| Klimarettung heißt Klassenkampf

Januar 2020  Druckansicht
Von Anej Korsika

97 Prozent aller Klimawissenschaftler*innen sind sich einig, dass »die zu beobachtende Klimaerwärmung im vergangenen Jahrhundert mit größter Wahrscheinlichkeit menschengemacht ist«. Diese Zahl ist dem von John Cook et al. 2016 veröffentlichten Artikel »Überwältigender Konsens: eine Synthese der Konsensraten bezüglich der These menschengemachter Klimaerwärmung« entnommen. Während die Occupy-Bewegung den Scheinwerfer auf die »1 Prozent« richtete, sieht sich die Klimabewegung nun mit einer anderen Zahl, den »3 Prozent«, konfrontiert. Die 3 ist die neue 1. Aber letztendlich unterscheiden sie sich kaum, stehen doch die 3 Prozent für den Versuch, der politischen Ökonomie der 1 Prozent ein wissenschaftliches Alibi zu verleihen. Einmal mehr: Der Kapitalismus verkauft dir noch den Strick, an dem er hängen wird. Die Art, wie der Kapitalismus mit der Tagesordnung weitermacht, ist dem Galgenmännchen-Spiel, das Kinder so gerne spielen, tatsächlich erschreckend ähnlich – und die Buchstaben neigen sich dem Ende zu. Ceteris paribus, so steht es in den Wirtschaftslehrbüchern, unter sonst gleichen Bedingungen sehen wir dem Aussterben der menschlichen Spezies entgegen. Da ist es ein geringer Trost, dass die Menschheit immerhin «nur» die Bedingungen für ihr eigenes Überleben zerstören kann. Denn die Tatsache, dass es kein menschliches Leben mehr geben wird, bedeutet nicht, dass alles Leben von der Erde verschwinden wird. Vielleicht waren Bärtierchen schon immer besser geeignet, über den Planeten zu herrschen.

Die Fähigkeit des Menschen, eine Antwort auf diese Krise zu finden, wird ein Test sein, ob es auf der Erde tatsächlich intelligentes Leben gibt. Das mag eine angemessene Bewertung der Herausforderung sein, der wir gegenüberstehen (beziehungsweise die wir ignorieren), ist aber strategisch gesehen eine Falle. Dieser Falle sind progressive Bewegungen seit dem Scheitern des Aufklärungsprojekts immer wieder zum Opfer gefallen. Gemeint ist die Vorstellung, eine rationale Praxis sei durch eine rationale Theorie zu erreichen, mit der Methode der Argumentation als vermittelnder Instanz. Wenn das so wäre, hätte der überwältigende Konsens in der Wissenschaft schon zu den notwendigen politischen Handlungen geführt. Die Bedürfnisse und die Rationalität der Vielen hätten sich gegenüber den Privilegien und der Irrationalität der Wenigen durchgesetzt. Dem ist aber nicht so. Diesen fundamentalen Widerspruch gilt es in seinem vollen Ausmaß zu verstehen, wenn wir ihn überwinden wollen.

Trittbrettfahrer auf der Mission Menschheitsrettung

Wichtiger als die vereinfachende Gegenüberstellung vernunftgeleitete Wissenschaft/Bevölkerung vs. Kapitalismus/Eliten ist ein Blick auf die gesellschaftliche Realität, in der sich die genannten Widersprüche abspielen. Die Einsicht, dass es sich beim Kapitalismus um eine historisch bestimmte Produktionsweise handelt, ist nichts Neues. Dennoch wird diese Tatsache oft nicht – oder nur am Rande – erwähnt, wenn es um die gesellschaftliche Wirklichkeit geht. Diese Auslassung durchzieht weite Teile des öffentlichen Diskurses und führt zu einer Situation, in der sich die gesellschaftliche Wirklichkeit als neutral und ahistorisch darstellt. Statt konkreter Analysen der konkreten Gegebenheiten des Kapitalismus erhalten wir abstrakte Analysen der abstrakten Gegebenheiten der Menschheit. Letztere ist nichts weiter als ein leerer Signifikant, den sich jede*r nach Gutdünken zurechtbiegen kann. Der Kapitalismus kann also problemlos zum Trittbrettfahrer auf der Mission Menschheitsrettung werden, insbesondere dann, wenn die Rettung einen Tauschwert hat. Der Kapitalismus springt aber sicher nicht auf die Mission Menschheit vor dem Kapitalismus retten auf.

