| Klassenverhältnisse nach einem Jahr Pandemie

Mai 2021  Druckansicht
Von Thomas Sablowski

Die Coronakrise trifft die Arbeiter*innenklasse am härtesten und verstärkt räumliche wie soziale Spaltungen.

Die bisher vorliegenden statistischen Daten zeigen schon jetzt sehr deutlich, dass sich die soziale Ungleichheit im Zuge der Coronakrise weiter verschärft. Einen detaillierten Blick auf die Krisenentwicklung und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Vermögen und Einkommen zu werfen, ist unerlässlich für die Entwicklung linker Strategien. Auch wenn härtere Verteilungskämpfe erst nach der Bundestagswahl mit der dann zu verhandelnden Staatsverschuldung zu erwarten sind, ist heute schon absehbar, wer zum Verlierer und wer zum Gewinner diese Krise werden wird. Nur wenn wir die Verschiebungen und Kontinuitäten in den KLassenverhältnissen in Deutschland in der Pandemie verstehen, kommen mögliche Ansätze für linke Politik, für Intervention und Organisierung in den Blick.

Die tiefste Krise der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in Deutschland im vergangenen Jahr um 4,9 Prozent eingebrochen, also fast ebenso stark wie während der großen Rezession infolge der globalen Finanzkrise – im Jahr 2009 betrug der Rückgang 5,7 Prozent.[ref]Die Zahlenangaben in diesem Text beruhen, wenn nicht anders angegeben, auf den Daten des Statistischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit; die Zahlen für einzelne Unternehmen beruhen auf deren Angaben und Geschäftsberichten.[/ref] Damit ist die deutsche Wirtschaft von der Coronakrise stärker betroffen als Länder wie China, Südkorea oder Australien, die die Pandemie erfolgreicher eingedämmt haben, aber auch stärker als die USA, wo die Trump-Administration eine ignorante, sozialdarwinistische Politik betrieb. Im Vergleich zu Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien ist Deutschland bisher allerdings noch glimpflich davongekommen – dort liegt der Rückgang des BIP nach den jüngsten Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zwischen 9 und 11 Prozent. Die Coronakrise verstärkt demnach zwei Entwicklungstendenzen, die schon länger zu beobachten sind: Erstens verliert die Europäische Union in der Weltmarktkonkurrenz vor allem gegenüber dem asiatisch-pazifischen Raum, in geringerem Maße gegenüber Nordamerika an Gewicht. Zweitens verschärfen sich die Ungleichgewichte in der EU: Das Übergewicht Deutschlands nimmt zu, während die anderen großen EU-Staaten an Gewicht verlieren.

Es ist aber nicht nur der Einbruch der wichtigen Märkte bei den europäischen Nachbarn, der der deutschen Exportwirtschaft noch länger zu schaffen machen wird. Das globale Sozialprodukt ist nach Schätzungen des IWF 2020 um 3,5 Prozent geschrumpft, also erheblich stärker als in der letzten großen Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir sind mit dem tiefsten Einbruch der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Die starke Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft erweist sich hier einmal mehr als Achillesferse. Nahezu die Hälfte der deutschen Produktion wird exportiert – das ist weitaus mehr als in anderen großen Industriestaaten. In Frankreich, Italien oder Großbritannien liegen die Exportquoten um die 30 Prozent. Die deutschen Exporte sind im vergangenen Jahr um 9,4 Prozent eingebrochen, also fast doppelt so stark wie das BIP insgesamt.

Aber auch der private Konsum hat durch den Rückgang der Einkommen infolge der steigenden Erwerbslosigkeit und zunehmenden Kurzarbeit sowie durch den wiederholten Lockdown und die staatlich erzwungene Einschränkung der Konsummöglichkeiten stark gelitten. So gingen die Konsumausgaben der privaten Haushalte um 6,1 Prozent zurück. Am stärksten war freilich auch in dieser Krise der Rückgang der Investitionen der Unternehmen. Die Ausrüstungsinvestitionen sanken um 12,1 Prozent. Das Kapital ist bekanntlich ein scheues Reh! Der Staat hat zwar durch Kreditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau, durch zahlreiche Steuererleichterungen und durch das ›Konjunkturpaket‹ versucht, hier gegenzusteuern, konnte aber den Rückgang der effektiven Nachfrage nur teilweise auffangen. Die Konsumausgaben des Staates stiegen um 3,3 Prozent; ihr Anteil am BIP stieg damit von 20,3 auf 22 Prozent.

Der Arbeitsmarkt

Die Zahl der gemeldeten Erwerbslosen lag im Januar 2021 nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei 2,9 Millionen und damit um fast 500 000 höher als im Januar 2020. Damit waren im Januar 2021 rund 6,3 Prozent aller Erwerbspersonen und 7 Prozent aller Lohnabhängigen erwerbslos. Ausländer*innen sind grundsätzlich wesentlich stärker von Erwerbslosigkeit betroffen als deutsche Staatsbürger*innen: Die Arbeitslosenquote bei Personen mit deutschem Pass stieg von 4,3 Prozent im Januar 2020 auf 5,1 Prozent im Januar 2021; bei in Deutschland lebenden Personen mit anderer Staatsbürgerschaft stieg sie im gleichen Zeitraum von 13,2 auf 15,1 Prozent. Relativ gesehen stieg der Anteil der Ausländer*innen an allen Erwerbslosen damit von 28,8 auf 29,3 Prozent. Frauen sind von dem jüngsten Anstieg der Erwerbslosigkeit stärker betroffen als Männer – der Frauenanteil an allen Erwerbslosen stieg von 42,8 auf 43,3 Prozent. Die Altersgruppen der Jüngeren (15 bis 25 Jahre) und der Älteren (55 Jahre und älter) sind leicht überproportional vom Anstieg der Erwerbslosigkeit betroffen. Die Zahl derjenigen, die Grundsicherung in Anspruch nehmen, stieg von Januar 2020 bis Januar 2021 um 161 400 auf 1,6 Millionen.

In Ostdeutschland erfolgte der Anstieg der Erwerbslosigkeit ausgehend von einem höheren Niveau; die Arbeitslosenquote stieg hier von 6,8 auf 7,9 Prozent. Auffällig sind die Unterschiede zwischen Ost und West insbesondere bei Erwerbslosen unter 25 Jahren: Während die Arbeitslosenquote in dieser Altersgruppe in Westdeutschland mit 4,8 Prozent unter der des Bevölkerungsdurchschnitts (6 Prozent) liegt, ist sie in Ostdeutschland mit 8,4 Prozent höher als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Die überdurchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit in Ostdeutschland entspricht der Problematik anderer europäischer Länder, während die unterdurchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit in Westdeutschland eher ungewöhnlich ist.

Rechnet man zur offiziellen Zahl der Erwerbslosen von 2,9 Millionen die Erwerbslosen im weiteren Sinne (d. h. ältere Erwerbslose und Teilnehmende diverser arbeitsmarktpolitischer ›Maßnahmen‹, die offiziell nicht als Erwerbslose zählen) hinzu, stieg die Zahl der ›Unterbeschäftigten‹ auf 3,7 Millionen. Hinzu kommen die Personen in Kurzarbeit: Im Dezember 2020 lag die Zahl der Kurzarbeiter*innen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei 2,39 Millionen, nach 2,01 Millionen im Oktober und 2,38 Millionen im November.[ref]Die Zahlen stehen leider nur mit einer mehrmonatigen Verzögerung zur Verfügung.[/ref] Bedingt durch den erneuten Lockdown im Zusammenhang mit der zweiten Welle der Pandemie stieg die Zahl der Kurzarbeiter*innen wieder an. Da Unternehmen jeweils das voraussichtliche Quantum an Kurzarbeit melden, sind diese Anzeigen ein Frühindikator für die Kurzarbeit. So wurde im Januar 2021 für 975.000 Beschäftigte zusätzlich Kurzarbeit angemeldet und vom 1. bis 24. Februar für 500.000 Beschäftigte. Nach den bisherigen Erfahrungen führen nicht alle Voranmeldungen von Kurzarbeit auch tatsächlich zu Kurzarbeit. So gab es für April 2020 während des ersten Lockdowns etwa 8 Millionen Voranmeldungen von Kurzarbeit, tatsächlich lag die Zahl der Kurzarbeiter*innen dann ›nur‹ bei 6 Millionen. Der gegenwärtige Einbruch der Beschäftigung ist nicht so stark wie während der ersten Welle der Pandemie, da es bisher nicht zu einem vergleichbaren Zusammenbruch von Lieferketten aus dem Ausland gekommen ist und da die politischen Maßnahmen weiterhin darauf ausgerichtet sind, die Arbeit in vielen Bereichen nicht anzutasten. Gleichwohl kann man auf der Basis der vorliegenden Zahlen davon ausgehen, dass gegenwärtig insgesamt mehr als 6 Millionen Menschen in Deutschland erwerbslos oder unterbeschäftigt sind. Hinzu kommt die sogenannte stille Reserve, also die Zahl jener, die gar nicht als Erwerbspersonen zählen, da sie nicht (mehr) aktiv nach Arbeit suchen. Nur ein Teil der wegfallenden Beschäftigung spiegelt sich also in einem entsprechenden Anstieg der Zahl der Erwerbslosen und Unterbeschäftigten wider; ein anderer Teil der wegfallenden Beschäftigung führt zu einer Erhöhung der ›stillen Reserve‹.

