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Krise des Konservatismus

Von Vincent Streichhahn

Warum die Niederlage der Union bei der Bundestagswahl den rechten Flügel der Partei stärken und künftig zu Koalitionen mit der AfD in Ostdeutschland führen wird.

In diesen Tagen ist es leicht, sich über Armin Laschet (CDU) lustig zu machen. Dieser, in wenigen Monaten zum bundesrepublikanischen Clown avancierte Rheinländer, droht als Bundestagskandidat der Union krachend zu scheitern. Damit steht nicht nur seine eigene politische Karriere vor dem Ende, sondern der Status der Union als Volkspartei auf dem Spiel. Sollte die Union das Kanzleramt nach 16 Jahren wirklich räumen und auf der Oppositionsbank Platz nehmen müssen, steht ihr ein innerparteilicher Machtkampf bevor, der das Gesicht der Partei nachhaltig verändern wird. Welch explosive Mischung bei den Konservativen brodelt, haben die Auseinandersetzungen in den letzten Jahren bereits angedeutet. Fest steht, es wird kein „Weiter so“ geben. Wer sich in der Partei durchsetzen wird, ist nicht ausgemacht. Einiges spricht jedoch dafür, dass von dieser historischen Krise des Konservatismus vor allem der rechte Parteiflügel profitieren wird. So könnte die etwaige Wahlniederlage der Union zu einem Rechtsruck der Partei und Bündnissen mit der AfD führen.

Hegemoniekrise der Union

Der Union ist es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte gelungen, verschiedene Klasseninteressen und politische Traditionen erfolgreich zu integrieren. Sie war bislang der Inbegriff einer klassen- und milieuübergreifenden Volkspartei. Dieser hegemoniale Zustand bekam mit der globalen Finanzkrise von 2008 Risse. Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte sie mit 33,8 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949. Im Zuge der Eurokrise und der europäischen Bankenrettung bangten Teile des Bürgertums um ihr Geld und strebten nach nationalen Lösungen. Das war die Ausgangslage für das globale Erstarken des autoritären Populismus (Stuart Hall), welcher darauf zielt, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach rechts zu verschieben.  Nachdem bereits einzelne Unionsabgeordnete in der Finanzkrise gegen die eigene Parteilinie beim Euro-Rettungsschirm gestimmt hatten, spaltete sich bei der Gründung der AfD ein Teil des politisch unzufriedenen bürgerlichen Machtblocks von diesem ab. In der Folgezeit entwickelte sich die AfD in rasanter Geschwindigkeit von einer „euroskeptischen“ zu einer stramm rechten Partei.

Für die Union wurde diese Entwicklung zu einem ernsthaften Problem. Zwischen 2013 und 2017 verlor sie jeweils 1,6 Millionen Stimmen an die FDP und Nicht-Wähler*innen sowie eine Million Wähler*innen an die AfD, die das gesamte politische Klima nach rechts rückte. Unterstützt wurde sie dabei von einer rassistischen Massenbewegung von Pegida und Co. als Reaktion auf die Migrationsbewegungen 2015. In den Reihen der Konservativen gab es einige führende Politiker wie Horst Seehofer (CSU), deren Strategie darauf zielte, das Ausfransen der Partei am rechtskonservativen Rand durch einen Rechtsschwenk zu verhindern. Doch dieser Kurs war parteiintern umstritten. Vor allem das „Merkellager“ stemmte sich dagegen und plädierte für eine Abgrenzung von der AfD. Nachdem die CSU bei der Landtagswahl 2018 starke Verluste einfahren musste, konstatierte Markus Söder (CSU): „Wir haben festgestellt, dass man in der Mitte mehr verliert, als man rechts zu gewinnen hofft.“ In der Folge gab er sich als Bollwerk gegen rechts. Perfider kann ein strategischer Opportunismus nicht zu Tage treten.

