| Weg vom Einzelkämpfertum. Wie muss sich das Lehramt verändern?

September 2021  Druckansicht
Gespräch mit Elisa Sagasser und Sonja Zielke

Eure Initiative will die Lehramtsausbildung in Deutschland verändern. Warum? Was läuft schief?

Sonja: Das Studium bereitet uns nicht ausreichend auf die anspruchsvollen Aufgaben des Berufs vor. Das liegt zum einen daran, dass die bildungswissenschaftlichen Anteile zu wenig Gewicht haben. Meistens studiert man ja einen Bachelor mit Lehramtsoption, man entscheidet sich nicht für den Beruf, sondern für ein Fach. Die pädagogischen Kompetenzen, die man als Lehrer*in braucht, entwickelt man dann nur unsystematisch – und vor allem: ohne Schulbezug. Das ist auch unser zweites Problem: Es fehlt eine sinnvolle Verschränkung von Theorie und Praxis.

Zunächst mal zu den Inhalten. Welche bildungswissenschaftlichen Themen wären denn wichtig?

Sonja: Ein Problem ist, dass es immer nur um guten Unterricht geht, aber selten um das Schulsystem oder um Schulentwicklung, also um die Strukturen, die guten Unterricht erst ermöglichen. Ganz wichtig ist uns außerdem eine professionelle pädagogische Haltung. Dafür brauche ich auch sozialwissenschaftliche Ansätze. Ich muss verstehen, welchen Habitus ich als Lehrerin mitbringe, auf welchen Habitus der Schüler*innen ich treffe und warum das clashen kann, ob ich zum Beispiel Kinder bevorzuge, ohne es zu wollen.

Elisa: Wenn man das nicht bearbeitet, reproduziert man als Lehrer*in unbewusst die eigenen Schulerfahrungen. Das macht es unheimlich schwer, das Schulsystem zu verändern. Um eine reflexive Haltung zu entwickeln, brauche ich Wissen über Diskriminierung und Machtstrukturen, ich muss mich selbst kennen, wissen, wo ich herkomme und wie ich positioniert bin.

Sonja: Die Sensibilisierung reicht aber nicht. Man muss das Wissen auch umsetzen. Dafür muss intensiv zwischen Theorie und Praxis gearbeitet werden, um aus eigenen Erfahrungen zu lernen und sie gemeinsam mit anderen zu reflektieren. Es geht nicht einfach um mehr Praxis, sondern um reflexive, professionell begleitete Praxis.

Und die fehlt?

Sonja: Absolut. An vielen Unis gibt es im Master ein Praxissemester, da ist man vier Tage die Woche in der Schule und hat an der Uni Begleitseminare. Die sind aber oft ein wenig strukturierter Austausch ohne echtes Feedback. Ich habe mir über Kreidestaub eine private kollegiale Fallberatung organisiert. Da kann ich meine Erlebnisse diskutieren und auch schwierige Situationen verarbeiten.

Elisa: Für mich war der Austausch mit Gleichgesinnten enorm wichtig. Während des Studiums hatte ich immer wieder schwierige Momente, wo ich dachte: Will ich wirklich Teil dieses dreigliedrigen Schulsystems sein? Diesen Leistungsdruck auf Kinder ausüben, Noten geben? Ich habe dann begonnen, mich mit dem, was ich nicht für richtig halte, aktiv auseinanderzusetzen. Und ein Bewusstsein entwickelt, wie wichtig und wie politisch der Lehrberuf ist.

In gewisser Weise plädiert ihr dafür, die pädagogischen Anteile – man könnte auch sagen: die »Care-Anteile« – des Berufes aufzuwerten. Meint ihr, dass ein verändertes Berufsbild auch andere Menschen ansprechen würde?

Sonja: Ich glaube vor allem, dass eine kritischere Haltung zu Schule und Schulsystem ein wichtiger Beitrag wäre, um andere und unterschiedlichere Menschen anzusprechen. Heute wollen ja vor allem diejenigen Lehrer*in werden, die sich auch als Schüler*in in der Schule wohlgefühlt haben.

Kreidestaub organisiert Workshops, Konferenzen zu Themen wie Inklusion, Beziehungsarbeit, Digitalisierung – alles Dinge, die eigentlich im Studium fest verankert sein sollten.

Elisa: Ja, wir machen selbst, was wir vermissen. Aber gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass das auch in den Curricula verankert wird. Denn zusätzliche Angebote im Studium kann sich nicht jede*r leisten. Dafür arbeiten wir mit Fachschaften zusammen und sind vernetzt mit Dozent*innen und Initiativen wie »Blick über den Zaun«. An manchen Orten klappt es ganz gut und Inhalte werden übernommen, an anderen gibt es weniger Offenheit.

Ihr arbeitet auch zum Thema ­Inklusion. Wie sieht ein inklusives Bildungssystem aus?

Elisa: Inklusion heißt nicht einfach, Kinder mit sogenannten Behinderungen in Regelschulen zu stecken. Es heißt, allen Menschen unabhängig von Begabung, Herkunft, race, class, gender und sex gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Die Schule muss die Barrieren aktiv erkennen und abbauen. Unser Ideal ist, die Bildung am einzelnen Kind auszurichten und nicht umgekehrt das Kind an das Schulsystem anzupassen. Dafür braucht es Ermöglichungsstrukturen, in denen jedes einzelne Kind sein Potenzial entfalten kann.

Sonja: Natürlich geht es auch um die klassische soziale Durchlässigkeit. Aber wir gehen noch weiter und sagen: Jedes Kind soll sich in der Schule sicher und wohl fühlen können und in der eigenen Lebensrealität anerkannt werden. Dafür muss diskriminierungskritisch unterrichtet und gearbeitet werden. Es reicht nicht, nur auf die Leistungsgerechtigkeit zu fokussieren. Es muss darum gehen, dass Schule nicht länger eine Norm an jedes einzelne Kind anlegt.

Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, erst recht unter den Bedingungen von großen Klassen und Zeitdruck. Können kompetente Lehrer*innen das alles ausgleichen?

Sonja: Natürlich nicht. Lehrer*in sein heißt in diesem System handeln in ­Widersprüchen. Deshalb ist die Ebene der Schulentwicklung so wichtig. Dass sich Menschen zusammentun ­und ihre Schule verändern. Zum Beispiel indem sie Räume schaffen, wo multiprofessio­nelle Teams, Sozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen zusammenarbeiten oder indem sie bis zur achten Klasse keine Noten geben. Das kann man auf Schulebene beeinflussen und das machen durchaus auch staatliche Schulen.

Nun sind natürlich nicht alle Lehrer*innen an solch guten Schulen …

Sonja: Wenn man an strukturelle Grenzen stößt, muss man natürlich für Veränderung kämpfen. Wenn das nicht geht, muss man einen Umgang damit finden und als kritische Lehrerin kreativ sein. Wenn ich Noten geben muss, kann ich zumindest die Klassenarbeiten anonymisieren. Oder einen Kriterienkatalog machen und den Schüler*innen ein ausführliches Feedback geben.

Ihr bietet sogenannte Lernreisen an, wo ihr Modellschulen, »gute Schulen«, besucht. Was zeichnet die aus?

Sonja: Mich begeistern Schulen, die offen nach innen und außen sind, die Lust haben auf Feedback. Wo die Lehrkräfte mit den Kindern auf Augenhöhe sprechen. Wo im Kollegium eine kooperative Atmosphäre herrscht und kein Einzelkämpfertum. Solche Schulen können sich viel schneller an gesellschaftliche Herausforderungen anpassen.

Elisa: Ich finde es wahnsinnig sinnvoll, jahrgangs- und fächerübergreifend zu lernen. Es gibt unheimlich viele Querschnittsaufgaben von Schule, die hinten runterfallen, weil die Lehrkräfte nicht dafür ausgebildet sind, zum Beispiel die Bildung für nachhaltige Entwicklung oder auch Demokratiebildung.

Sonja: Wenn es wirkliche Partizipation an Schulen gibt, dann spürt man das sofort. Ob dem echten Interesse der Schüler*innen nachgegangen wird, ob sie eigene Stärken entdecken können. Man merkt es auch an der Bereitschaft der Lehrkräfte, ihre Rolle über den Haufen zu werfen.

Elisa: Ja, wenn Schulen innovativ und inklusiv arbeiten, verändert sich die Rolle der Lehrkräfte: weg von der Lehrperson, die unterrichtet, hin zur Lernbegleitung, die sich mehr oder weniger zurücknimmt, damit das Kind den Lernprozess gestalten kann.

Also sind die »innovativen Schulen« unsere Hoffnung?

Sonja: Wir kennen sehr viele Schulen, die Neues ausprobieren und die Spielräume des Schulgesetzes kreativ nutzen. Ich glaube, dass sich das Schulsystem nur ändern kann, wenn solche Innovationen aus der Grauzone herauskommen und in der Breite verankert sind.

Es gibt inzwischen zunehmend Wettbewerb zwischen Schulen. Wie vermeidet man, dass es einige strahlende Leuchttürme gibt und gewöhnliche Schulen hinten runterfallen?

Sonja: Damit hadere ich auch immer wieder. Gute Bildung kann aber nicht die Antwort auf alles sein. In einer total segregierten Stadt kann ich als Schule in einem einzelnen Stadtteil keine diverse Schüler*innenschaft abbilden. Das können wir nicht einfach an die Schulen abgeben. Es braucht klare Regelungen, die es unmöglich machen, dass sich einzelne Schulen der sozialen Verantwortung entziehen und nur auf Elitebildung setzen. Aber da kommt man zu einem Punkt, den in Deutschland nur wenige Leute hören wollen: das Aufbrechen des dreigliedrigen Schulsystems.

Ihr wollt auch Themen wie Klimakrise oder Antirassismus in der Schule behandeln. 
Hört ihr oft den Vorwurf, als Lehrer*in gegen das Neutralitätsgebot zu verstoßen? Erlebt ihr Angriffe von rechts?

Elisa: Wir erleben solche Konflikte kaum, aber wir bewegen uns auch vor allem unter kritischen Studierenden. Ich selbst habe eine klare Haltung: Gleichberechtigung, Vielfalt, Teilhabe für alle – das ist keine persönliche Meinung, sondern mein gesellschaftlicher Auftrag, der in der UN-Menschenrechtskonvention und Behindertenrechtskonvention festgelegt ist. Als Lehrkraft muss ich bei menschenfeindlichen Positionen einschreiten.

Sonja: Interessanterweise wurde in meinem Lehramtsstudium nie über solche Fragen diskutiert. Der Beutelsbacher Konsens, also der Anspruch, kontroverse Positionen abzubilden, das wird nur in der Politikdidaktik diskutiert. In meinem Studium war das kein Thema. Entsprechend erlebe ich bei Lehrer*innen große Unsicherheit, wie sie mit antidemokratischen Äußerungen von Schüler*innen umgehen sollen. Die schauen dann hilfesuchend zur Praktikantin. Hier ist eine Lücke, wo man schon in der Ausbildung, aber auch später gegensteuern muss: durch kollegiale Fallberatung, durch Fortbildungen und Anti-Diskriminierungs-Trainings.

Elisa: Es darf aber nicht allein an den Lehrer*innen hängen. Es braucht auch an den Schulen diese Angebote und Strukturen.

Das Gespräch führte Hannah Schurian.