Die Zahl und Art der Beschäftigungsverhältnisse wird leider auch erst mit einer gewissen Verzögerung erfasst. Gegenwärtig liegen nur die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse vom November 2020 und die Zahl der gesamten Beschäftigungsverhältnisse vom Dezember 2020 vor. Demnach ging die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zwischen Dezember 2019 und Dezember 2020 um 71.900 auf 33,7 Millionen zurück. Die Zahl der Erwerbstätigen sank allerdings stärker, nämlich von 45,4 Millionen im Dezember 2019 auf 44,7 Millionen im Dezember 2020 und 44,4 Millionen im Januar 2021. Ein Großteil des Beschäftigungsabbaus betraf also Selbstständige und »geringfügig Beschäftigte«.

Die Salden der Beschäftigungsentwicklung geben nur ein eingeschränktes Bild von den Verwerfungen im Zuge der Krise, denn während sich die Beschäftigung in einigen Branchen verringert hat, ist sie in anderen gestiegen. So wurden allein im Gastgewerbe binnen eines Jahres bis Dezember 2020 mehr als 109.000 sozialversicherungspflichtige Stellen (d. h. mehr als 10 Prozent) abgebaut, in der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie waren es 156.800 Stellen. Beschäftigungszuwächse gab es dagegen im öffentlichen Dienst, im Gesundheitswesen, im Pflege- und Sozialbereich, im Baugewerbe, im Bereich der Unternehmensdienstleistungen, im Erziehungs- und Unterrichtswesen, im Informations- und Kommunikationssektor, in Verkehr und Lagerei. Leiharbeiter*innen gehören zu jenen, die von dem Beschäftigungsabbau besonders betroffen sind. Die Zahl der Beschäftigten bei Leiharbeitsfirmen ging um 30.300 auf 664.000 gegenüber dem Vorjahr zurück (Stand Dezember 2020).

Nach der Erwerbstätigenrechnung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes sank die Zahl der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem vierten Quartal 2020 um 4,7 Prozent bzw. 194.000 von 4,1 auf 3,9 Millionen. Die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten ging im selben Zeitraum um 1,3 Prozent bzw. 553.000 von 41,4 auf 40,9 Millionen zurück. Die Zahl der Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Arbeitssuchende) ging von Dezember 2019 bis Dezember 2020 um 150.000 zurück – die ›stille Reserve‹ wuchs also entsprechend an.

Bei den Beherbergungsbetrieben lag die Zahl der Beschäftigten im Januar 2021 um 25,4 Prozent unter derjenigen des Vorjahresmonats. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ging sogar um 39,6 Prozent zurück. In der Gastronomie sank die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum um 29,5 Prozent, die Zahl der Teilzeitstellen sank hier um 37,5 Prozent.

Da die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht inzwischen bis Ende April 2021 verlängert wurde, schlägt sich die Krise noch nicht in einer stark wachsenden Zahl von Insolvenzen nieder, die sonst eigentlich zu erwarten wäre. Die Zahl der beantragten Insolvenzverfahren ging vielmehr zurück. Somit ist die Verschleppung von Bankrotten – normalerweise eine Straftat – nun staatliches Programm zur Krisendämpfung. In der Gewerbeanzeigenstatistik wird die Krise jedoch sichtbar: Die Zahl der Gewerbeabmeldungen hat im vergangenen Jahr ungewöhnlich stark zugenommen.