Das Chaos in der Union ging da jedoch erst richtig los. Angela Merkel (CDU), die von internen Kritiker*innen für die schlechten Ergebnisse verantwortlich gemacht wurde, zog nach dem desaströsen Wahlergebnis bei der Landtagswahl in Hessen Ende Oktober 2018 die Reißleine. Sie verzichtete auf den Parteivorsitz und kündigte ihren Rückzug aus der Politik an. Der Machtkampf brach nun offen aus. Zwar konnte sich Annegret Kramp-Karrenbauer im Dezember 2018 knapp im zweiten Wahlgang um den Posten der CDU-Parteivorsitzenden gegen Friedrich Merz durchsetzen, aber trat angesichts eines fehlenden Rückhalts in der Partei nach dem Erfurter Sündenfall im Februar 2020 von ihrem Amt zurück. Die Thüringer CDU-Fraktion gab hier einen Vorgeschmack darauf, was die Partei in Zukunft erwarten könnte: Bündnisse mit der AfD. Es war allein dem öffentlichen Druck zu verdanken, dass Thomas Kemmerich (FDP) nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten durch Stimmen der CDU und AfD nach kurzer Zeit zurücktrat.

Danach verhinderte der Beginn der Corona-Krise eine schnelle Einigung in der Frage der Parteiführung und so trieb die Union relativ führungslos durch die Pandemie. Stattdessen machte sie durch Korruptionsaffären und Maskendeals auf sich aufmerksam. Wie explosiv die parteiinterne Lage ist, demonstrierte die Wahl Armin Laschets zum Parteivorsitzenden im Januar 2021 – erneut im zweiten Wahlgang gegen Friedrich Merz – und dessen Kür zum Spitzenkandidaten drei Monate später. Es war nicht nur die Parteibasis, sondern mehrere Landesverbände, die Markus Söder als Kanzlerkandidaten bevorzugten. Die Parteiführung drückte Laschet am Ende durch und verärgerte damit weite Teile der Partei, die Laschet überwiegend nicht zutrauen, die Partei nach dem Abgang von Merkel zu führen. Das größte Problem: Die Wähler*innen haben daran auch grundlegende Zweifel. Laschet ist der unpopulärste Kanzlerkandidat, den die Union je hatte. Dessen Unbeliebtheit hat sich inzwischen zu einem Running Gag entwickelt und eine Dynamik entfaltet, die kaum noch aufzuhalten ist. Allerdings wäre es verkürzt, die Schuld für die schlechtesten je gemessenen Umfragewerte der Union allein ihrem Spitzenkandidaten zuzuschieben. Wie die Ausführungen bis hierher gezeigt haben, verbirgt sich hinter dem Umfragetief keine einfache Laune des Wahlvolks, sondern eine historische Hegemoniekrise des Konservatismus.

Die alte Welt liegt im Sterben

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren“, schreibt Antonio Gramsci. Und in der Tat befinden wir uns gegenwärtig in einem Interregnum, einer Phase, in der das Künftige noch nicht entschieden ist. Die Welt steht buchstäblich in Flammen. Rekordhitze, Waldbrände, Sturmfluten. Niemand kann den Klimawandel mehr ernsthaft wegdiskutieren oder herunterspielen. Darüber hinaus demonstrierte die Corona-Pandemie, wie marode unsere Infrastruktur im digitalen, Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrsbereich ist. Jahrzehnte des neoliberalen Spardogmas haben ihre Spuren und eine sozial ungerechte Gesellschaft hinterlassen.

