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Liebe, Krise und Klassenverhältnisse

Gespräch mit Eva Illouz

Christina Kaindl: Vielleicht können wir mit der Frage der Klassenverhältnisse beginnen. In deiner Arbeit beschreibst du sehr genau, wie Leute entscheiden, wen sie kennenlernen oder als (Sexual-)PartnerIn auswählen wollen. Es scheint darin sehr viel Mobilität zu geben, neue Wege, wie und wo Partner gefunden werden usw. Siehst du auch Prozesse sozialer Abgrenzung?

Eva Illouz: Nein, ich würde nicht von Mobilität sprechen, im Gegenteil – Menschen denken sehr genau darüber nach, wen sie auswählen, um nicht abwärts zu rutschen, um in ihrer Klasse zu bleiben oder um im Idealfall aufzusteigen. Natürlich wird das nicht offen so formuliert, Leute sagen sich nicht, dass sie mit anderen aus ihrer Klasse zusammen sein wollen. Sie sagen sich, dass sie jemanden suchen, die oder der sie im Sinne einer tiefen Seelenverwandtschaft verstehen kann. Dieses Verstehen basiert nach Bourdieu meist darauf, dass sie über den gleichen Habitus verfügen, also die gleichen sozialen Erfahrungen teilen.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Person, der wir uns am nächsten fühlen würden, die Person ist, mit der wir am meisten soziale Erfahrungen teilen. Diejenigen, die am gefährdetsten sind und sich am stärksten um ihren sozialen Status sorgen, tun dies am meisten. Ich würde sagen, dass Leute aus der Mittelklasse sich sehr viel öfter nach oben orientieren als Angehörige der Arbeiterklasse. Sie sind sich der Strategien in der Partnerwahl sehr viel stärker bewusst. Man bedenke, wie wichtig das ist, was wir »Kommunikation« nennen: Gedanken und Geheimnisse zu teilen bedeutet, die tiefsten und am wenigsten artikulierten Bereiche unseres Habitus, unserer Klasse und unserer soziokulturellen Zugehörigkeit zu teilen

CK: Gab es früher mehr Möglichkeiten, über den Heirats- oder Sexualpartnermarkt sozial aufzusteigen, hat sich das im Laufe der Zeit verändert?

EI: Die Tatsache, dass Menschen rational über ihre Partnerin oder ihren Partner nachdenken, hat sich nicht verändert: Familienpolitik war auch für die Weise, wie Menschen in vormodernen Gesellschaften geheiratet haben, ziemlich zentral. Entgegen dem konventionellen Verständnis von moderner Heirat als Liebesheirat behaupte ich, dass gerade weil die Trennung zwischen der rationalen Entscheidung der Familie und der privaten Zuneigung des Individuums aufgehoben ist, das Individuum heute viel mehr von der rationalen Strategie verinnerlicht hat, die zuvor von der Familie verfolgt wurde. Das ist ein Aspekt. Wenn wir die Veränderung des Gefühls oder Ereignisses oder der Episode des »Sich Verliebens« betrachten, können wir, denke ich, ziemlich leicht feststellen: 1 | »Sich zu verlieben« geschieht seltener, nicht so leicht und nicht so jung – vor allem, weil es so viel mehr Auswahl gibt. 2 | Individuen haben eine unverhältnismäßige Vorstellung davon entwickelt, welche wachsende Anzahl von Eigenschaften sie in einander finden wollen. Der Geschmack bei der Partnerwahl hat sich unglaublich verfeinert und ist immer spezifischer geworden. Im 16. oder 17. Jahrhundert suchten HeiratskandidatInnen nach jemandem mit einem gewissen sozialen Status, die Frauen mussten eine bestimmte Aussteuer mitbringen und sie wussten, wie viel das war, denn es wurde vor der Hochzeit ausgehandelt. Weiter suchten sie nach guten Charakterzügen in einem sehr allgemeinen Sinne, und sie suchten nach jemandem, der nicht zu unangenehm anzusehen, nicht schrecklich hässlich war. Die Kriterien waren also allgemein und vage. Heute können die Leute genau benennen, welche Art von Brüsten sie bei einer Frau wollen, die Form ihrer Beine, die Art von Hüfte – und das ist noch sehr viel weniger detailliert als die Beschreibung der psychologischen, emotionalen und sexuellen Eigenschaften, die sie genau definieren, wenn sie nach PartnerInnen suchen. Leute würden also sagen: »Es hat nicht geklappt, weil wir verschiedene Interessen in unserer Freizeit haben«. Oder: »Es hat nicht geklappt, weil ich sexuelle Phantasien hatte, die er nicht erfüllen konnte.« Oder: »Es hat nicht geklappt, weil ich mich nicht so gehört gefühlt habe, wie ich es mir ersehne«. Es bestehen also extrem hohe, spezifische Forderungen und Erwartungen daran, wie die andere Person sein sollte. Deshalb kann ich sagen, dass moderne Menschen sehr viel rationaler sind als in vormodernen Zeiten in dem Sinne, dass sie die Kriterien genau benennen können, die sie von einer anderen Person erwarten. Die Rationalität selbst wurde rationalisiert. Rationalität ist also noch intensiver rational als zuvor.

