiter zu nutzen, auch wenn unter den gegebenen strukturellen Selektivitäten nur punktuelle Reformen durchsetzbar sind. Eben jene Selektivitäten (z.B. Einstimmigkeit für harmonisierte Unternehmensbesteuerung) sind zu skandalisieren. In einigen Politikfeldern hat das Parlament Macht hinzugewonnen, um weitergehende neoliberale Maßnahmen zu verhindern bzw. zu korrigieren.

Strategien eines demokratisierenden Bruchs

Es ist fraglich, wie lange die gegenwärtige Regierung in Griechenland noch hält. Für die Herrschenden in Europa ist dies ein Fanal, sie fürchten den Präzedenzfall: Gelänge es dem Bündnis der radikalen Linken, SYRIZA, dem drakonischen Kürzungs- und Wettbewerbsdiktat wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, droht ein politischer Dominoeffekt. In Griechenland haben sich breite Bewegungen organisiert, wodurch die Linke bei den Wahlen reüssiert. Die Formulierung eines klaren Antagonismus führte das Bündnis nicht in die Isolation. Vielmehr scheint es zu gelingen, die in den Bewegungen und größeren Teilen der Bevölkerung geäußerten Leidenschaften und Forderungen aufzunehmen und zu verdichten: gegen die autoritär-neoliberale EU und die Macht des Finanzkapitals, aber für Europa. Auf intelligente Weise umgeht SYRIZA die Dilemmata, in denen sich die Linke in Europa sonst häufig verfängt.

Es geht also darum, Möglichkeiten auf nationaler Ebene so zu nutzen, dass europäische Verhältnisse in Bewegung geraten. Die demokratische Neugründung Europas wäre das Ziel. Möglicherweise wird diese Perspektive aber erst durch ein Ereignis eröffnet, gar hervorgebracht, das in nur einem Land einen effektiven Bruch erzeugt: etwa durch eine griechische Linksregierung, die die Kürzungspolitiken der Troika zurückweist, Neuverhandlungen und einen Schuldenschnitt erzwingt, Kapitalverkehrskontrollen einführt, Steuerreformen umsetzt und mit einem sozialökologischen Umbau des Wirtschaftens beginnt. Das politische Risiko, gegen Europarecht zu verstoßen, ist einzugehen. Andere werden folgen. So könnten die in einem oder mehreren Ländern begonnenen Reformschritte innerhalb Europas ausgedehnt werden. Die Unzufriedenheit mit der Politik und den Institutionen der EU ist so groß, dass Brüche mit den geltenden Regeln, quasi ein staatlicher ziviler Ungehorsam aus Notwehr, durchaus auf Zustimmung treffen könnten.

Verfassungsgebende Prozesse und die Neugründung Europas

Das Grundsatzprogramm der LINKEN formuliert einen anspruchsvollen Ausgangspunkt: »Wir setzen uns […] weiter für eine Verfassung ein, die von den Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet wird und über die sie zeitgleich in allem EU-Mitgliedsstaaten in einem Referendum abstimmen können. Wir wollen nicht weniger als einen grundlegenden Politikwechsel.«

Angesichts der hochgradig vermachteten EU-Institutionen müssen linke Parteien in Europa scheitern, wenn sie nicht darauf hinarbeiten, die Anordnung der Strukturen selbst zu verändern und das Terrain des Kampfes zu verschieben: Ohne grundlegende Infragestellung und Schaffung neuer Institutionen bliebe auch eine linke Regierung in Spanien oder Griechenland chancenlos. Auch wäre die alleinige Konzentration aufs Parlament innerhalb des europäischen Ensembles von Staatsapparaten eine Selbstbeschränkung auf ein nahezu hoffnungslos vermachtetes Terrain. Es gälte daher, einen Terrainwechsel zu vollziehen und demokratische Gegeninstitutionen aufzubauen. Ein partizipativer, lokal und überregional verknüpfter verfassungsgebender Prozess der Beratung und Organisierung in Rätestrukturen – von den Vierteln bis zur europäischen Ebene – hätte die enorme Aufgabe zu bewältigen, vielfältige Positionen der gesellschaftlichen Linken zu einer gemeinsamen Alternative zu verdichten. Zahlreiche gesellschaftliche Kräfte in Südeuropa und darüber hinaus diskutieren in diese Richtung. Am Ende stünde eine verfassungsgebende Versammlung für Europa, die zumindest durch allgemeine und gleiche Wahlen zusammengesetzt sein müsste – eine Strategie, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Eindringen der Massen in die Politik ermöglicht hat. Welches Europa wollen wir? Wie wollen wir darin leben? Zuvor braucht es jedoch auch auf europäischer Ebene einen effektiven Bruch. Dieser ist unmittelbar auf transnationaler Ebene nicht zu erwarten. Ohne den Sturz der neoliberalen Regierungen droht das Potenzial eines verfassungsgebenden Prozesses zu verpuffen. Bruch und Neugründung sind keine Gegensätze, sie verweisen aufeinander.

 

Literatur

Candeias, Mario und Eva Völpel, 2014: Plätze sichern!, Hamburg