| Nach dem Bombenanschlag von Ankara

Oktober 2015  Druckansicht
Tariq Ali im Interview mit Onur Erem

Strategie der Türkei und der NATO in Trümmern

Jüngst wurden wir Zeugen des verheerendsten Bombenanschlags auf ZivilbürgerInnen in der jüngeren Geschichte der Türkei. Mehr als 100 Menschen starben (die genaue Zahl ist bisher unbekannt); wir alle haben zahlreiche FreundInnen verloren. Dieser Angriff folgt auf die unaufgeklärten Bombenanschläge in Diyarbakir (auf eine kurdischen Versammlung, direkt vor den Wahlen am 7. Juni 2015) und Suruc (bei dem 33 junge SozialistInnen getötet wurden). Die Opposition in der Türkei hatte die AKP-Regierung stets vor einer Verwicklung in den Krieg in Syrien und die Öffnung der syrischen Grenze für radikale IslamistInnen gewarnt. Mittlerweile gibt es Zellen des IS in der Türkei, die eben in Diyarbakir, Suruc und schließlich in Ankara Bombenattentate verüben. Wie ist die Rolle Erdoğans zu begreifen?

Tariq Ali: Die Strategie Erdoğans – und die der NATO – liegt in Trümmern. Die Türkei (wenn wir die Golfstaaten für den Moment mal außer Acht lassen) war der Hauptunterstützer des IS als einer neuen Kraft beim Versuch, Assad zu Fall zu bringen. Ohne diese Unterstützung hätte der IS niemals so schnell vorankommen können. Sicher, die irakische Armee und ihre korrupte Offizierskaste lehnten den Kampf gegen den IS ab und ergriff die Flucht. Es war die syrische Armee, die gegen den IS kämpfte, ebenso wie die Kurden Syriens, doch es entstand eine Pattsituation, die erst durch Putins jüngsten Vorstoß durchbrochen wurde. Der IS ist natürlich nicht einfach eine Handlangerarmee Riads oder Ankaras. Er hat einige gemeinsame Ziele mit beiden, doch seine eigene erklärte Vision eines sunnitischen Kalifats wird von keinem Staat in der Region unterstützt. Wer benutzt hier wen? Beide Seiten benutzen einander. Im Tausch für die Unterstützung Erdogans, ‘helfen’ ihm die Dschihadisten, indem sie Oppositionelle töten. In welchem Ausmaß der ‘geheime Staat’ der AKP mit dem IS kollaboriert, ist eine Frage, die ich bisher nicht beantworten konnte. Bisher gibt es keine Beweise, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen würde, dass es auch direkte Kontakte gibt.

Präsident Erdoğan, Premierminister Davutoglu und etliche AKP-Abgeordnete haben gesagt, dass die Bevölkerung der Türkei sich zwischen Chaos und AKP entscheiden müsse – mithin sind die Massaker, die wir erlebt haben, ein Ergebnis des Umstands, nicht für die AKP gestimmt zu haben. Wie kann eine demokratisch gewählte Regierung ihre eigene Bevölkerung so bedrohen?

Das Scheitern der AKP, eine Mehrheit zu erringen, aufgrund des sensationellen Einzugs der HDP (die linke und stark kurdisch geprägte Demokratische Partei der Völker) ins Parlament, hat Erdoğan erschüttert. Ein rationaler bürgerlicher Politiker wäre erfreut gewesen, dass die PKK eine Waffenruhe vorschlug, und sich darauf eingestellte, innerhalb der bestehenden parlamentarischen Institutionen zu arbeiten [wie zuvor die IRA und die ETA]. Erdoğan nahm dies jedoch als Bedrohung seines Prestiges auf, als Herausforderung seiner Macht, und begann, sich wie ein schäbiger Diktator zu verhalten. Dieser Prozess hatte nach den riesigen Protesten überall im Land nach dem Angriff auf den Gezi-Park begonnen. Diese Wendung selbst zeigte die Risse innerhalb der AKP und ihre Abhängigkeit von der Bauindustrie. Wenn dein Gesicht von den Pockennarben der Korruption übersät ist, hat daran der Spiegel schuld? Es sind die Arroganz und der Eskapismus der AKP, die das Land destabilisiert haben.