Das alles ist nicht bloß theoretische Haarspalterei, denn auf diese Weise bleibt das strategische Potenzial der Bewegung verdeckt. Bei Diskussionen zu Klimawandel und Menschheit erscheint es oft so, als litten wir alle an einer lähmenden Unvernunft. So bedauerlich unsere Dummheit sein mag, so sei sie doch eine Last, die wir, als Menschheit, gemeinsam schultern müssten. Dahinter steckt die Annahme, wir alle seien gleich und damit gleichermaßen verantwortlich. Dem entgegengesetzt steht der schon erwähnte Zusammenhang zwischen den 3 Prozent und den 1 Prozent der globalen Finanzkrise: Wenn wir alle im selben Boot sitzen, ist das Boot ein Schiff, und zwar ein Schiff, das ähnlich der Titanic zutiefst gesellschaftlich stratifiziert ist. Während auf dem Oberdeck Luxus und Frivolität herrschen, sind die unteren 99 Prozent weggesperrt. Nun ja, wenigstens schmelzen bald die Eisberge, die unserer metaphorischen Titanic im Weg stehen könnten.

Das Gefühl, im Schiffsbauch zu stecken, macht sich schon dann bemerkbar, wenn wir versuchen, auch nur die klassischen vom Liberalismus garantierten Rechte wahrzunehmen, beispielsweise die der Redefreiheit oder der Vereinigungsfreiheit am Arbeitsplatz. Wie viele Chefs gibt es, die offene Kritik tolerieren oder gewerkschaftlicher Organisation positiv gegenüberstehen? Eben. Erfolgreiche kapitalistische ideologische Staatsapparate lassen uns glauben, wir seien die Verantwortlichen und halten gleichzeitig den Status Quo aufrecht, indem sie uns die Mittel entziehen, wirkliche Veränderungen vorzunehmen – wenn nötig mithilfe repressiver Apparate. Mit Gaslighting und dem Wecken von Schuldgefühlen schafft der Kapitalismus eine Gefühlslage individueller Verantwortung und Schuld. Dass diese Strategie wirksam ist, beweist die endemische Verbreitung von Angststörungen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Auch diese werden als Symptome der Moderne abgeschrieben. Psychische Leiden, ökonomische Ausbeutung und die Umweltkrise mögen anerkannt sein; die Bedingungen, die sie verursachen, aber nicht.

Für die arbeitenden Massen – die überwältigende Mehrheit der Menschheit, die sich zu Tode arbeitet, um zu überleben – sind Bücher immer noch eine Waffe, ist Bildung immer noch ein Mittel zur Emanzipation. Um wirksam zu sein, muss eine Selbstermächtigung durch Bildung jedoch immer die zugrunde liegenden sozioökonomischen Bedingungen, also den Kapitalismus, mitdenken. Um Horkheimer zu paraphrasieren, wer nicht vom Kapitalismus reden will, sollte auch vom Klimawandel schweigen. Das heißt ganz einfach, dass Umweltaktivismus per definitionem antikapitalistisch agieren muss. Jede andere Position ist nutzlos, bestenfalls naiv, schlimmstenfalls eine zynische Verkaufsstrategie. Es macht keinen Sinn, auf die Aufklärung der Eliten zu setzen, wissen sie doch – schon seit langem – ganz genau, was sie tun. Was wollte man damit erreichen? Wie Lucy Parsons es prägnant formuliert hat: Glaub ja nicht, dass dir die Reichen erlauben werden, ihren Reichtum abzuwählen.

Wir sind nicht Teil einer abstrakten, vereinigten Menschheit, die sich einfach kollektiv besinnen müsste. Nein, wir leben in einem äußerst konkreten kapitalistischen System, in dem entgegengesetzte Klassen entgegengesetzte Interessen verfolgen. Es gibt diejenigen, die nichts zu verlieren haben, als ihre Lebensumstände und diejenigen, deren Aktien an Wert verlieren könnten. Es ist klar, dass hier kein gemeinsamer Nenner ist. Die Klimabewegung sollte sich als Klassenbewegung verstehen. Nur als Klassenbewegung kann sie für die Elite eine Gefahr darstellen.

Aus dem Englischen von Lisa Jeschke & Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective