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Nach Marikana. das Massaker an südafrikanischen Bergarbeitern und die arbeiterfeindliche Politik des ANC

von Vishwas Satgar

Wir haben noch die Bilder vor Augen, die am 16. August 2012 um die Welt gingen. Die südafrikanische Polizei schießt auf streikende Minenarbeiter, 34 von ihnen verlieren ihr Leben. Marikana schockte das ganze Land, erinnerte es doch an Massaker, wie sie während der Apartheid von Seiten des Regimes verübt wurden. Rechercheergebnisse unabhängiger JournalistInnen und Forscherteams zeigen nun, dass vieles von dem, was zunächst berichtet wurde, nicht der vollen Wahrheit entsprach: Die streikenden Arbeiter seien bewaffnet und eine Bedrohung gewesen, es habe sich um eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen zwei Gewerkschaften gehandelt u.a.1

Am 11. August waren in Marikana tausende Kumpel des britisch-südafrikanischen Minenbetreibers Lonmin wegen höherer Löhne in den Ausstand getreten. Die südafrikanische Gewerkschaft für Minen- und Bergarbeiter, die National Union of Mineworkers (NUM), ist die größte und mächtigste Einzelgewerkschaft im Dachverband der Gewerkschaften COSATU. Sie hatte sich geweigert, die Streikenden zu vertreten. Es verdichten sich sogar Gerüchte, dass NUM-Vertreter auf die Kumpel geschossen hätten.2 Zwei Tote gab es zu beklagen und in den folgenden Tagen weitere: Minenarbeiter, Sicherheitsleute, Polizisten. Der Streik war damit nicht nur wild, sondern von Anfang an gewalttätig.

Er nahm seinen Ausgang in Marikana, breitete sich aber rasant in andere Platin- und Goldminen und in die Eisenerzindustrie aus. Fast 100 000 Bergleute befanden sich im Oktober zwischenzeitlich im Ausstand. Weitere Todesopfer, Entlassungen, Einschüchterungen folgten. Die Streikenden forderten nicht nur höhere Löhne, sondern auch eine Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen. In den Townships und Slums (nicht nur) rund um die Minen und Industrieorte gibt es nach wie vor keine Infrastruktur – weder adäquate Häuser, Schulen, Kanalisation noch Gesundheitsversorgung. Seit dem Ende der Apartheid hat sich die Zusammensetzung der Aufsichtsräte, der Konsortien, ja sogar Eigentumsstrukturen verändert – oft sind es nun hohe ANC – und GewerkschaftsführerInnen, die Anteile von Minen und Unternehmen besitzen.

In der scharfen Auseinandersetzung darüber, ob das Anliegen der Bergarbeiter in Marikana und die gewählten Mittel legitim seien, äußert sich auch der Unmut der Streikenden: Sie sehen sich weder politisch noch gewerkschaftlich angemessen vertreten und organisieren den Kampf um ihre Rechte selbst. Die Konflikte in den Minen sind längst nicht zu Ende, auch wenn hier und da ein höheres Lohnergebnis erzielt wird. Die politische und juristische Aufarbeitung von Marikana wird noch andauern. Gerade erst hat die Untersuchungskommission ihre Arbeit wieder aufgenommen. Ob auf staatlicher Seite jemand zur Verantwortung gezogen werden wird, ist offen. Derweil geht die Einschüchterung der Kumpel und ihrer Familien wie auch einiger Vertreter der örtlichen NUM jedoch weiter.3 Die politischen Reaktionen der offiziellen Linken lassen bisher eher business as usual erwarten: Gefahren für die Volkswirtschaft werden beschworen. Und wie immer, wenn eine Politik von unten nicht in die Parteilinie passt, werden AktivistInnen als Konterrevolutionäre bezeichnet oder einer ominösen »dritten Kraft« zugeordnet, die für Polarisierung und Konflikte verantwortlich sei.

