| »MIR STEHT ETWAS MEHR PESSIMISMUS ZU«

Juli 2009  Druckansicht
Gespräch mit Luciana Castellina

Wie ist die Krise einzuschätzen? Und welche strategischen Orientierungen ergeben sich daraus für die Linke? Die Redaktion fragte feministische Intellektuelle (III).

1 Ich könnte antworten: Die Krise führt vor, dass der Kapitalismus nicht die beste Wahl für eine gesellschaftliche Entwicklung und anfällig für schwere Krankheiten ist. Ich könnte antworten, dass wir im Recht waren. Dies trifft alles zu, erklärt aber nicht den spezifischen Charakter der Krise. Letzteres kann ich wirklich nicht beantworten. Soweit ich weiß, kann es niemand. Die meisten Ökonomen erklären ihre Ratlosigkeit: jenseits der ›technischen‹ Zusammenhänge komplizierter Finanzprodukte und riskanter Bankgeschäfte, die den Crash beschleunigt und verbreitet haben, wissen sie nicht, welche Ursachen für diese tiefe Krise verantwortlich sind. Insofern wäre es nicht schlecht, wenn die Linke sich nicht ihrer Hoffnungen versichern würde, sondern das gegenwärtige System einer erneuten und erneuerten Analyse unterzöge, um seine ständigen Transformationen zu verstehen. Weder wird der Kapitalismus morgen absterben, noch für immer überdauern – beide Vorstellungen sind in der Linken weit verbreitet. (Der Titel eines neuen Buches des italienischen Ökonomen Giorgio Ruffolo heißt Il capitalism ha i secoli contati, sinngemäß: der Kapitalismus ist ›angezählt‹, aber bevor er untergeht, wird er noch einige Jahrhunderte überdauern.)

2 Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 haben gezeigt, dass – abgesehen von kleinen Minderheiten – die am stärksten von der Krise Betroffenen ihre Stimme nicht für jene abgegeben haben – uns –, die seit langem vor den Gefahren der fatalen Krise gewarnt haben, sondern für Parteien, die aggressiv nach Sündenböcken suchen – Migranten, Arme und Arbeitslose etc. –, die demokratische Verkehrsformen, Politik als solche angreifen – und damit die Ursachen der und die Verantwortlichen für die Misere verschleiern. Wenn sich dies so ereignen kann, heißt das, die Linke war unfä- hig, jenseits ihrer Ablehnung des Bestehenden eine Alternative anzubieten oder wenigstens anzudeuten. Die Linke leckt ihre Wunden. Es gibt keine Anzeichen, dass sie die Rolle, die sie einst im 20. Jahrhundert gespielt hat, wieder gewinnen wird. Es wäre heilsam, sich keinen Illusionen hinzugeben und ins Auge zu fassen, dass eine sehr langfristige theoretische und politische Arbeit ihres Wiederaufbaus nötig sein wird. Kurz: Die Fragen stellen sich für mich als zu schwer heraus. Ich kann sie nicht beantworten und befürchte, wir sind alle nicht in der Lage. Als sicherlich Älteste der Autorinnen müsst ihr mir aus Erfahrung etwas mehr Pessimismus zugestehen.

Aus dem Englischen von Mario Candeias