| Kommunal und selbstverwaltet. Modellprojekt am Kottbusser Tor

Juli 2019  Druckansicht
Von Jannis Willim

Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand unsere Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort wurden im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen eines Fördersystems sind, in das die Interessen von privaten Immobilieninvestoren und ihren kreditgebenden Banken eingeschrieben sind und das nur nachgeordnet der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einkommensarme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen, die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung wird momentan in der rot-rot-grünen Regierungskoalition blockiert.

Seit 2012 fordern wir daher als langfristige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungsbestände haben wir in einer Konferenz 2012 entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nachzulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um die Sozialwohnungen – nicht nur am Kottbusser Tor – haben eine andere Ausgangslage geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung nach Rekommunalisierung und Selbstverwaltung im Koalitionsvertrag der Berliner rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage diese Forderung zumindest am Kottbusser Tor Realität werden könnte, wenn der politische Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel lautet:

»Die Koalition will den Bestand der Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften bei den geplanten Zukäufen verstärkt um den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel an preiswertem Wohnraum. Die Koalition unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor angedacht, für selbstverwaltete Mietergenossenschaften.«

Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Druck insbesondere durch den Mieterrat des NKZ von der Landesregierung kommunalisiert. Auf dieser Grundlage und der im Koalitionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung und deren Umsetzung ganz praktische geworden. In diesem Zusammenhang haben wir die Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erhoben. Dabei haben wir auch untersucht, was für Vorstellungen von Mitbestimmung existieren und welche Bereitschaft in einer so benachteiligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für die größtmögliche Mitbestimmung. Denn unmittelbar in Anschluss an eine Rekommunalisierung – ob über Rückkauf oder Vergesellschaftung mit Entschädigung – stellen sich weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die Bestände in die öffentliche Hand überführt sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach unternehmerischen Prinzipien funktionieren. Hinzu kommt, dass sie große bürokratische Apparate sind, denen die Auseinandersetzung mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen fast schon aufgezwungen werden muss. Ist die politische Mitsprache durch die Mieter*innen automatisch verbessert, wenn die Wohnungen kommunales Eigentum sind? In welchen Bereichen wollen Mieter*innen mitbestimmen? Was ist gemeint, wenn wir etwa die Forderung »kommunal und selbstverwaltet« für Häuser erheben, die von der sozialen Zusammensetzung der Bewohner*innen her nicht unbedingt klassischen Hausprojekten gleichen, sondern deren Bewohnerschaft viel heterogener ist und stärker durch Migrations- und Rassismuserfahrung, Armut und Ausgrenzung geprägt?

Ergebnisse der Studie

An der Erstellung der Studie waren überwiegend Menschen beteiligt, die selbst Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Die Studie soll auch ausloten, wie sich die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Perspektiven auf ein solches Engagement dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch haben wir verschiedene Ansätze miteinander verknüpft. Die Palette reichte von Recherchen und einem Community Mapping über Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 betroffenen Haushalte des Untersuchungsgebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwortquote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifizierung geht von der Forderung von Kotti & Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft an den realen Ressourcen und Interessen der Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der Studie war also die Ermittlung handlungsorientierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Bewertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich zwischen staatlichen und privaten Vermietern in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen kommt: nämlich in der Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermietern besser bewertet wird als bei privaten, ist wenig überraschend. So liegt die Warmmietbelastung bei letzteren durchschnittlich bei 41 Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen, wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin ist, lediglich bei 30 Prozent.

Auch in Bezug auf »klassische Themen« der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzufriedenheit bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen – mit Ausnahme des Themas Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen der Gewobag[ref]Die Gewobag ist eines von derzeit sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin.
 [/ref]. Dabei lassen sich zwei wichtige Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis
der Studie feststellen, die zukünftig berücksichtigt werden sollten: Zum einen wurde
die Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw. Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum anderen Probleme bei der Müllentsorgung. Überraschenderweise gaben 59 Prozent der befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern an, dass sich seit der Kommunalisierung des NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeit
bei Reparaturen verschlechtert habe. Bei Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW) waren es nur 19 Prozent der Befragten, die
in diesem Zeitraum eine Verschlechterung beklagten. Das schlechte Abschneiden der kommunalen Wohnungsunternehmen in diesem Punkt gegenüber dem für seine schlechte Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immobilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen, ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die Frage nach einer Verschlechterung nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu muss man wissen, dass die Privatisierung der GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem schlechten Service der Hausverwaltung konfrontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine private lokale Hausverwaltung, die sehr gut ansprechbar war und einen engen Kontakt zu den Mieter*innen pflegte.

Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor immer wieder Beschwerden über Vermüllung gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, die B&O Berlin Service GmbH, zuständig
ist, deren Geschäftsmodell auf geringen Personalkosten der vor Ort Beschäftigten beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch eine bewusste »Verslumungsstrategie« der Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber einen anderen Hausverwaltung, haben keine vergleichbaren Probleme.

