| »Nächstenliebe heißt, die Mächtigen vom Thron zu stürzen«. Was tun gegen die Gewalt der Verhältnisse?

Dezember 2020  Druckansicht
Mit Julia Lis und Benedikt Kern

Ihr arbeitet aus einer befreiungstheologischen Perspektive an Möglichkeiten der gesell­schaftlichen Veränderung. In eurer Praxis spielen auch Formen des zivilen Ungehor­sams eine Rolle. Wie nehmt ihr die Debatte um zivilen Ungehorsam und staatliche Repression wahr?

JULIA: Die Protestform des zivilen Ungehor­sams hat eine größere Selbstverständlichkeit bekommen. Viele Menschen, nicht nur Linke, finden es inzwischen legitim, Sitzblockaden als Protestmittel einzusetzen – sei es bei Naziaufmärschen oder bei den Massenakti­onen von »Ende Gelände«. Mit »Fridays for Future« sind auch neue Formen entstanden – etwa der Schulstreik für das Klima. Auch in der feministischen Bewegung hat sich der Frauen*streik als internationale Praxis entwickelt.

Gleichzeitig sehen wir eine gewisse Stag­nation: Sitzblockaden werden zwar immer ›professioneller‹ durchgeführt, es fehlt aber manchmal an Kreativität und Mut, auch neue Formen zu ausprobieren. Die Frage ist, wie sich Menschen in diesen Praxen so ermächti­gen, dass daraus Selbstorganisierungsprozes­se entstehen können, wie dort Erfahrungen gemacht werden, die ermutigen, einen Schritt weiterzugehen. Das wäre eine Radikalisierung im positiven Sinne: Dass wir mit unserer Kritik an die Wurzeln gehen, die strukturellen Ursa­chen der Probleme aufdecken und beginnen, diese grundlegend zu verändern.

BENEDIKT: Ja, oft gibt es eine starke Fo­kussierung darauf, was in der bürgerlichen Presse und Öffentlichkeit positive Resonanz findet. Das ist aber nur ein Aspekt von zivilem Ungehorsam: Es geht auch um die Unter­brechung des Status quo und darum, als Bewegung das Bewusstsein zu entwickeln, dass man dazu kollektiv in der Lage ist. Das hat etwas mit Selbstermächtigung zu tun. Ob etwas erreicht wurde, kann man also nicht einfach daran messen, ob es tolle Bilder in der Presse gab oder ob wir eine Minimalfor­derung durchsetzen konnten.

Auch der Umgang mit staatlicher Repression wird oft vor allem juristisch bestimmt: Wie ist es möglich, die Repression möglichst gering zu halten? Das ist verständlich, gleichzeitig braucht es auch einen politischen Umgang. Repression weist auf die Widersprüche hin, die diesem Staat inhärent sind: ein Gewaltmo­nopol, das Polizist*innen erlaubt, legal Dinge zu tun, die bei anderen als Straftat gelten; Gesetze, die darauf zielen, die bestehende Wirtschaftsordnung und das Recht auf Eigen­tum zu verteidigen; dass es zwar erlaubt ist zu sagen, was die Ursachen der Probleme sind, aber verboten, daran etwas zu verändern.

Als sozialistische Linke haben wir es ja mit dem Problem zu tun, ein strukturelles Gewaltverhältnis überwinden zu wollen. In den Protesten in den USA nach dem Mord an George Floyd stand auf vielen Transparenten »We’re not starting a race war – we’re trying to end one«. Wie denkt ihr das Verhältnis von Gewalt und Gegengewalt?