Die Entwicklung der Einkommen und Vermögen

Die Daten der vierteljährlichen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes liegen bis einschließlich drittes Quartal 2020 vor. Demnach sank der durchschnittliche Bruttomonatslohn im zweiten und im dritten Quartal 2020. Dies ist aber nicht auf sinkende Stundenlöhne, sondern auf die im Durchschnitt kürzere Arbeitszeit aufgrund der einschränkenden Corona-Maßnahmen zurückzuführen. Die Lohnverluste durch die Coronakrise sind in der Arbeiterklasse größer als in der lohnabhängigen Mittelklasse. So war das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt in der Gruppe der leitenden Angestellten, wo es mehr als 7.000 Euro beträgt, im zweiten Quartal 2020 gegenüber dem Vorjahresquartal um 1,3 Prozent niedriger. In der Gruppe der Vorarbeiter*innen, Meister*innen und Angestellten mit komplexen Tätigkeiten und speziellen Fachkenntnissen mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von über 4.600 Euro, die ich ebenfalls zur lohnabhängigen Mittelklasse zähle, betrug der Lohnverlust im gleichen Zeitraum 2,1 Prozent. In der Gruppe der Facharbeiter*innen und der Angestellten mit abgeschlossener Berufsausbildung (durchschnittlicher Bruttomonatslohn: ca. 3.300 Euro) lag der Lohnverlust im zweiten Quartal 2020 bei 4,7 Prozent, in den Gruppen der un- und angelernten Arbeiter*innen und Angestellten mit einfachen Tätigkeiten (durchschnittlicher Bruttomonatslohn für Ungelernte ca. 2.200 Euro, für Angelernte ca. 2.600 Euro) lag er bei mehr als 8 Prozent. Darin spiegelt sich wider, dass die verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen unterschiedlich vom Lockdown und vom Beschäftigungsrückgang betroffen waren und sind.

Die oben angeführten Zahlen beziehen sich jeweils auf den Durchschnitt des gesamten produzierenden Gewerbes und des Dienstleistungsbereichs. Dabei sind die Lohnverluste aber je nach Branche sehr unterschiedlich, da die Branchen sehr unterschiedlich von der Krise und dem Lockdown betroffen sind. In der Automobilindustrie lag beispielsweise der durchschnittliche Bruttomonatslohn für Facharbeiter*innen und Angestellte mit abgeschlossener Berufsausbildung im zweiten Quartal 2020 um fast 26 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal, weil ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 36,8 auf 26,9 Stunden sank. In der Gruppe der angelernten Arbeiter*innen und Angestellten mit überwiegend einfachen Tätigkeiten lag der durchschnittliche Bruttomonatslohn gar um 32 Prozent niedriger, weil der Beschäftigungsrückgang in dieser Gruppe noch stärker war.

Im Gastgewerbe sank der durchschnittliche Bruttomonatslohn für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung im zweiten Quartal 2020 gegenüber dem Vorjahresquartal um mehr als 800 Euro auf unter 1.500 Euro. Für ungelernte Beschäftigte sank er von knapp 1.900 Euro auf unter 1.300 Euro. Leiharbeiter*innen mit abgeschlossener Berufsausbildung mussten im Durchschnitt einen Lohnverlust von 6,5 Prozent hinnehmen, ungelernte Leiharbeiter*innen einen Lohnverlust von 13,1 Prozent.

In den Bereichen, in denen die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg, konnten die Beschäftigten kaum davon profitieren. In den Krankenhäusern beispielsweise lag der durchschnittliche Bruttostundenlohn für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung im dritten Quartal 2019 bei 20,77 Euro, im dritten Quartal 2020 lag er bei 21,12 Euro. Ungelernte Beschäftigte erhielten im dritten Quartal 2019 einen durchschnittlichen Bruttostundenlohn von 14,26 Euro, im vierten Quartal 2020 waren es 14,54 Euro. So viel zur Diskussion um die Aufwertung der Pflegearbeit!