CK: Ein Thema deiner Arbeit ist, wie sich mit dem Aufkommen des Kapitalismus für die Menschen Gefühle verändert haben und dass sie sich mit weiteren Entwicklungen oder Verschiebungen des Kapitalismus ebenfalls weiter verändern. Viele Menschen beobachten als Veränderung in der Arbeitsethik und im Arbeitsalltag, dass sie so viel mehr Gefühle in die Arbeit einfließen lassen müssen. Hast du den Eindruck, dass dies die Art und Weise verändert, wie Menschen mit ihren Gefühlen umgehen, über ihre Gefühle denken und mit dieser emotionalen Anforderung umgehen?

EI: Was das Management von Gefühlen am Arbeitsplatz am meisten veränderte, ist die Tatsache, dass Arbeit am kapitalistischen Arbeitsplatz Arbeit innerhalb von Unternehmen ist. Wenn man hauptsächlich mit Menschen arbeitet anstatt allein oder mit stofflichen Materialien, dann gehe ich davon aus, dass die Unternehmensführung oder ihre beratenden PsychologInnen auf verschiedene Weisen versuchen werden, die Menschen zu »managen«, also Konflikte zu verhindern, die Menschen produktiver und effizienter zu machen. Sie versuchten, die Affekte der Menschen am Arbeitsplatz zu stabilisieren, denn Stabilität bedeutet Berechenbarkeit, und Berechenbarkeit bedeutet, dass man mehr Kontrolle ausüben kann. Daher wurden negative Emotionen zunehmend vom Arbeitsplatz verbannt: kein Ärger, keine Eifersucht, kein Neid. Natürlich war es jedoch im Interesse der Unternehmer, Rituale zu schaffen, also Affekte zu stabilisieren, die negative Gefühle herausnehmen und Freundlichkeit und Heiterkeit als eine Art Kitt ermutigen. Heiterkeit zum Beispiel war keine männliche Eigenschaft im 19. Jahrhundert, sondern ein Attribut von Weiblichkeit: die heitere Frau zu Hause. Erst am Arbeitsplatz wurde sie zu einer männlichen Eigenschaft. Heiterkeit bedeutete in diesem Fall, dass man eine Art Energie ausstrahlte, die dann durch die gesamte Gruppe strömen konnte, in der man war. Diese emotionalen Veränderungen waren also Reaktionen auf die veränderten Anforderungen der Unternehmen. Und dann kam irgendwann in den 1960ern und 1970ern die Idee auf, dass man Arbeit benutzen sollte, um sich selbst zu verwirklichen. Mit dieser Selbstzentrierung und Selbstverwirklichung sind wir heute sehr weit entfernt von den Zeiten, als ArbeiterInnen von der Ware und von den Produktionsmitteln entfremdet waren, sodass sie ihr eigenes Selbst als gespalten wahrnahmen, wie Marx es beschreibt. Darin gibt es das Selbst, das arbeitet, und das Selbst außerhalb der Arbeit. Und das Selbst, das arbeitet, ist entfremdet. Das war der Zustand des Selbst und von Identität unter den Bedingungen des Kapitalismus.