In die Logik der offiziellen Linken Südafrikas passen keine selbstbewussten ArbeiterInnen, TownshipbewohnerInnen, BürgerInnen, die sich für ihre Rechte einsetzen und sich jenseits von ANC, traditionellen Gewerkschaften oder kommunistischer Partei selbst organisieren. Marikana ist deswegen auch mehr als ein entsetzliches Ereignis mit vielen Toten. Ein (Klassen-)Bruch mit dem ANC und »seinen« Gewerkschaften deutet sich an. Und das Ende des Alleinvertretungsanspruches der Dreier-Allianz aus ANC, COSATU und Kommunistischer Partei (SACP). Es zeigt sich aber auch ein neues Klassenbewusstsein, das neue Organisierungsformen braucht und sucht. Prekär, widersprüchlich und offen artikuliert sich hier – wie auch in den zahlreichen Township-Kämpfen – ein Moment einer neuen Befreiungspolitik. Gegen den zunehmend repressiv und autoritär agierenden ANC, der sich selbst zu zerstören scheint.

Wir dokumentieren einen leicht gekürzten Beitrag aus der Debatte, wie sie in der südafrikanischen Linken geführt wird, auch wenn der Text selber – Anfang September verfasst – von einigen aktuellen Ereignissen mittlerweile eingeholt ist.4

Corinna Genschel für die Redaktion

Strukturelle Gewalt

Die Menschen in Südafrika leben und arbeiten in einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf Gewalt beruht. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern ein Charakteristikum des Kapitalismus. Karl Marx beschrieb diesen
als »blut- und schmutztriefendes« System (MEW 23, 788). Das Massaker von Marikana brachte zwei Formen von Gewalt zum Vorschein, die das Alltagsleben prägen. Das erste ist die asymmetrische Gewalt der staatlichen Zwangsmaßnahmen der ANC-Regierung. ­Sie äußert sich in der hoch-technisierten und militarisierten Feuerkraft der Polizei. Die zweite Form ist schwerer zu erkennen. Es ist eine vom globalisierten und finanzialisierten Kapitalismus ausgehende strukturelle Gewalt. Sie bringt eine Gesellschaft hervor, in der die Verbindungen zwischen Arbeit und Reproduktion des menschlichen Lebens gekappt sind. Auf der Grundlage überausgebeuteter, prekärer und disziplinierter Arbeit ist es nicht möglich, anständig zu leben. Der Dauertrend zu Extraprofiten in den Platinminen Südafrikas ist trotz der kurzfristigen Preisschwankungen schlicht ein Akt der Gewalt. Er schafft Verarmung und Erniedrigung. Dieser Gewaltakt wird von der ANC-Regierung gut geheißen und dadurch unterstützt, dass sie auf eine Strategie vertiefter Globalisierung setzt und eine Wachstumsstrategie verfolgt, die auf ausländischen Direktinvestitionen beruht. Zugespitzt formuliert, wird die Vermeidung von Risiken für das Kapital über die Vermeidung von Risiken für Leib und Leben gestellt – und über die Risiken für die Natur.

Marikana – eine Zäsur

In diesem Zusammenhang erweist sich das Massaker von Marikana als historisches Ereignis, als Schlüsselmoment in der Geschichte Südafrikas nach dem Ende der Apartheid. Es ist ein Angriff auf Kernelemente der Ideologie der nationalen Befreiung: die Annahme nämlich, dass »die Arbeiterklasse in Führung« ist, und dass die vom ANC angestoßene »nationale und demokratische Revolution« Partei für die Arbeiterklasse ergreife. Hätten diese Grundsätze Substanz, wäre das Massaker wahrscheinlich nicht passiert. Angesichts der Ermordung der Arbeiter in Marikana durch den ANC-Staat erweisen sie sich jedoch als hohle und heuchlerische Kulisse. Der Ereignisse in Marikana wird an der Basis als ein Massaker an Arbeitern durch den ANC-Staat gedacht. Dies lässt sich aus dem Bewusstsein der Menschen kaum mehr löschen. Wann immer der ANC die ArbeiterInnen zur Wahl aufrufen wird, wird ihnen durch den Kopf gehen, dass der ANC Arbeiter ermordert hat. Marikana wird einen Bruch im Bewusstsein der Subalternen und ihrer Unterstützung für den ANC darstellen. Der ANC-Staat hat dies erkannt. Anders lässt sich nicht erklären, dass er versuchte, die (überlebenden) Arbeiter von Marikana durch Mordanklagen kollektiv zu verleumden und zum Sündenbock zu machen. Die Anklagen wurden von der nationalen Staatsanwaltschaft zurückgezogen. Es war ein Akt der Verzweiflung, der nicht aufging.