Mittlerweile liegen auch die Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für das vierte Quartal 2020 vor. Demnach war die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme zwar auch im vierten Quartal 2020 niedriger als im entsprechenden Vorjahresquartal. Die Löhne brachen jedoch während der ersten Monate des zweiten Lockdowns nicht so stark ein wie während des ersten Lockdowns. Das lag wohl vor allem daran, dass die Lieferketten nicht im selben Maße wie im Frühjahr 2020 zusammenbrachen und es sich im Herbst 2020 zunächst nur um einen »Lockdown light« handelte.

Stärker als die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme ist 2020 die Summe der Unternehmens- und Vermögenseinkommen gesunken, nämlich um 9,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies ist nicht ungewöhnlich: In akuten Krisensituationen brechen die Profite meist schneller und stärker ein als die Löhne; erst im weiteren Verlauf wird die Profitabilität durch die ›kathartische‹ Wirkung der Krise – also durch Kapitalvernichtung, Umverteilung von Marktanteilen, Massenentlassungen und Neuverteilung zu Ungunsten der Lohnabhängigen – wiederhergestellt.

Allerdings gibt es auch viele Krisengewinner, insbesondere unter den Großunternehmen. 17 der 30 DAX-Konzerne haben inzwischen Finanzdaten für das Geschäftsjahr 2020 veröffentlicht; bis auf drei weisen alle Gewinne in Milliardenhöhe oder wenigstens in dreistelligen Millionenbeträgen aus. Acht Konzerne konnten ihren Jahresüberschuss im Vergleich zu 2019 sogar steigern. Unternehmen wie Deutsche Post DHL, Deutsche Telekom, der private Klinikbetreiber Fresenius oder der Pharmakonzern Merck konnten ihre Umsätze während der Krise deutlich erhöhen. Einige Unternehmen wie der Autohersteller Daimler, der Industriegashersteller Linde oder der Softwarekonzern SAP brachten das Kunststück fertig, ihre Gewinne trotz sinkender Umsätze zu erhöhen. Dies verweist auf die Handlungsspielräume der Konzerngiganten bei der Gestaltung der Bilanzen, auf ihre Fähigkeit, in der Krise die Kosten rasch zu senken, ihre in den Vorjahren angehäuften Finanzvermögen weiter zu verwerten, staatliche Subventionen einzustreichen und Steuerzahlungen zu minimieren. Nicht nur die Konzerne akkumulieren weiter Kapital, auch das Topmanagement und die Aktionär*innen profitieren. Daimler plant beispielsweise eine Erhöhung der Dividende um 50 Prozent; die Vergütung des Vorstandsvorsitzenden von Daimler stieg 2020 gegenüber dem Vorjahr von 4,9 auf 5,7 Millionen Euro. Auch die Aktienkurse sind seit dem Beginn der Coronakrise weiter gestiegen. Der Deutsche Aktienindex (DAX) stürzte zwar von seinem Höchststand von 13.789 Punkten am 19. Februar 2020 auf einen Tiefststand von 8.442 Punkten am 18. März 2020, stieg dann aber bis zum 18. März 2021 auf ein neues Allzeithoch von 14.776 Punkten.

Von der ökonomischen zur ideologischen und politischen Krise

Die vorliegenden statistischen Daten deuten darauf hin, dass sich die soziale Ungleichheit im Zuge der Coronakrise weiter verschärft. Während die lohnabhängige Mittelklasse unter den Bedingungen eines halbherzigen Lockdowns zum großen Teil im Homeoffice sitzt und weiterhin ihr volles Gehalt bezieht, muss sich die Arbeiterklasse in Fabriken, Logistikzentren, Supermärkten und Büros weiter dem Infektionsrisiko aussetzen oder ist von wachsender Erwerbslosigkeit, Kurzarbeit und damit einhergehenden Lohnverlusten betroffen. Hier sind wiederum die un- und angelernten Arbeiter*innen stärker betroffen als diejenigen mit abgeschlossener Berufsausbildung, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigten stärker als jene im ›Normalarbeitsverhältnis‹. Dies alles wird überlagert von den Spaltungen nach Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit sowie zwischen Ost und West. Bei den Selbstständigen muss zwischen dem Kleinbürgertum (den »Soloselbstständigen«), der mittleren Bourgeoisie (den Eigentümer*innen von Unternehmen mit wenigen Beschäftigten, die selbst in ihren Unternehmen mitarbeiten müssen) und der Kapitalistenklasse (Rentiers und Eigentümer*innen von Unternehmen, die ausschließlich von der Aneignung fremder Arbeit leben, sowie das Topmanagement größerer Unternehmen) unterschieden werden. Leider liegen für die verschiedenen Größenklassen von Unternehmen für das Jahr 2020 noch keine differenzierten Daten vor. Es deutet aber alles darauf hin, dass das Kleinbürgertum und die mittlere Bourgeoisie härter von der Krise getroffen werden als die Kapitalistenklasse, zumal gerade von der Krise besonders betroffene Branchen wie die Gastronomie oder der Kulturbereich stark durch kleinere Unternehmen geprägt sind. Wie in früheren Krisen wird sich vermutlich der Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigen; viele Unternehmen werden vom Markt verschwinden.