Heute ist das Ziel jedoch nicht mehr, Emotionen zu managen und Menschen so zu manipulieren, dass sie freie Mitglieder in einem Team sein können und dieses Team damit so produktiv wie möglich machen. Sondern man zielt darauf ab, die Arbeit vollständig in ihr Selbst zu integrieren, die Arbeit zum Ausdruck ihres Selbst und ihrer tiefen Emotionen werden zu lassen. Arbeit wird zu einer emotionalen Angelegenheit. Dazu kommt die Tatsache, dass in vielen Berufen die Gefühle der Arbeitenden tatsächlich dazu benutzt werden, um Produkte zu produzieren, z.B. bei Menschen, die in der Werbeindustrie oder im Kunstbereich arbeiten. Durch die Auffassung, dass sie dabei ganz sie selbst sein müssten, werden die Grenzen zwischen den Künsten und den kreativen Räumen des Kultur-Kapitalismus verwischt, z.B. bei Menschen, die für Film, Fernsehen oder Magazine etc. arbeiten. JournalistInnen machen Gebrauch von ihren eigenen Erfahrungen und Gefühlen, um etwas zu produzieren, das eine Leserschaft interessieren wird. Die Ware, die sie versuchen zu produzieren, ist also eine recycelte Form ihrer eigenen Erfahrungen, Gefühle oder Gedanken. Das ist, denke ich, der neue Gebrauch von Emotionen im Kapitalismus.

CK: Glaubst du, das ist auf diesen Bereich beschränkt? Manche Leute sagen, dass diese Form von emotionaler Arbeit sich in fast jede Art von Arbeitsplätzen einschleicht, sogar in die Autoindustrie und ähnliche Sektoren. Zumindest auf der Ebene der Gruppenorganisation sind diese werbungsartigen Aspekte Bestandteil von vielen Präsentationen innerhalb der Firmen und die MitarbeiterInnen müssen ununterbrochen lernen, diese Formen von Emotionen zu benutzen.

EI: Das Problem vieler Unternehmen ist es, wie sie Treue und Engagement herstellen können. Im England des frühen 19. Jahrhunderts z.B. zerstörten die LudditenMaschinen, sabotierten die Arbeit oder streikten (1811–13). Ein effizienter Weg, Sabotage von Maschinen und Arbeitsprozess zu verhindern, ist es, Treue und Engagement herzustellen. Wie man das tut? Man schafft Identifikation mit dem Unternehmen, indem man die Firma zu einer Frage der Entwicklung des eigenen Selbst der MitarbeiterInnen werden lässt – bis die Krise kommt und sie ohne Zögern entlassen werden.

CK: Wie gehen Menschen mit ihrer Aggression um, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht sabotieren?

EI: Ich glaube, die meisten Menschen denken, sie seien unangemessen, wenn sie Aggressionen fühlen. Man denke an das Wort »Professionalität«. »Professionell« sein heißt, komplette Kontrolle über seine Gefühle zu haben. Stell dir einen Manager vor, der oft ärgerlich oder traurig ist und nicht die Maske von Kontrolle und Neutralität trägt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde diese Person als unangemessen empfunden werden, selbst wenn sie extrem intelligent wäre. Ich glaube, wenn Menschen bei der Arbeit oder wegen der Arbeit aggressiv oder depressiv sind, denken sie meist, dass etwas mit ihnen nicht stimmt – und dass es ihre Aufgabe ist, dieses Problem zu lösen. Es wird so viel Negativität am Arbeitsplatz und durch den Arbeitsplatz produziert, für die die Menschen sich dann schuldig fühlen und denken, dass sie an ihrem Selbst arbeiten müssten, um sie besser zu managen. Also gehen sie zu Yogakursen, zu Workshops in Aggressionsbewältigung und zu allen möglichen anderen Aktivitäten, um Dampf, Wut und Frustration abzulassen, die sie wegen ihres Arbeitsplatzes fühlen, wo sie sich nicht anerkannt genug oder schlecht behandelt fühlen etc.

CK: Siehst du in dieser Form des Umgangs auch Reibungen? Haben Menschen den Eindruck, dass sie ihr Ziel nie erreichen können, dass sie Yoga und Therapien satt haben und eine andere Form von Veränderung wollen? Haben sie überhaupt noch die Möglichkeit dazu, wenn sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, die Emotionen im Alltag zu managen, was bleibt an Ressourcen für Engagement, Unzufriedenheit, Protest? 