Das weiß eine Mehrheit der Menschen. Sie wissen, dass sich etwas verändern muss. Dazu passt, dass eine Mehrheit der Befragten aktuell soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz als wahlentscheidende Themen benennt. Gleichzeitig gibt es das dringende Bedürfnis nach Orientierung. Lange Zeit erfüllte der Konservatismus im Allgemeinen und Angela Merkel im Besonderen diese Funktion, wovon ihre hohen Beliebtheitswerte über Parteigrenzen hinweg zeugen. Der Glaube daran, dass die Union als Garant für Stabilität und Orientierung in einem notwendigen gesellschaftlichen Wandel dienen kann, ist in der Zwischenzeit verloren gegangen. Die Union verliert damit ihre wichtigste Währung. In den Umfragen wird ihr kaum Kompetenz im Bereich Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zugesprochen. Personell kann sie dieses Defizit nicht ausgleichen. Im Gegenteil: Jenes wird durch die fehlende Popularität von Laschet noch verstärkt. Solange Olaf Scholz bis zum Wahltag vor laufenden Fernsehkameras keinen Mitmenschen beißt und die sozialistische Republik ausruft, wird die so oft totgesagte Sozialdemokratie das Rennen gewinnen.

Die Union weiß das. In ihren Reihen herrscht die nackte Panik. Die CDU ist dabei ihren Status als Volkspartei zu verlieren. Wie andere Beispiele konservativer Parteien in Europa zeigen, könnte sie sich von dieser Wahlniederlage eventuell nie mehr ganz erholen. Wahlergebnisse von über 35 Prozent wären damit Geschichte. Nach aktuellen Umfragen könnte die Union bei der Bundestagswahl über 100 Mandate verlieren. Diese Entwicklung schlägt sich auch auf Länderebene nieder. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wird zeitgleich gewählt. Die CDU sackt ab, die SPD profitiert. Das sind keine einzelnen Brandherde, sondern es handelt sich um einen politischen Flächenbrand, von dem auch die CSU erfasst wird. In den ersten Umfragen liegt die CSU bei unter 30 Prozent. Einige Wahlkreise wird sie voraussichtlich nicht verteidigen können. Für das bayrische Selbstbewusstsein ist das kein Kratzer, sondern eine veritable Existenzkrise.

Auf diese scheinbar aussichtslose Lage reagiert die Union in den letzten Wochen des Wahlkampfs mit einem verzweifelten und immer hysterischeren Recycling der Rote-Socken-Kampagne aus den 1990er Jahren. Nun verfängt es kaum, Olaf Scholz als Signum des lauernden Kommunismus zu brandmarken. Rot-Rot-Grün hat in der Bevölkerung den Schrecken einstiger Tage verloren. Außerdem verfügt die SPD über genügend andere Machtoptionen nach der Wahl. Mehr als den harten Kern der Union-Stammwähler*innenschaft mobilisiert man mit dieser Strategie wahrlich nicht an die Wahlurne. Der aktuelle Wahlkampf hat dadurch etwas von einem Unfall, den alle kommen sehen, der aber nicht mehr aufzuhalten ist.

Nach dem Aufprall wird es dreckig. Wenn die Wahl gelaufen ist und Armin Laschet noch am Wahlabend im Konrad-Adenauer-Haus das Ende seiner politischen Karriere verkündet, wird eine Phase des parteiinternen Kannibalismus einsetzen, die die bisherigen Auseinandersetzungen in der Union in den Schatten stellt. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Schmutzkampagnen werden die Suche nach einem neuen Parteivorsitzenden begleiten. Die Union ist innerlich zerrissen. Der an Einfluss gewinnender rechtskonservativer Flügel, verkörpert durch die Werteunion, übt seit geraumer Zeit scharfe Kritik am Kurs von Merkel. Diejenigen in der Parteiführung, die Laschet gegen den breiten Willen der Partei durchgesetzt haben, werden abgestraft und das Verlangen nach einem endgültigen Bruch mit dem Merkel-Kurs umso lauter.

Das obige Zitat von Antonio Gramsci geht indes noch weiter: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Solch eine Konstellation könnte nach der Wahl dazu führen, dass der Politik-Zombie und ewige Zweite Friedrich Merz nach über 20 Jahren und vielen verlorenen Schlachten doch noch Parteivorsitzender wird. Nach der seit Jahren gärenden Entwicklung in der Partei ist das nicht unrealistisch. Diese Wahl käme einer Richtungsentscheidung gleich, mit der die Union weiter nach rechts rückt. Ohne Reibungsverluste würde solch eine Entscheidung gewiss nicht stattfinden. Sogar die Allianz mit der CSU, die in zwei Jahren eine Landtagswahl politisch überleben muss, steht auf dem Spiel. Angesichts schwindender Machtoptionen und starken AfD-Landtagsfraktionen im Osten rücken Koalitionen zwischen CDU und AfD in greifbare Nähe. Das rechtskonservative bis rechtsextreme Lager steht schon bereit.

Ostdeutschland: Rechte hören die Signale

„Hauptsache, die Sozialisten sind weg“, begrüßte der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen (CDU) den Erfurter Sündenfall. Mit dieser Aussage steht die Gallionsfigur der rechten Werteunion als Bindeglied zur AfD exemplarisch für einige ostdeutsche CDU-Verbände. Sollte unter einem Vorsitzenden Merz der Kurs ins rechte Milieu fortgesetzt werden, wären die bundesparteilichen Zähmungsversuche der traditionell rechter stehenden Landesverbände endgültig am Ende.

Es sind keine Außenseiter in der CDU, die sowohl in Thüringen als auch in Sachsen-Anhalt offen über mögliche Bündnisse mit der AfD nachgedacht haben. Nur wenige Beispiele: Schon im Sommer 2019 schwadronierten die beiden ehemaligen stellvertretenden CDU-Fraktionschefs im Landtag von Sachsen-Anhalt, Ulrich Thomas und Lars-Jörn Zimmer, offen darüber, das Nationale mit dem Sozialen zu versöhnen. Zimmer stellte sich wenige Tage nach der Wahl Kemmerichs vor Kameras und fand überhaupt nichts Schlimmes dabei, wenn sich die CDU in Zukunft von der AfD tolerieren ließe. Der stellvertretende thüringische CDU-Fraktionschef Michael Heym hatte schon vor der Landtagswahl in Thüringen eine Koalition mit AfD und FDP ins Spiel gebracht.

Das sind keine reinen Gedankenspiele, sondern es existieren Verbindungen zwischen dem rechtskonservativen Flügel der CDU hinein ins national-völkische bis neofaschistische Lager. Karl-Eckhard Hahn, Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes der thüringischen CDU und Vertrauter vom CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring, spielte wenige Tage vor der Thüringen Wahl in der Zeitschrift „The European“ das Szenario durch, einen Ministerpräsidenten durch Stimmen der AfD zu wählen. Seine Parteifreunde im Landtag exerzierten den Plan schließlich durch. Hahn ist Mitglied der „Deutschen Gildenschaft“, einer völkisch-nationalistischen Student*innenverbindung, die als Netzwerk der Neuen Rechten dient. Mitglieder sind auch Karlheinz Weißmann und Dieter Stein, beide bei der Jungen Freiheit und wichtige Größen in der Neuformierung der Rechten. Man kennt sich.

So könnte sich gerade Thüringen aufgrund des rot-rot-grünen Feinbildes und der allgemeinen Krise der Union als Türöffner für Koalitionen mit der AfD erweisen. Der Wille zur Macht wird sich dort seitens der (Rechts-)Konservativen nicht anders realisieren lassen. Was der Druck der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft zuletzt noch verhinderte, könnte beim nächsten Mal Realität werden. Und was werden die Steigbügelhalter der Faschist*innen danach alles für Märchen erzählen: Die linke Willkürherrschaft habe endlich ein Ende, man könne den demokratischen Mehrheitswillen nicht länger ignorieren und überhaupt wolle man die AfD durch eine Regierungsbeteiligung doch nur zähmen. Doch ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, was sollte die CDU-Landesverbände in Sachsen und Sachsen-Anhalt künftig daran hindern, sich ebenfalls mit schwarz-blauen Koalitionen rechtskonservative Mehrheiten zu organisieren, von denen man schon länger träumt?