Wie übersetzt sich nun die ökonomische Krise ins Politische? Wenn man Meinungsumfragen wie dem »Politbarometer« folgt, dann ist es den Regierungen in Bund und Ländern seit dem Beginn der Pandemie durchgehend gelungen, Mehrheiten zu gewinnen, die ihre Maßnahmen »gerade richtig« finden. In der ersten Phase der Pandemie konnte vor allem die CDU/CSU als dominante Staatspartei erheblich an Zustimmung gewinnen. Inzwischen bröckelt diese wieder etwas. Die Mehrheiten für die jeweils gerade geltenden Corona-Regeln sind das eine, andererseits hat es jedoch bei den Meinungsumfragen mehrfach Verschiebungen zwischen den Minderheiten gegeben, die die Regierungsmaßnahmen entweder übertrieben oder nicht streng genug finden. Diese Verschiebungen in den Meinungsumfragen folgen allerdings der öffentlichen Diskussion in den Medien, die ihrerseits stark von Interessengruppen wie den Wirtschaftsverbänden geprägt wird. Zudem zeigen die Demonstrationen der »Querdenker« und die Verbreitung von Verschwörungsmythen, dass sich unterhalb der Oberfläche einer relativen parteipolitischen Stabilität eine tiefe ideologisch-politische Krise entwickelt, deren weiterer Verlauf unabsehbar ist.

Verteilungskonflikte der Zukunft und der Kampf um eine neue Produktionsweise

Der Preis für die jüngsten staatlichen Maßnahmen zur Krisendämpfung ist eine erneut wachsende Staatsverschuldung. Der IWF schätzte jüngst das staatliche Haushaltsdefizit in Deutschland für 2020 auf 5,1 Prozent des BIP. Die Staatsverschuldung dürfte von 59,6 auf 70 Prozent des BIP angewachsen sein. Um diese Neuverschuldung zu ermöglichen, wurden die Regeln der »Schuldenbremse« und des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes temporär außer Kraft gesetzt. Vor der Bundestagswahl dürfte die Frage, ob und wie diese gewachsene Verschuldung wieder abgebaut wird, keine große Rolle spielen, längerfristig aber schon. Es wird dann darum gehen, ob die »Schuldenbremse« abgeschafft und die Regeln des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes dauerhaft geändert werden – oder ob wir eine neue Runde der desaströsen Austeritätspolitik erleben. Dann stellt sich die Frage, in welcher Mischung gegebenenfalls Kürzungen der Staatsausgaben und Erhöhungen von Steuern und Abgaben zur Geltung kommen – oder inwieweit es möglich ist, aus den Schulden ›herauszuwachsen‹. Neoliberale werden vor allem auf Ausgabenkürzungen zulasten der Lohnabhängigen drängen, Keynesianer*innen eher auf Wachstumsimpulse, die die Verteilungskonflikte entschärfen sollen. Aus ökologisch-sozialistischer Sicht gilt es dagegen, den Stoff- und Energieverbrauch radikal zu senken, die Produktionsstruktur entsprechend nach stofflichen Gesichtspunkten umzubauen und die notwendigen Maßnahmen durch eine Umverteilung zulasten der Kapitaleinkommen zu finanzieren. Das alles wird nicht ohne Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse funktionieren. Letztlich geht es um die Durchsetzung einer neuen, am gesellschaftlichen Bedarf und an ökologischer Nachhaltigkeit orientierten, auf demokratischer Planung beruhenden Produktionsweise – und zwar binnen sehr kurzer Zeit, wenn die wachsende Barbarei, die mit der Klimakatastrophe einhergeht, noch abgewendet werden soll.