JULIA: Tatsächlich wird meistens nicht zwi­schen struktureller Gewalt, die die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bildet, und Gegengewalt unterschieden. Die Befreiungstheologie hat sich mit dieser Unterscheidung schon in den 1970er Jahren auseinandergesetzt. Um es mit den Worten des brasilianischen Bischofs Dom Hélder Câmara zu sagen:

»Zunächst möchte ich festhalten, dass es eine Gewalt gibt, von der sich jede andere Gewalt herleitet: die Gewalt Nummer eins – die Gewalt der Ungerechtig­keiten, die überall bestehen, die Gewalt der Unterdrückung. Die meisten meinen nämlich, wenn sie von Gewalt sprechen, bereits die Gewalt Nummer zwei – die Reaktion der Un­terdrückten, den Aufstand der Jugend gegen die ursprüngliche Gewalt.« [ref]Interview mit dem Erzbischof von Olinda und Recife, Dom Hélder Câmara: »Wenn man mir die Nägel ausreißt«, 21.9.1970, in: Der Spiegel 39/1970, www.spiegel.de/spiegel/print/d-44904924.html [/ref]

Diese Unterschei­dung hat auch heute, wie sich etwa an den jüngsten Black-Lives-Matter-Protesten in den USA zeigt, nichts von ihrer Aktualität verloren.

Inzwischen gelingt es der Rechten ja sogar, den von ihr behaupteten linken »Tugendter­ror«, Political Correctness und seit Neustem eine sogenannte Cancel Culture als linke Gewalt zu brandmarken. Wie kommen wir aus dieser Dauerschleife der Rechtfertigung raus?

BENEDIKT: Dass wir uns dauernd in der De­fensive fühlen, liegt auch daran, dass wir mit der eigenen gesellschaftlichen Marginalität nicht umgehen können. Als linke Christ*innen müssen wir uns damit anders auseinander­setzen. Wir sind auch in den eigenen Reihen eine Minorität. Das heißt nicht, sich für die eigene Position ständig zu rechtfertigen, aber doch vernünftige Argumente zu finden, wieso das, was wir tun, legitim und angesichts der Verhältnisse sogar geboten ist. Dazu bedarf es auch einer theoretischen Arbeit, wie wir sie am Institut leisten; einer Theorie, die ernst nimmt, dass eine widerständige Praxis immer begründungspflichtig ist. Wir müssen eine eigene Idee davon entwickeln, wie eine Ge­sellschaft jenseits des Kapitalismus aussehen könnte, und diese deutlich artikulieren. Der Widerstand im Hambacher Forst beispielswei­se war auch deshalb so erfolgreich, weil viele Menschen es faszinierend fanden, dass sich dort Menschen entschlossen haben, über Jahre hinweg einen Wald zu besetzen und aus der Verwertungslogik auszusteigen. Das hat viele angezogen, die dann auch in den Wald kamen, um sich der Räumung entge­genzustellen. Es war weniger die Liebe zum Wald als die Frage, wie ein Leben jenseits der kapitalistischen Logik der Zerstörung von Natur und sozialen Beziehungen eigentlich aussehen kann.

Ihr selbst habt konkrete Erfahrungen mit staatlicher Gewalt gemacht. In welchem Zusammenhang war das?

BENEDIKT: Am 1. Februar 2020 vor den Protesten des Bündnisses »Ende Gelände« am neuen Kraftwerk Datteln IV wurden wir als theologische Beobachter*innen in Gewahr­sam genommen und erst am nächsten Tag wieder freigelassen. Uns wurde jedoch keine Straftat vorgeworfen; allein die Tatsache, am Kraftwerksgelände auf einer Landstraße vorbeigefahren zu sein und Proviant, Schlaf­säcke und Wechselkleidung im Kofferraum gehabt zu haben, wurde als Begründung für eine Gewahrsamnahme angeführt. Unser Fahrzeug wurde beschlagnahmt und abge­schleppt, ein Handy wurde konfisziert, wir mussten uns unwürdigen Durchsuchungen aller Körperöffnungen unterziehen und die Nacht ohne die Möglichkeit, eine*n Anwält*in zu kontaktieren, halbnackt in Einzelzellen verbringen. Am nächsten Morgen wurden wir mit einem dreimonatigen Betretungsverbot eines mehrere Quadratkilometer großen Bereichs belegt.

JULIA: Dieses Vorgehen der Polizei war nicht nur unverhältnismäßig, es gab auch Verstöße gegen Dienstvorschriften. Als einziger Grund für diese Maßnahmen wurde die Gefah­renprävention angegeben, es handelte sich also um eine Präventivgewahrsamnahme. Was wir persönlich hier an Gewalt erlebt haben, ist Ausdruck einer um sich greifenden staatlichen strukturellen Gewalt. Unserer Wahrnehmung nach handelt die Polizei immer öfter ohne gesetzliche Grundlage und im Wissen, dass ihre Maßnahmen später von den Gerichten für ungesetzlich erklärt werden. Für die Aktivist*innen und für alle, die wegen ihrer gesellschaftlichen Position häufig Opfer polizeilicher Gewalt werden (z. B. durch Racial Profiling), ist es dann aber zu spät.

Christlich motivierten Linken wird oft unterstellt, sie stünden für eine Haltung, in der es gilt, »die andere Wange hinzuhalten«. Wie passen für euch das Gebot der Nächs­tenliebe und widerständige Politikformen im Kampf gegen die Gewalt des Kapitalismus zusammen?

JULIA: Das Gebot, »die andere Wange hin­zuhalten« so zu verstehen, als handle es sich um die Aufforderung zur Nichteinmischung und zu gleichgültiger Passivität, ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Dabei geht es im Gegenteil um einen provokanten Akt, der auf die Gewalt eben nicht mit einer Flucht aus der konfrontativen Situation reagiert, sondern sich dieser stellt. Nächstenliebe hat nichts mit schwärmerischen Gefühlen für andere zu tun, sondern bedeutet, sich dafür einzusetzen, »die Mächtigen vom Thron zu stürzen« (Lukas 1,52), um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.

Ziviler Ungehorsam gilt manchen als eine be­sonders radikale Form von Politik, die ja auch mit Risiken einhergeht. Letztlich bleibt sie aber doch innerhalb der gegebenen Spielre­geln unserer kapitalistischen Demokratie. Die Ursachen von Ausbeutung, Unrecht, Rassis­mus oder Klimakatastrophe werden gar nicht berührt. Was tun?

JULIA: Auch das ist eine Frage, mit der sich die Befreiungstheologie seit ihren Anfängen beschäftigt. Es geht immer um eine grund­legende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der kolumbianische Befrei­ungstheologe Camilo Torres formulierte es in den 1960er Jahren so: »Revolution heißt: eine Regierung einsetzen, die den Hungern­den zu essen gibt, die Nackten kleidet und die Unwissenden unterrichtet, kurz, Liebe übt, dies aber nicht nur gelegentlich oder vo­rübergehend tut und nicht nur einige wenige befriedigt, sondern sich um die große Masse unserer Brüder und Schwestern kümmert. Aus diesem Grunde ist die Revolution dem Christen nicht nur gestattet, sondern sie ist seine Pflicht, wenn sie die einzige wirksame und hinreichende Möglichkeit ist, die Liebe zu allen durchzusetzen.« Nicht alles würden wir heute genauso formulieren. Aber wir sind überzeugt, dass wir im Bestehenden, innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsord­nung ein »Leben in Fülle«, wie es in der Bibel heißt, nicht erreichen werden.

BENEDIKT: Wir müssen also zu einer Gesellschaft gelangen, die Produktion und Reproduktion nach den Bedürfnissen der Menschen organisiert, nicht nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung. Wie wir das tun können, dafür gibt es sicherlich keinen Masterplan. Der erste Schritt ist, dass Menschen sich organisieren. Es muss deutlich werden, dass wirkliche Alternativen zum Bestehenden nicht nur nötig, sondern auch möglich sind, dass wir nicht nur im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten denken können. Daran müssen wir heute arbeiten, die nächsten Schritte und Formen solcher Veränderungen gilt es dann kollektiv zu entwickeln.

Das Gespräch führte Barbara Fried.