 Offene Fragen

Im öffentlichen Diskurs kamen dadurch jedoch viel schwerwiegendere Fragen auf: Warum wurden keine Ermittlungen gegen die Polizeibeamten aufgenommen, die die Arbeiter erschossen? Warum wurden sie nicht suspendiert oder angeklagt? Warum passierte dies nicht mit der nationalen Polizeichefin und dem Polizeiminister? Warum hat Präsident Zuma den Chef der Staatsanwaltschaft nicht gefeuert, nachdem die absurden Mordanklagen erhoben wurden? Die meisten SüdafrikanerInnen stellen diese Fragen, machen sie doch einmal mehr die arbeiterfeindliche Haltung der ANC-Regierung und letztlich auch des ANC-geführten Bündnisses deutlich.

Zahlreiche Berichte der BewohnerInnen von Marikana legen nahe, dass es weiterhin zu Übergriffen durch die Polizei kommt, dass Menschen verhaftet werden. Bezüglich des Streiks initiierte die ANC-Regierung (zusammen mit COSATU und der SACP) einen »Prozess für ein Friedensabkommen«. In der Öffentlichkeit vertrat dies kein geringerer als Cyril Ramaphosa – der frühere Generalsekretär der Bergarbeitergewerkschaft NUM. Heute ist er Vorstandsmitglied des ANC und des Bergbaukonzern Lonmin. Die Beschäftigten sollten unter Druck gesetzt werden, die Arbeit vor dem Beginn von Tarifverhandlungen wiederaufzunehmen. Bei dem »Friedensabkommen« handelte es sich also um eine Taktik des Streikbruchs. Sie wurde von ANC/COSATU/SACP unterstützt, von den streikenden Bergarbeitern und der Bergarbeitergewerkschaft AMCU jedoch mit Nachdruck abgelehnt.5

In dem Streik ging es eben nicht nur um Lonmin und die Löhne, sondern darüber hinaus um eine Kritik an der Herrschaft des ANC und der undurchsichtigen, arbeiterfeindlichen Führung des Bündnisses.

Kann nun ausgerechnet Julius Malema6 den ANC retten und eine Neuorientierung der Arbeiterklasse weg vom ANC verhindern? In Zusammenhang mit Marikana legte der Populist Malema einen dreisten Opportunismus an den Tag, und er konnte wie immer auf die große Bühne der Medien zählen. Ob es ihm allerdings gelingen wird, eine politische Basis außerhalb des ANC aufzubauen, ist genauso offen wie die Frage, ob die Arbeiterschaft bereit wäre, sich erneut in eine Sackgasse zu begeben. Unklar ist auch, ob sein simpel gestrickter Populismus bei vielen ArbeiterInnen auf offene Ohren stößt – trotz seiner Verstaatlichungsrhetorik. Wenn das so wäre, hätten sich ihm längst der gesamte COSATU und die Erwerbslosen angeschlossen. Nach Marikana scheint es eher so, als ob Teile der Arbeiterklasse Malema für ihre Zwecke nutzen, statt sich von seiner engstirnigen, selbstbezogenen, populistischen Politik instrumentalisieren zu lassen. Momentan sieht es nicht so aus, als könne er mehr erreichen, als den ANC weiter zu spalten. Wenn man bedenkt, wie tief die Risse bereits sind, würde das womöglich zu einem Bruch führen. Man sollte sich von der Illusion verabschieden, dass es Malema gelingen kann, nach Marikana relevante Teile der Arbeiterklasse zurück in den ANC zu holen.

Aufbruch für neue Formen der Politik?