EI: Historisch gibt es ganz sicher Überschneidungen zwischen der Verallgemeinerung der Techniken für Glück, Wohlbefinden und dem Management von Gefühlen und der Privatisierung von Glück. Ich glaube nicht, dass kollektive Utopien sich nicht mit Glück befassen. Wir behandeln sie mit einer breiten, umfassenden Perspektive. Das Verständnis war, dass das, was dich glücklich machen würde, mich auch glücklich machen würde. Die Idee von Glück wurde als kollektiv verstanden. Die Privatisierung des Glücks, zusammen mit der PostModerne und der Psychologie bedeuten, dass das, was dich glücklich macht, nicht unbedingt mich glücklich macht. Wenn das Ziel immer noch die Verwirklichung von Glück ist, wir jedoch nicht glauben, dass es eine kollektive Formel für Glück gibt, dann gibt es natürlich eine Privatisierung von Glück. Jede und Jeder verteidigt ihr oder sein eigenes Glück.

Dementsprechend erscheint die Relevanz und Dringlichkeit kollektiver Utopien für unser eigenes Glück nicht mehr so offensichtlich. Denn wir haben uns während der letzten 30 oder 40 Jahre ungemein daran gewöhnt, über alles auf eine individualistische Weise nachzudenken. Ich glaube, wir sind damit beschäftigt, unsere eigenen Gefühle zu managen, aber es ist nicht nur die Frage, wie ausgelastet wir damit sind – es ist auch so, dass Kollektivität und kollektive Identitäten als Konzepte immer abstrakter geworden sind. Unsere überwältigende Realität ist eine sehr private, individuelle. Es erscheint offensichtlich, denn wir kennen uns immer selbst. Aber man denke zum Beispiel an die Art und Weise, wie Priester im 18. Jahrhundert Emotionen gemanagt haben. Vor einer großen Gemeinde sagte der Priester: »Du sollst keinen Zorn in deinem Herzen tragen, du sollst Liebe in deinem Herzen tragen.« Er sagte es zu allen und jeder nimmt die Botschaft für sich selbst. Aber jetzt, da wir private Coaches und PsychologInnen haben, wird diese Arbeit darauf ausgerichtet, dir auf eine sehr spezifische Weise deine Aggression und deine Liebesunfähigkeit zu erklären, mit deiner extrem spezifischen, hoch individualisierten Geschichte. In unserer Kultur verfügen wir über Unmengen kultureller Techniken, um unsere eigene Individualität für uns real zu machen – die in meinen Augen jedoch nicht mehr oder weniger real ist als unsere Kollektivität. Aber da dies die vorrangige Realität ist, mit der wir umgehen, ist es, glaube ich, schwerer, in kollektiven Zusammenhängen zu denken.

CK: Ich finde es sehr interessant, wie auf der einen Seite in diesen Techniken so spezifische Annäherungen an jede Person gewählt werden und es auf der anderen Seite bestimmte Formeln gibt, die so oft reproduziert werden in der Weise, wie Leute, TherapeutInnen oder TrainerInnen sprechen. Siehst du eine Perspektive, wie nicht nur die Idee von Kollektivität wieder gewonnen werden kann?

EI: Auf eine Weise denke ich, dass wir auf die nächste große Krise des Kapitalismus warten müssen.Zurzeit sehe ich noch nicht die Bedingungen für Bewegungen, die mit den sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts vergleichbar wären in ihrer Fähigkeit, die Machthabenden so sehr zu bedrohen, dass diese sich wirklich bewegen würden. Es könnte sozialistische Organisationen geben, aber sie würden die Zentren der Macht nicht wirklich bedrohen. Die Frage ist also, wie bedroht man den Status quo? Wenn nicht eine Massenbewegung entstehen würde, die aufhören würde zu konsumieren, halte ich das für extrem schwierig. Menschen, die einfach aufhören würden zu kaufen, die verstehen würden, dass die gleiche Maschine, die ihnen das Gefühl von Wert und Ehre verleiht, sie um ihre Arbeit und Sicherheit beraubt. Wenn das geschähe, wären die Machtzentren ernsthaft bedroht. Ich weiß nicht, was sonst passieren müsste.

CK: Würdest du sagen, die Tatsache, dass die aktuelle große Krise des Kapitalismus lange keine vergleichbare Situation provoziert hat, liegt daran, wie mächtig die Privatisierung von Gefühlen und deren Management sind?