Diese beiden Teilergebnisse unserer Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer Übergangsphase nach der Rekommunalisierung – in welcher Verwaltungsform auch immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge der Bewohner*innen einzugehen und gemeinsam mit der Nachbarschaft einen »Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So gilt es auch zu berücksichtigen, welches die Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich engagieren wollen.

Ein für uns zentrales und motivierendes Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der befragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft an solchen Aktivitäten beteiligen und nur
ein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein Interesse an einer gegenseitigen Unterstützung in der Nachbarschaft. Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird, dass sowohl die vorhandenen Strukturen, beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und auch die konkreten Eigentümer*innen der Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie stark die Bewohner*innen bereit sind, sich einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftigkeit des eigenen Engagements klar an die Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41)

Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung werden zudem als Voraussetzung benannt,
um Mieter*innen zu aktivieren:

»Das habe ich damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der Woche Hausversammlungen […] einfach, dass man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen habt ihr, was für Probleme gibt es, was können wir besser machen?‘ Dass da Gespräche stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.)

Bemerkenswert sind zudem die durchaus realistischen Vorstellungen, was die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbstverwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht alle Mieter können mitverwalten, weil da braucht man schon ein bisschen Erfahrung, bisschen Organisationstalent auch, auch mit der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter kann auch mitgestalten, das ist machbar.« (Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erforderlichen Zeitressourcen werden ebenfalls angesprochen, was letztlich auch die Frage nach der Bezahlung solchen Engagements in der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gremium zu haben oder einen Vorstand und eine Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.)

Perspektiven für eine »Rekommunalisierung plus«

Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen auch Informationen zu Einkommen, Wohndauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus diesem Wissen über die sozioökonomische Lage sowie aus den Positionen der Mieter*innen modellhafte Handlungsansätze für zukünftige Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung ableiten zu können.

Die Voraussetzungen und das Interesse der Menschen, an nachbarschaftlichen Projekten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeignete Formate und Orte für die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung zu finden.

Wir betrachten die Selbstorganisierung und das Vorhandensein nachbarschaftlicher Netzwerke als Grundlage für die erfolgreiche Mitbestimmung von Mieter*innen im kommunalem Wohnungsbestand. Wie unsere Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt die hohe Anzahl der türkisch- und arabischsprachigen Haushalte die Bedeutung der Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet. Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durchschnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das Durchschnittseinkommen im Untersuchungsgebiet nur 77 Prozent des Durchschnittseinkommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck, der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet, besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für die türkisch- und arabischsprachigen Haushalte und Familien.

Andererseits ist interessant, dass in jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch, Italienisch, Hebräisch und Spanisch am Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt sich auf jüngere Migrationsbewegungen von gut ausgebildeten Fachkräften und Studierenden zurückführen (ebd., 40). Sie sind Ausdruck der europäischen Krise, die sich auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist anzunehmen, dass diese junge Generation für eine bessere Lebensperspektive nach Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter dieser Personengruppen mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt von 54,4 Jahren. Die Heterogenität unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd erwiesen, für das Wohnen und Zusammenleben im Alltag, aber auch für die politische Zusammenarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam unser Viertel zu dem gemacht haben, was es heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben in einer postmigrantischen Stadt und von einem solidarischen Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso werden wir nie aufhören darüber zu reden, dass Rassismus ein beständiger Begleiter von vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der Wohnungssuche oder beim Jobcenter.

Wir wollen am Kottbusser Tor mit »Rekommunalisierung Plus« nun einen nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur die vielfältige nachbarschaftliche Unterstützung sichtbarer werden, sondern wir wollen erstmals diese Ansprüche auch in selbstverwalteten Mieterstrukturen in landeseigenen Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist dabei:

1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenaufwand – damit sie von einer breiten, diversen nachbarschaftlichen Mischung getragen wird, muss sie vor allem Auswirkungen auf die Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnqualität dienen.

2 | Für die Mitbestimmung bei voraussetzungsvollen Themen wie Instandhaltung, Gewerbeentwicklung, Modernisierung, Planungsprozesse etc. kann es kein allgemeingültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangsbedingungen des jeweiligen Organisationsgrades der Mieter*innen berücksichtigt.[ref]Mehr dazu unter: kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de/ [/ref]

3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbunden werden.

Letzten Endes geht es darum, dass in Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel darüber mitentscheiden können, was mit
den Häusern, in denen wir leben, passiert.
Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher Mitbestimmung von Sozialmieter*innen weiterzudenken. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften werden diesen Prozess von sich heraus weder anstoßen noch meistern – »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten sind dagegen zu klein dimensioniert. Bei
dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht
es deshalb darum, auszuprobieren, wie eine Rekommunalisierung mit realer Demokratisierung und Teilhabe der postmigrantischen Gesellschaft verbunden werden kann.

Literatur