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Nach dem Zivildienst

Von Gisela Notz

Die Wehrpflicht wird in diesem Jahr ausgesetzt und mit ihr der Zivildienst. Vor 50 Jahren, am 10.April 1961, traten die ersten jungen Männer den zivilen Ersatzdienst, wie er bis 1972 hieß, an. Seitdem dienten mehr als 2,5 Millionen in mehr als 37000 Institutionen, darunter die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege Caritas, Diakonie, Deutsches Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt. Aus humanitären Gründen zogen sie es vor, Behinderten, Kranken, Kindern oder alten Menschen zu helfen, anstatt sich darauf vorzubereiten, mit der Waffe in der Hand das »Vaterland« zu verteidigen. Zunächst galten sie als »Drückeberger«, denn mit Beginn des Kalten Krieges und mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland 1956 war der Konsens beendet, dass Deutschland keine Wehrmacht mehr brauche.

Trotz der schikanösen »Gewissensprüfung«, die erst 1984 abgeschafft wurde, entschieden sich zahlreiche junge Männer bewusst für den Ersatzdienst; darunter waren viele Sozialisten, Freidenker und Freireligiöse. Mit der Verabschiedung des Wehrrechtsänderungsgesetzes am 24. März 2011 durch den Deutschen Bundestag ist die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen worden. »Gleichzeitig mit der Aussetzung der Pflichtdienste im Wehrpflichtgesetz wird der gleichfalls im Wehrpflichtgesetz angelegte freiwillige Wehrdienst fortentwickelt. Auf diese Weise sollen Freiheit und Verantwortung neu austariert werden«, heißt es im Gesetz. Auch der Zivildienst ist damit ein Auslaufmodell, ab dem 1. Juli 2011 wird es ihn nicht mehr geben. Die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder erwartet mit dem Wegfall der Zivildienststellen eine soziale Katastrophe. Bedingt durch den »demografischen Wandel« wird die Katastrophe vor allem den Bereich der Altenpflege treffen. Knapp zwei Drittel der »Zivis« arbeiteten in der Pflege – und damit in Berufen, die früher als »unmännlich« galten.

Nur wenige Haushalte gehören zu den »Bessergestellten«, die Dank Arbeitnehmerfreizügigkeit demnächst billig osteuropäische Pflegekräfte beschäftigen können. Das ist ein zweifelhaftes Dienstbotinnenmodell, wie bereits Vertreterinnen der »alten« Frauenbewegung monierten. Und nicht alle werden es sich leisten können oder wollen, (Pflege-) Urlaub zu nehmen, um Angehörige zu pflegen; Männer schon gar nicht.

»Wer pflegt uns, wenn wir alt sind?«

Das scheint die große Zukunftsfrage zu sein. Stellen für ausgebildete Pflegekräfte werden abgebaut, wer bleibt, ist überlastet. Versicherungspflichtige werden durch »Mini-Jobs« mit Niedriglöhnen ersetzt. Zusätzliche ehrenamtliche Gratisarbeiterinnen sind schwer zu finden. Die zu ihrer Mobilisierung initiierten Kampagnen hatten bis jetzt nicht den gewünschten Erfolg. Staat, Wohlfahrtsverbände und -konzerne suchen nach Lösungen, um Kosten zu sparen, vor allem Personalkosten. Arbeitsdienste im Sinne von sozialen Pflichtjahren (nicht nur) für junge Frauen und Männer werden immer wieder diskutiert, sind aber wegen des einschränkenden Grundgesetzes ohne Verfassungsänderungen nicht so leicht durchzusetzen.

Bundesfreiwilligendienst (BFD) als ­neues Modell?

Neben den freiwilligen Wehrdienst, für den die Bundeswehr bis April 2011 etwa 3000 Freiwillige braucht, bis Ende Februar 2011 jedoch weniger als 500 einwerben konnte, tritt nun der Bundesfreiwilligendienst (BFD). Ganz neu ist die Idee nicht, auch wenn das Konzept für den BFD im Herbst 2010 als Innovation vorgelegt wurde: Jugendfreiwilligendienste – dazu zählen das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr sowie entwicklungspolitische Freiwilligendienste für junge Männer und Frauen – gibt es schon lange. Sie unterscheiden sich vom klassischen Ehrenamt, indem die »Freiwilligen« sich für einen bestimmten Zeitraum verpflichten, ein bestimmtes Stundenkontingent pro Woche ableisten und das in einem Vertrag festhalten lassen. Schon lange wird diskutiert, wie die übrigen »Freiwilligendienste« in verbindliche und verlässliche Strukturen gebracht, engagierte BürgerInnen stärker in vertragliche Vereinbarungen eingebunden und in personell unterversorgte Bereiche kanalisiert werden können, ohne dem Vorwurf eines Pflichtdienstes ausgesetzt zu sein. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom November 2005 hieß es: »Deshalb werden wir neben der Stärkung des Bürgerschaftlichen Engagements die generationsübergreifenden Freiwilligendienste als Programm ausbauen, das Einsatzfelder für die Freiwilligen aller Generationen unter anderem in Schulen, Familien, Stadtteilzentren, stationären Einrichtungen und Hospizen eröffnet.«

