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Klöster oder Mobilmachung? Seattle und die Bewegungsfrage


von Ian Greer

Während selbstverständlich Verbündete nicht immer einer Meinung sind, zeigt die Geschichte von Seattle, dass Koalitionen zwischen Leuten, die auf jede Weise anders gesinnt sind, sich dennoch als sehr produktiv erweisen können. Diese neuen Konzepte, die soziale und ökologische Ziele miteinander verbinden, können sich jedoch nicht getrennt von der wirklichen Politik entwickeln.

Am 30. November 1999 füllten gut 50000 Protestierende die Straßen der Innenstadt von Seattle, um gegen das WTO-Treffen zu protestieren. Mindestens die Hälfte von ihnen waren Gewerkschafter aus westlichen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten und Kanada, die gegen Freihandel und damit verbundene Bedrohung von Arbeitsplätzen und den Abbau von Rechten der Beschäftigten protestierten. Ebenso protestierten Vertreter hunderter NGOs aus aller Welt, tausende lokale Umweltaktivisten, Feministinnen, Anarchisten, Sozialisten, Studierende, Akademiker und Aktivisten verschiedener ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. „Seattle’ wurde zur Ikone. Es inspirierte mehrere große Demonstrationen gegen die konzerngetriebene Globalisierung der Welt.

Zehn Jahre danach fragt Bifo Berardi nach den Auswirkungen von „Seattle“. Neoliberale Politik habe jedes einzelne Element von Produktion, Kommunikation, Sprache und Zuneigung privatisiert. Konkurrenzkampf habe Solidarität abgelöst.

Bifo schlägt neue Klöster vor, aus denen ein „neues Paradigma“ hervorgehen könne, das auf „Genügsamkeit, kultur-intensiver Produktion, Solidarität, der Wertschätzung von Faulheit und Zurückweisung von Konkurrenz“ basiere. Bewohner dieser hybriden Hippie-Kommune und Altenheime würden dort die Tugenden und Kräfte für eine Befreiung entwickeln, während die übrigen sich in einer mörderischen und chaotischen Welt durchwurstelten.

Es mag wahr sein, dass Proteste nicht den Krieg in Irak und Afghanistan haben stoppen oder den Kapitalismus beenden können; aber heißt dies umgekehrt, dass alles auf einen militanten diktatorischen Staat hinausläuft, in dem Aktivismus nur noch Zeitverschwendung ist? Bezweifelt Europas linke Intelligenz wirklich, dass Solidarität und staatseigene Betriebe existieren? Wie sollte sich eine kritische Gesellschaftsanalyse getrennt von Politik, Gewerkschaften und anderen Teilen der Zivilgesellschaft entwickeln?

In der realen Welt ist es für Intellektuelle nicht ungewöhnlich, mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten. Eine Umfrage unter 425 Gewerkschaftern zeigte, die ich mit Lowell Turner durchführte, zeigte, dass 27 Prozent in den USA und 33 Prozent in Deutschland mit akademischen Forschern kooperierten. Die Themen erstreckten sich von Bemühungen, Arbeitsplätze zu erhalten bis zu Gewerkschafts-Organizing und Kampagnen um Löhne, von denen man leben kann. In vielen dieser Arbeitsfelder sind die Aktivisten von 1999 involviert. Das spricht dafür, dass wir alles andere als „verloren“ sind.

Es ist auch nicht schwierig, Beispiele für gesellschaftliche Bündnisse zu finden, die Ungerechtigkeit bekämpfen. Anhand von Seattle kann dieser Prozess gut studiert werden. Viel Vorbereitungsarbeiten für die Proteste gingen von den Mitarbeitern der lokalen und nationalen Gewerkschaftsbündnisse und der AFL-CIO auf lokaler und nationaler Ebene aus. Das spiegelt eine Verschiebung in der lokalen Gewerkschaftsszene wider, weg von marktorientierten Business-Gewerkschaften. Mit Hilfe des Union Cities Programme der bundesweiten AFL-CIOs brachte eine neue Führungsgruppe das Gewerkschaftswesen ins 21. Jahrhundert – durch eine Kombination aus breitem sozialen Aktivismus und dem Organisieren der Unorganisierten. Ihre Arbeit mit anderen Aktivisten an den WTO-Protesten führte so zu einem Prozess der Verbesserung von bis dahin zum Teil vergifteten Beziehungen.