EI: Nein, ich glaube, es ist nüchterner. Das liegt daran, dass die Regierungseliten und Finanzeliten tief miteinander verbunden sind. Die Vorstandsvorsitzenden von Citibank oder AIG oder so haben wahrscheinlich mehr mit den Gesetzgebern und Regierungslenkern gemein, als die Regierenden mit den Bürgern. Weder sie noch irgendjemand anderes wurde je für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen. Das liegt daran, dass die Leute, die diese Gesetze verabschieden, und die Leute, die andere zur Rechenschaft ziehen sollen, ein und derselben Gruppe angehören. Ich weiß nicht, was glaubst du?

CK: Sicher hast du Recht; auf der anderen Seite ist es verwunderlich, dass der Dissens von denen, die von dieser Gruppe ausgeschlossen sind, nicht stärker oder deutlicher formuliert wird. In Griechenland oder Spanien zum Beispiel sind Menschen außer sich vor Wut und sagen, dass dies nicht länger hinnehmbar ist. Natürlich kann ich ihre Position verstehen, sie ist zu erwarten, wenn man durch solche Erfahrungen geht. Aber in Deutschland sind die Menschen stärker eingebunden.

EI: Wer schert sich schon um Protest? Wenn du der Chef von einer großen Bank bist, oder irgendeinem anderen Konzern, fühlst du dich bedroht, wenn ein paar Leute auf einem Platz sitzen? Ich glaube nicht. Du fürchtest nicht um dein Leben oder deinen Besitz. Der Staat beschützt dich mit so viel Macht. Als die Menschen dagegen 1848 auf die Straße gingen, hatten die Machthabenden Angst. Sie dachten, die Arbeiterklasse würde sie stürzen. Das sehe ich heute nicht. Im Wesentlichen fehlt es an Bündnissen zwischen den Klassen. Sie sind zu zersplittert, jede fühlt und arbeitet für ihr eigenes Projekt, die Mittelklasse ist tief getrennt von der Arbeiterklasse. Wenn es keine Klassenzugehörigkeit gibt oder keine ernsthaften Bündnisse zwischen Klassen, z.B. zwischen MigrantInnen und der lokalen Arbeiterklasse oder zwischen der Arbeiter- und der Mittelklasse, gibt es keine bedeutsame politische Aktion. Die Arbeiterklasse ist tief gespalten entlang den Linien von Religion, Immigration, Ethnizität, Nationalität etc. Sie wirken wie Soll-Bruchstellen. Und die Migranten sind zu sehr damit beschäftigt, dazuzugehören, um sich zu organisieren. Unglücklicherweise entscheiden sie sich vielfach für den religiösen Weg – vielleicht konnten z.B. die Türken und Muslime nicht anders.

CK: Es scheint, als bestünde das Angebot an die Arbeiterklasse, die soziale Leiter heraufzuklettern und irgendwie Teil der Mittelklasse zu werden. In Deutschland war der Kern der Arbeiterklasse im Wesentlichen die Mittelklasse. Die amerikanische Arbeiterklasse versteht sich selbst als Mittelklasse. Ich glaube das hört auf, wenn sich die derzeitige Situation fortsetzt und die Leute merken, dass ihnen dieser Zugang in die Mittelklasse nicht länger gewährt wird und sie spüren, dass die Krise nicht aufhören wird. Vielleicht entstehen dann neue Formen von Solidarität. 

EI: In Israel funktioniert die Rechts-LinksAufteilung des politischen Spektrums anders als andernorts. Weil die Energien ganz vom israelisch-palästinensischen Konflikt aufgezehrt werden, ist es möglich, dass die unerträglichsten Kapitalisten linke Positionen vertreten, wenn es um den israelisch-arabischen Konflikt geht. Zwischen den Arbeiterklassen und den linken Mittel- und Oberklassen fehlt jede Solidarität. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die israelische Rechte auf sehr geschickte Weise große Teile der Arbeiterklassen durch Themen wie Religiosität, Ethnizität, Stolz und Anerkennungspolitik für sich einnehmen konnte. Die linken Gruppen benutzten eine koloniale Rhetorik, um viele dieser ethnischen Gruppen zu beschreiben, und befremdeten sie dadurch komplett. So entstanden sehr tiefe Spaltungen.

Aus dem Englischen von Tashy Endres

 

Anmerkungen

1 Textilarbeiter in England, die gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die Industrielle Revolution kämpften.
2 Das Gespräch fand im Spätsommer 2011 statt, Anm. d. Red.