Die Krise des Sozialstaates wird von PolitikerInnen aller Couleur beklagt. Leere öffentliche Kassen, hohe Erwerbslosigkeit, zunehmende Armut und prekäre Erwerbsarbeitsverhältnisse sowie der Einsatz des Rotstiftes vor allem im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich führen dazu, dass vermehrt an das Engagement der »Freiwilligen« appelliert wird. Die gesellschaftliche Arbeit wird in den Sozial- und Gesundheitsbereichen und ganz besonders in der Altenhilfe und -pflege nicht weniger. Viele soziale Projekte und Einrichtungen im Gesundheits- und Kulturbereich, in der Altenhilfe und der Arbeit mit MigrantInnen bestünden nicht mehr, wenn »freiwillige« GratisarbeiterInnen nicht für ihr Fortbestehen sorgen würden.

Ehrenamtliche Arbeit als unbezahlte Sozial-, Gesundheits- und Altenarbeit hatte historisch immer eine doppelte Funktion: Befriedung der nach gesellschaftlich nützlicher Arbeit suchenden Frauen und Auffangen der sozialen Versorgung von hilfsbedürftigen Bevölkerungsgruppen, für die Markt und Staat nicht regulär bezahlen wollen. Heute sind nicht nur die »ehrenwerten Damen«, sondern viele andere mit dieser »freiwilligen« Arbeit beschäftigt.

Ursprünglich bezeichnet »freiwillige« Arbeit unbezahlte, nicht über den Markt vermittelte, scheinbar unbezahlbare Arbeit. »Was ich kann, ist unbezahlbar: tun was ich will, und nicht was ich muss« – das war 2001 der Slogan zum »Jahr der Freiwilligen«. Die weitaus meisten der im Sozial-, Gesundheitsund Altenbereich Arbeitenden sind noch immer Frauen. Der Bereich der Altenpflege ist fast in Gänze Frauensache, egal ob die Arbeit in bezahlter Form, in der Familie oder in der Gratisarbeit geleistet wird. Wer sich freiwillig und uneigennützig engagiert, verdient Anerkennung und Respekt. »Freiwillige« umsonst geleistete Arbeit darf aber nicht als kostenneutrale Antwort auf jedes gesellschaftliche Krisensymptom betrachtet werden. Die Arbeit ist nicht unentgeltlich: Sie kostet die »Freiwilligen« Geld und Zeit, und nicht selten geht sie auf Kosten ihrer eigenständiger Existenzsicherung. Die neuerdings mögliche Bezahlung durch einen Niedrigstlohn wird das kaum ändern.

Das Ausmaß »freiwilliger« Arbeit

Nach dem dritten Freiwilligensurvey des BMFSFJ von 2009, der freiwilliges, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement misst, engagieren sich 36 Prozent aller bundesdeutschen Menschen über 14 Jahre, also mehr als jede dritte BürgerIn. 40 Prozent sind Männer, sie engagieren sich vor allem als Pfadfinder, Feuerwehrleute, Ärzte ohne Grenzen, als Gemeinderäte oder Übungsleiter im Sport. 32 Prozent sind Frauen, sie leisten zwei Drittel der mit Sorge und Pflege verbun­denen Arbeiten im Sozial-, Gesundheits- und Altenbereich, das sind die Engagementbereiche, in denen es aktuell und in der Zukunft die meisten »vakanten Plätze« gibt und geben wird. Der akute Personalmangel ist Ausdruck einer kontinuierlichen Entwicklung: Folge des anhaltenden Sozialabbaus, des gewandelten Frauenbildes, mit dem die Hausfrauen, die traditionell für den sozialen, Gesundheits- und Altenbereich zuständig waren, nicht mehr im gewünschten Ausmaß zur Verfügung stehen. Und schließlich sind Menschen, die in der Familie alte und andere pflegebedürftigen Menschen betreuen, spätestens wenn sie selbst alt werden, zur Armut verurteilt.