Was in dieser instabilen Situation nach Marikana tendenziell übersehen wird, sind die Annäherungen innerhalb der fortschrittlichen Teile der Zivilgesellschaft. Über sie wird in den meisten Medien nicht berichtet. Das Aufkommen breiter Solidarität mit den Arbeitern von Marikana basiert auf zwei Prinzipien: Zum einen werden Solidaritätsaktionen in Abstimmung mit den Arbeitern von Marikana und den communities vor Ort geplant. Zum anderen beruht die Solidaritätskampagne auf demokratischen Verfahren, in denen kollektiv und transparent entschieden wird. Beide Prinzipien verhindern ein zu scharfes Vorgehen und halten Opportunismus in Schach; stattdessen bildet sich eine Form tiefer Solidarität. Zum ersten Mal seit den 1980er Jahren gibt es eine solche Dynamik innerhalb der fortschrittlichen Teile der Zivilgesellschaft, die viele Akteure zusammenbringt: Basisbewegungen, mit Rechtsfragen befasste NGOs, Organisationen für humanitäre Hilfe, Frauengruppen, religiöse Organisationen, linke Gruppen, transnationale Aktivistennetzwerke und besorgte Individuen. Sie treten gemeinsam für die Arbeiter von Marikana ein und nutzen dazu verschiedene Formen der Organisierung: Sie bilden Netzwerke bei Facebook, verfassen Online-Petitionen, betreiben Blogs und symbolische Protestaktionen, verteilen Flugblätter, organisieren lokale Aktionen und Massenproteste, richten Solidaritätskassen ein. Ein Kontrollgremium wurde eingerichtet, das sich mit der von der Regierung eingesetzten juristischen Kommission befasst.

Unbeabsichtigt schlägt Marikana im Bereich der postnationalen Befreiung und einer postneoliberalen Politik für Südafrika hohe Wellen: Alternative politische Kräfte rücken ins Rampenlicht; sie sind nicht bereit, sich einfach zurückzulehnen und zuzuschauen, wie die Demokratie in Südafrika durch das immer autoritärer auftretende, selbstzerstörerische Bündnis um den ANC zerstört wird.

Aus dem Englischen von Alexander Gallas

 

Anmerkungen

1 Die meisten Berichterstatter hatten sich auf die Darstellungen der Sicherheitsorgane der NUM beschränkt, statt Informationen der Bevölkerung vor Ort einzubeziehen (vgl. u.a. die pointierte Untersuchung der Rhodes Universität über die Berichterstattung [www.sabc.co.za/news/a/00f7e0804cfe58899b00bf76c8dbd3db/Marikana-and-the-problem-of-pack-journalism-20120710 [1]]). Eine auf Deutsch kommentierte Leseliste informativer Beiträge findet sich unter: www.labournet.de/internationales/suedafrika/whoiswho.html [2]
2 dailymaverick.co.za/opinionista/2012-10-12-marikana-prequel-num-and-the-murders-that-started-it-all [3]
3 Gerade erst wurden vier Arbeiter verhaftet, die als Zeugen bei der Kommission aussagen sollten. Sie werden beschuldigt,
NUM-Mitglieder in Marikana ermordet zu haben (mg.co.za/article/2012-10-26-00-arrests-rebound-on-marikana-commission [4]).
4 Vgl.: defending [5] populardemocracy.blogspot.de
5 Anm.d.Red.:
AMCU ist die Association of Mineworkers and Construction Union, eine junge Gewerkschaft für Minenarbeiter. Im Zuge der Ereignisse in Marikana wurde ihr vorgeworfen, aus Konkurrenz zur NUM, die in COSATU organisiert ist, die Situation in Marikana eskaliert und die Arbeiter angestachelt zu haben.
6 Anm.d.Red.: Julius Malema ist der (umstrittene) ehemalige Jugendligavorsitzende des
ANC. Nach Korruptionsvorwürfen musste er im vergangenen Jahr den ANC verlassen. Er ist bekannt für seinen linksradikalen Populismus und gilt als potenzieller Herausforderer des Präsidenten Jacob Zuma.