Wie veränderte sich „Seattle“ in den 1990er Jahren? Gewerkschaften begannen, neue Formen des Protests einschließlich des zivilen Ungehorsams aufzunehmen, Bewusstsein für verschiedenste politische Probleme zu entwickeln und Streiks und politische Kampagnen zu unterstützen. Zusammen mit lokalen Vertretern von Religionsgemeinschaften schufen sie „Jobs with Justice“ und gewannen so lokale Unterstützung über die Gewerkschaftsbewegung hinaus. Mitgliedszahlen in lokalen Gewerkschaften nahmen seit den 1990er Jahren zu, zum Teil auf Grund von Organizing in etablierten Sektoren wie dem Gesundheitsbereich, Baugewerbe und Öffentlichen Dienst, zum Teil wegen neu geschaffenenlokaler Gewerkschaften für prekär beschäftigte Hauskrankenpflege, für Forschungsassistenten an Universitäten oder High-Tech-Beschäftigte. Begleitet war dieser Prozess von einer Verbesserung des Verhältnisses zu anderen Teilen der Zivilgesellschaft zum.

Etwa im Bereich der beruflichen Chancengleichheit: Seit den 1970er Jahren haben Aktivisten aus Seattles nichtweißen Communities gekämpft, damit die Bau-Gewerkschaften Diskriminierungen in Ausbildung und Einstellungsverfahren beenden sollten. Eine Startbahn wurde blockiert, Bauausrüstung zerstört und eine Klage geführt und gewonnen. Der geschlossene Vergleich war die finanzielle Basis zur Gründung der Bürgerrechtsorganisation LELO.

In den 1990er Jahren entschieden sich die Gewerkschaften, Rassismus direkt zu bekämpfen. Zusammen mit der LELO unterstützten sie neue Richtlinien zur Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten. Diese Maßnahmen stellten unter anderem praktische Mentoring-Unterstützung im Umgang mit der weiß-männlich beherrschten Kultur auf Baustellen zur Verfügung; zusätzliche Vorbereitungskurse für potenzielle Lehrlinge wurden geschaffen; es gab Hilfe bei der Anfahrt zur Arbeit wie auch unabhängige Mentoringprogramme, mit denen die Implentierung der Maßnahmen überwacht wurde.

Auch die Beziehungen zu Umweltaktivisten haben sich verbessert. Während es lang anhaltende Konflikte zwischen Industriebelegschaft („blue-collar-employment“ ) und grünen Aktivisten gab – meist ging es um Abholzung und Bebauung – weisen einige lokale Praxen über diese „Blau-Grün“ -Trennung hinaus. Das Ergebnis waren gemeinsame Kampagnen von Gewerkschaften und Umweltaktivisten gegen „Schurken-Firmen“, die WTO-Proteste („Teamsters and Turtles Together at Last“ ), die Verteidigung von Industrieimmobilien gegen Spekulanten und Forderungen nach massiven Staatsinvestitionen in „Grüne Jobs“ (vgl. Apollo Alliance oder Sound Alliance). Gewerkschaftlich organisierte Jobs in Sanierungsgebieten wurden geschaffen. Diese Initiative schuf Ausbildungsplätze für junge Leute aus den ärmsten Vierteln Seattles und half so, die Unorganisierten zu organisieren.

Nach dem Zusammenbruch der Regierungen des „Dritten Weges“ wie in Großbritannien und Deutschland, könnten solche Kooperationen linken Intellektuellen als Basis dienen, um eine intellektuelle Agenda in Europa auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zu entwickeln. Während selbstverständlich Verbündete nicht immer einer Meinung sind, zeigt die Geschichte von Seattle, dass Koalitionen zwischen Leuten, die auf jede Weise anders gesinnt sind, sich dennoch als sehr produktiv erweisen können. Diese neuen Konzepte, die soziale und ökologische Ziele miteinander verbinden, können sich jedoch nicht getrennt von der wirklichen Politik entwickeln. Die Ereignisse vor zehn Jahren zeigen, dass solch unwahrscheinliche Bündnisse globale Resonanz erzielen können.

Aus dem Amerikanischen von Harry Adler