Auf der Suche nach »verlässlichen Ehrenamtlichen« wurden durch das BMFSFJ schon früher Programme entwickelt. Mit dem Modellprogramm generationsübergreifende Freiwilligendienste (GÜF) 2005 wurden Personen angesprochen, die in ihrer aktuellen Lebenssituation Zeit zur Verfügung haben und sie »sinnvoll nutzen« wollen. Die »neuen« Freiwilligen können den Dienst neben Beruf, Ausbildung und Studium leisten, müssen sich aber für mindestens acht Stunden pro Woche über die Dauer von mindestens einem halben Jahr verpflichten. Fahrgeld, Materialbeschaffung und »sonstige Auslagen« werden in Form von Aufwandsentschädigungen erstattet. Daneben erhalten sie Qualifizierung durch Fort- und Weiterbildung von 60 Stunden pro Jahr, Begleitung durch Fachpersonal des Trägers, Versicherungsschutz, eine schriftliche Vereinbarung und in einigen Bundesländern ein Zertifikat. Zur Weiterentwicklung startete 2009 das Modellprogramm »Freiwilligendienst für alle Generationen« (FDaG). Er ist im Sozialgesetzbuch geregelt (Absatz 1a des §2 SGB VII). Im April 2011 engagierten sich 5100 Menschen an rund 1200 Standorten in Deutschland. Für rund 44 Prozent dieser Freiwilligen war es nach Angaben der Bundesregierung das erste Mal, dass sie einer Umsonst-Arbeit nachgingen. 64 Prozent waren älter als 50 Jahre. Die meisten (68 Prozent) waren zwischen acht und zwölf Wochenstunden in gemeinnützigen, kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen freiwillig tätig, zwölf Prozent zwischen 12 und 16 Stunden und 20 Prozent sogar über 16 Stunden. Besonders die Älteren sind bereit, sich länger als ein halbes Jahr zu engagieren. Auf sie wird gehofft, um Löcher im Bereich der Pflege zu stopfen: »Freizeitbeschäftigungen mit Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen und Unterstützung im Alltag« lautet die Stellenbeschreibung. Was darunter zu verstehen ist, bleibt offen. Am 31. Dezember 2011 läuft der FDaG aus. Seine Strukturen sollen in das Folgeprogramm »Mehrgenerationenhäuser« überführt werden: »Knotenpunkte bürgerschaftlichen Engagements« für Menschen verschiedener Altersgruppen, die sich dort »ungezwungen« begegnen und gegenseitig helfen sollen. Aber auch dieses Programm mit 500 Häusern läuft Ende des Jahres 2011 »planmäßig« aus, obwohl die Häuser zu einer generationsübergreifenden »Dienstleistungsdrehscheibe« geworden sind. Für die Finanzierungslücke bis zum Beginn des Folgeprogramms sind Länder und Kommunen gefragt, die bekanntlich an akutem Geldmangel leiden.

In Mehrgenerationenhäusern stellen »Freiwillige« zwei Drittel der dort Tätigen; sie arbeiten täglich, »auf gleicher Augenhöhe« ohne zeitliche Verpflichtung mit den Festangestellten. Mit der Überführung des FdaG werden auch die »Mehrgenerationenhäuser« über »neue Ehrenamtliche« verfügen, die sich für acht Stunden wöchentlich verpflichten. Der neue Bundesfreiwilligendienst (BFD) soll »ein hohes Maß an Flexibilität in einem klaren Rahmen« ermöglichen. Er wird durch das Bundesfreiwilligendienstgesetz geregelt, die Verwaltung geschieht durch Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (ehemals Bundesamt für Zivildienst). Die »freiwillige« Verpflichtung, die für Männer und Frauen aller Altersklassen gelten soll, dauert mindestens sechs und höchstens 18 Monate, umfasst eine 40-Stunden-Woche für unter 27-Jährige und mindestens 20 Wochenstunden für Ältere, bringt ca. 330 Euro monatliches Taschengeld und wird in soziale und ökologische Bereiche, Sport, Integration und Kultur vermittelt. Schwerpunkte bilden die Kinder- und Jugendbetreuung und die Altenbetreuung und -pflege. 35000 Menschen hofft man ab Sommer 2011 dafür zu gewinnen. ExpertInnen sind skeptisch, ob das gelingen kann. Vor allem zweifeln sie, dass junge Männer den Dienst im Pflege- und Sorgebereich freiwillig antreten wollen. Bislang melden sich hauptsächlich Frauen.

Die neue Unübersichtlichkeit

Geringfügige Vergütungen im Sinne von Aufwandspauschalen werden von Freiwilligenverbänden kritisiert, weil sie zu einer neuen Unübersichtlichkeit in den ohnehin heterogenen Beschäftigungsverhältnissen sorgen: von der gut bezahlten GeschäftsführerIn über Angestellte, Aushilfs- und Honorartätigkeiten, freie MitarbeiterInnen, im Nebenberuf Tätige, Mini- oder Midi-JobberInnen und andere prekär Beschäftigte, Zivildienstleistende und SchwarzarbeiterInnen bis hin zu den GratisarbeiterInnen. Seit der Erfindung des 1-Euro-Jobs und mit der Einführung des Programms »Bürgerarbeit« für Erwerbslose mit Pflichtarbeit wird die Abgrenzung zwischen bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten ohnehin kaum möglich und der Niedriglohnsektor um eine neue Dimensionen »bereichert«. Die Monetarisierung der ehrenamtlichen Arbeit steht nicht nur in Konkurrenz zu den ehrenamtlichen Gratisarbeiterinnen, sondern auch zu bezahlten Arbeitsplätzen, zumal sie nicht sozialversicherungsverträglich ist. Durch die neuen Programme werden diese Tendenzen verstärkt. Der gerade beschlossene Mindestlohn für die Pflegebranche in Höhe von 8,50 Euro wird damit ausgehöhlt. Stattdessen gälte es, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Sozialbereich und der Altenpflege zu schaffen und damit die Qualität der Versorgung wie die Interessen der Beschäftigten an eigener Alterssicherung zu sichern.