Die AKP-Regierung brachte ein „Sicherheitsgesetz“ durchs Parlament, das es erlaubt, Linke oder KurdInnen, die sich an Demonstrationen beteiligen, mit „begründetem Verdacht“ festzunehmen – eine mehr als vage Definition. Allerdings stellt Premierminister Davutoglu klar: “Wir sind ein Rechtsstaat. Zwar haben wir die Namen von potentiellen SelbstmordattentäterInnen des IS, aber wir können sie nicht festnehmen, bevor sie nicht in Aktion getreten sind”. Für uns war das eine schockierende Erklärung – 1000 linke und kurdische Aktivisten und Journalisten werden verhaftet, aber für den IS gilt eine vermeintliche Rechtsstaatlichkeit. Eine weitere schockierende Erklärung kam vom Innenminister Altinok, der sagte “es gab keinen Fehler in Sachen Sicherheit, der zum Bombenanschlag von Ankara beitrug”. Emma Sinclair-Webb, Türkeiforscherin von Human Rights Watch, fragte darauf hin: “Was heißt das? Sind die Dinge wie geplant abgelaufen? Durch wen?” Doch sie erhielt keine Antwort. Was wäre dein Kommentar?

Dass eine gewählte Regierung das Leben ihrer BürgerInnen nicht kümmert, ist nicht neu, aber dennoch schockierend. Entweder wissen sie, wer die Selbstmordattentäter sind, oder ihre „Verbündeten“ sind nicht kontrollierbar. In jedem Fall sind die Erklärungen inkohärenter Blödsinn. Die Wahrheit wird vertuscht.

Vor zwei Jahren fragte die BBC dich, ob die Türkei ein Land wie Pakistan werden könnte, sofern sich Syrien zu einem zweiten Afghanistan entwickeln würde. Du sagtest, der Hauptunterschied zwischen beiden Ländern bestehe darin, dass es nicht viele türkische Mitglieder beim IS gebe. Inzwischen gibt es zahlreiche türkische IS-Mitglieder. Vor zwei Monaten wurden Dutzende von ihnen verhaftet, aber nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Premierminister Davutoglu verkündete, er verfüge über eine Liste von etwa 20 türkischen IS-SelbstmordattentäterInnen. Der IS sendet auf Türkisch, publiziert in türkischen Zeitschriften und organisiert sich im Land. Wie würdest du heute die Frage beantworten?

Ich habe die Präsenz des IS in der Türkei, und auch seine Anziehungskraft auf frühere UnterstützerInnen Erdoğans, die sich desillusioniert in Richtung des fundamentalistischen Dschihad bewegt haben, unterschätzt. Die Türkei ist also nicht immun gegen den Virus. Natürlich hat es die Toleranz und offizielle Unterstützung von Seiten der türkischen Regierung einfach für sie gemacht. Doch sie können nicht durch schlichte Gewalt besiegt werden, selbst wenn die Regierung dies wollen würde. Die Türkei braucht eine populare Regierung, die mit neoliberaler Wirtschaftspolitik und NATO-gedeckten Interventionen bricht.

Die türkische Regierung hat Russland gedroht, dessen Flugzeuge abzuschießen, falls sie sich dem türkischen Luftraum nähern. Das erwies sich – zum Glück – als leere Drohung. Auch der Westen hatte Russland für die jüngsten Bombardierungen in Syrien kritisiert, die zwar auch auf den IS zielten, aber v.a. auf Verbände der Freien Syrischen Armee oder der Al Nurse Front. Wie wird der Eintritt Russlands in den Krieg auswirken?

Wenn die Russen ihr Ziel erreichen, die militärische Zerstörung des IS in Syrien und den Erhalt des Regimes, mit oder ohne Assad, dann wird das eine politische Niederlage für die Türkei sein, ebenso für Saudi-Arabien und die NATO, und es wird Auswirkungen auf die gesamte Region haben. Doch das ist alles sehr ungewiss.

Das Interview erschien zuerst in Bir Gün, (Ein Tag), eine in Istanbul erscheinende linke Tageszeitung. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch.