- Zeitschrift LuXemburg - https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de -

Klassenkämpfe während Corona – und Perspektiven für die Zeit danach

Von Sebastian Friedrich und Nina Scholz

Schlaglichter auf die Lage der Beschäftigten in »systemrelevanten Berufen«

Vor Ausbruch der Pandemie gab es so etwas wie linken Optimismus. Die Fridays for Future-Proteste, Kämpfe gegen Tech-Unternehmen, Gewerkschaftsorganisierungen von unten wie die Massenstreiks von Lehrer*innen in den USA, verbindende Mietenkämpfe in Berlin und anderswo machten Hoffnung, dass der Neoliberalismus in absehbarer Zeit dem Ende entgegen taumeln könnte. Dann kam Corona, und plötzlich erschien für einige die schwarz-rote Bundesregierung als eine, die dem Neoliberalismus abgeschworen habe. Die Bundesregierung agierte tatsächlich anders als viele andere Staatsregierungen: Der Shutdown war eine abgemilderte Version des radikaleren, autoritäreren Lockdowns; im Gegensatz zu den pandemieleugnenden, rechtsradikalen Regierungen gab es auch keine Verweigerung notwendiger gesundheitlicher Versorgung. Die schnellen und unbürokratischen Rettungspakete für Selbstständige und eine Art Corona-Kündigungsschutz für Mieter*innen wurden als weitere Hinweise einer Entwicklung hin zu einer menschlicheren Politik gewertet.

Dennoch zeigt die Pandemie auch und gerade in Deutschland, wie ungleich die Gesellschaft ist, in der wir leben. Während sich einige größtenteils ins Homeoffice zurückziehen konnten, mussten Beschäftigte in sogenannten systemrelevanten Berufen, etwa Lieferfahrer*innen, Logistikarbeiter*innen und Fleischfabrikbeschäftige, weiterhin draußen arbeiten – oft unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen und mit vergleichsweise geringem Lohn. Die Arbeitsbedingungen haben sich unter den Vorzeichen der Pandemie häufig verschlechtert. Gleichzeitig stieg das öffentliche Interesse für die Beschäftigten und ihre Situation in systemrelevanten Branchen. Das stärkt potenziell ihre Arbeitsmacht und damit die Voraussetzungen für Arbeitskämpfe. Aber können sie die auch nutzen? Und wenn ja, in welcher Weise? Wie sind Organisierungen während einer Pandemie möglich? Können nur die bereits gut Organsierten schnell darauf reagieren? Ermöglicht eine veränderte Situation wie der Shutdown, spontan in den Arbeitskampf einzusteigen? Wie können daraus verlässliche Strukturen entstehen? Wie organisieren sich diese Arbeiter*innen, wenn ihnen das Repertoire aus direkter An- und Absprache, Versammlungen und Streiks fehlt – und was lässt sich für die Zeit nach der Pandemie, vorausgesetzt die gibt es, aus alledem lernen?

Dieser Text ist weder abschließend, noch aus einer allwissenden Position geschrieben. Die Interviews mit den Beschäftigten fanden im Rahmen der ersten Welle im Mai 2020 statt. Sie liefern Schlaglichter auf veränderte Arbeits- und Kampfbedingungen im Versandhandel, in der Pflege, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft – allesamt Branchen, in denen überdurchschnittlich viele Migrant*innen und Frauen arbeiten.

Vernetzung bei Amazon

Fünfmal pro Woche arbeiten Olivia Meyer und Mike Arnold[1] [1] im Amazon-Versandlager. An fünf Tagen in der Woche picken und packen sie. An fünf Tagen in der Woche haben sie Angst, sich mit Corona anzustecken. Dort, wo sie arbeiten, beim Versandzentrum in Winsen (Luhe), südlich von Hamburg, gab es bis Ende April schon mehr als 50 Corona-Fälle. Damit wurde der Amazon-Standort von den Gesundheitsbehörden offiziell als Hotspot eingestuft. Seither gibt es offiziell zwar keine neuen Fälle, die Furcht ist aber geblieben: »Die Stimmung in der Belegschaft ist miserabel, jeder hat Angst vor jedem«, sagt Olivia Meyer. Ihr Vorwurf: Amazon habe viel zu spät gehandelt. Dazu teilt ein Sprecher von Amazon Deutschland gegenüber der Schweizer Wochenzeitung WOZ (4.6.2020) mit, man tue alles, um die Beschäftigten so weit wie möglich zu schützen. Amazon habe die Arbeitsprozesse angepasst und alle vom Gesundheitsamt geforderten Maßnahmen umgesetzt.

Eine andere Sprache sprechen die Ergebnisse einer Umfrage, die die Gewerkschaft Verdi Anfang April unter Amazon-Beschäftigten in Deutschland gemacht hat: Die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, Abstand halten während der Arbeitszeit sei kaum möglich. Lediglich jede vierte Person meint, Abstand halten sei sowohl bei Schichtbeginn als auch während der Schicht grundsätzlich möglich.

Öffentlichkeitswirksam verkündete Amazon im März, den Beschäftigten während der Corona-Krise zwei Euro pro Stunde mehr zu zahlen – allerdings nur, wenn sie arbeiten und nicht krank sind. »Sie ködern uns mit zwei Euro mehr die Stunde, damit die Leute zur Arbeit kommen«, sagt Mike Arnold. »Die Gesundheit der Leute ist ihnen nicht so wichtig.« Hinzu kommt, dass viele bei Amazon zunächst nur befristet angestellt sind, sich also erst einmal bewähren müssen. Um eine Vertragsverlängerung oder gar eine unbefristete Stelle zu erhalten, könnten viele auch mit leichtem Fieber oder Husten in die Arbeit gehen, befürchtet Arnold.

Amazon steht wie kein anderes Unternehmen für die unterschiedlichen Realitäten derjenigen, die profitieren, und jener, die den Profit erwirtschaften. Während unter vielen Beschäftigten die Angst umgeht, dürfte die Leitung des US-Konzerns momentan sehr zufrieden sein: Die Aktie steigt seit Mitte März kontinuierlich und befindet sich seit April auf einem Rekordniveau. Das wirkt sich äußerst positiv auf das Konto von Amazon-Chef Jeff Bezos aus: Allein zwischen Mitte März und Mitte Mai ist sein Vermögen laut der Organisation Americans for Tax Fairness und dem Institute for Policy Studies um knapp 35 Milliarden Dollar gewachsen, womit er von allen US-Milliardären der größte Gewinner der aktuellen Krise ist. Ende August hat sein Vermögen dann die 200-Milliarden-Dollar-Grenze übersprungen.[2] [2]

Amazon scheint ein übermächtiger Riese, dagegen wirken die Ansatzpunkte für Widerstand der Beschäftigten mikroskopisch klein. Doch es gibt sie: Durch die Pandemie könnten sich die Kampfbedingungen für sie verbessern. Gewerkschaftsaktivist Christian Krähling arbeitet seit mehr als zehn Jahren am Amazon-Standort im hessischen Bad Hersfeld. »Die Unzufriedenheit vieler Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Geschäftsleitung ist im Zuge der Corona-Pandemie merklich gestiegen«, sagt er. So seien mehr Menschen in die Gewerkschaft eingetreten. Viele Beschäftigte hätten etwa bei dem 2-Euro-Bonus gesehen, dass Lohnerhöhungen, wenngleich wie in diesem Falle temporäre, doch möglich sind. Krähling nutzt die – durchaus umstrittene – Regelung denn auch gegenüber der Leitung und fordert gemeinsam mit seinen aktiven Kolleg*innen, den Bonus genauso wie Überstundenzuschläge zukünftig obligatorisch zu zahlen.

Amazons Umgang mit der Krise könnte noch weitere, für die Konzernleitung unerwünschte Folgen haben, meint Jean-François Bérot. Der Arbeiter in einem Amazon-Versandzentrum südlich von Paris sieht in der aktuellen Krise gute Voraussetzungen dafür, dass sich Belegschaften über die Ländergrenzen hinweg vernetzen. »Überall haben Amazon-Beschäftigte die gleichen Probleme. In Frankreich, den USA und in Deutschland haben sie Angst, sich mit Corona anzustecken«, sagt Bérot. Auch außerhalb Frankreichs haben Amazon-Beschäftigte mitbekommen, wie dort lautstark vor dem Amazon-Werk dessen Schließung gefordert wurde. Dass sich der Konzern dann nach einem Gerichtsbeschluss gezwungen sah, seine großen Lagerzentren in Frankreich tatsächlich dichtzumachen, hat allen Amazon-Arbeiter*innen gezeigt, was theoretisch möglich ist.

In Europa war man bereits vorher vernetzt, doch nun stehe man auch im engen Austausch mit Aktiven aus den USA, wo die Wut auf die Geschäftsleitung gerade besonders groß sei, sagt Christian Krähling vom Amazon-Werk in Bad Hersfeld.

Die internationale Vernetzung bringt ihre Symbolfiguren hervor. Seit Ende März solidarisieren sich länderübergreifend Amazon-Beschäftigte mit Chris Smalls. Er arbeitete in einem Amazon-Versandzentrum in New York und hatte dort bereits im März öffentlich gemacht, dass ein Kollege im Werk positiv auf das Virus getestet wurde. Daraufhin sei er von Amazon in Quarantäne geschickt worden. »Als ich gemerkt habe, dass sie mich zum Schweigen bringen wollen, habe ich einen Streik organisiert«, sagt Smalls. »Daraufhin wurde ich entlassen.« Amazon widerspricht Smalls: Ihm sei gekündigt worden, weil er Quarantäneregeln missachtet habe. Smalls sieht in seiner Kündigung allerdings den Versuch, ein Exempel zu statuieren. »Es gab einige Streiks, und an jedem, der den Mund aufgemacht hat, hat sich Amazon gerächt. Das ist das Signal, das sie an ihre Arbeiter senden.«

Ein Resultat der internationalen Vernetzung ist die Organisation Amazon Workers International, die Krähling mit aufgebaut hat: »Jede Gewerkschaft in jedem Land hat das Problem, dass sie sich nur an die Leitung des jeweiligen Landes wenden kann, aber für Europa werden die Entscheidungen vor allem bei der Europazentrale in Luxemburg oder sogar bei der weltweiten Zentrale in Seattle getroffen.«

Zusammenschlüsse wie die Amazon Workers International reagieren auf diese globalen Strukturen des Konzerns. Arbeitskämpfe gegen transnational operierende Unternehmen können nicht in einem Land gewonnen werden, denn wenn in dem einen Land die Belegschaft streikt, kann Amazon einfach die Waren von einem anderen Standort aus verschicken. Deshalb müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter sich über Ländergrenzen hinweg organisieren und gemeinsam Wege für transnationale Arbeitskämpfe finden.

Mittlerweile tauschen sich Beschäftigte aus etwa einem Dutzend Staaten im Rahmen von Amazon Workers International täglich aus. Dass die Organisation unabhängig von den großen Gewerkschaften funktioniert, sieht Krähling als Vorteil: »Für konkrete Aktionen ist es leichter, wenn sich die Beschäftigten vor Ort austauschen, weil sie den Laden besser kennen.« Außerdem könnten schneller Aktionen anlaufen, wenn keine komplizierten bürokratischen Hürden genommen werden müssen.

Erste Erfolge in der Pflege

Dana Lützkendorf, die als Pflegerin auf der Intensivstation der Charité in Berlin arbeitet, hat an ihren Arbeitsbedingungen während des Shutdowns überraschend wenig auszusetzen: »Corona-Patientinnen und -Patienten brauchen intensive Betreuung mit maximal zwei Patienten pro Pflegekraft, und die konnten wir diesmal gewährleisten. Kollegen und Kolleginnen von anderen Stationen, die während Corona weniger zu tun hatten, haben bei uns mitgearbeitet. Wir konnten endlich mal genau so für Patientinnen und Patienten da sein, wie es eigentlich nötig ist.«

Für eine angemessene Patientenversorgung kämpfen Lützkendorf und ihre Kolleg*innen von der Charité seit mehr als zehn Jahren. Im Durchschnitt muss eine Pflegekraft in deutschen Krankenhäusern 10,3 Patienten versorgen. Damit ist das deutsche Gesundheitssystem europäisches Schlusslicht. Grund dafür ist unter anderem das System der Fallpauschalen, das nach Meinung von Lützkendorf und den anderen Pflegekräften abgeschafft gehört.[3] [3] Seit 2003 werden Behandlungen im Krankenhaus über feste Pauschalen vergütet, die oft knapp bemessen sind und die Krankenhäuser unter Kostendruck setzen. Da die Personalkosten der größte Ausgabenposten sind, sparen sie meist dort, also vor allem am Pflegepersonal und den Servicebeschäftigten, die bei der Charité mittlerweile outgesourct und damit nicht tarifgebunden sind.

An der Kampfbereitschaft hat auch die Corona-Krise nichts geändert, nur die Bedingungen waren diesmal andere. »Normale Gewerkschaftsarbeit war während Corona nicht möglich. Wir konnten keine Kundgebungen durchführen, mussten also kreativ werden. Wir haben uns in Videochats getroffen und beschlossen, Unterschriften von allen Vivantes- und Charité-Beschäftigten zu sammeln.« Diese machen zusammen immerhin etwa 50 Prozent des gesamten Berliner Krankenhauspersonals aus. Ergebnis ist der aus neun Forderungen bestehende »Corona-Krankenhaus-Pakt«. Dass auch die outgesourcten Beschäftigten, zum Beispiel Reinigungs- und Transportkräfte, nach Tarif bezahlt werden, ist einer der Punkte. Gefordert wird außerdem ein Pandemiezuschlag von 500 Euro pro Beschäftigtem sowie das Ende des Fallpauschalensystems.

Die Kolleg*innen haben den Druck dann nochmal erhöht und eine sogenannte Mehrheitspetition gestartet, um zu zeigen, dass sie nicht nur viele sind, sondern tatsächlich die Mehrheit der Krankenhausbelegschaft hinter ihnen steht. Mehrheitspetition bedeutet, dass mindestens die Hälfte der Beschäftigten jeder Station unterschreibt. Lützkendorf ergänzt: »Dort konnten die jeweiligen Teams auch nochmal eigene Forderungen aufstellen und in ein Feld eintragen. Diese Petitionen der verschiedenen Stationen der unterschiedlichen Krankenhäuser in Berlin werden dann an die jeweiligen Bezirkspolitiker geschickt.« 140 Stationen in ganz Berlin haben sich bisher daran beteiligt, und die Aktion läuft noch weiter. Beteiligt haben sich aber nicht nur die Stationen der Krankenhäuser, sondern auch die privatisierten Tochterunternehmen. Es geht in den Kämpfen immer wieder darum, sich nicht spalten zu lassen in besser bezahlte Pflegekräfte einerseits und Arbeitende in Krankentransport, Reinigung und Küche andererseits. Viele Bereiche wurden in den letzten Jahren ausgegliedert und werden unter Tarif bezahlt. Gerade diese Beschäftigten sind aktuell bereit zu kämpfen, berichtet Lützkendorf: »In diesen Bereichen haben wir 100 Prozent Unterschriftenbeteiligung.« Den Unterschriften sollen außerdem Aktionen folgen. Das ist fester Teil der Organisierungsstrategie: »Die Kolleg*innen haben sich mit der Unterschrift auch verantwortlich erklärt, an Aktionen teilzunehmen und welche zu organisieren.«

Lützkendorf sieht den Erfolg der Organisierung in der Einbindung ihrer Kolleg*innen in den Kampf, die sich maßgeblich von klassischen Großgewerkschaftskampagnen unterscheiden, bei denen Gremien Forderungen festlegen und die Belegschaften dann beispielsweise für Kundgebungen mobilisieren: »Wir haben genau zugehört, was die Kolleg*innen gesagt haben und daraus die Forderungen abgeleitet. Das waren nicht einfach gewerkschaftliche Forderungen, die irgendwo entschieden wurden. Meine Erfahrung ist, dass wenn man ihre Sprache spricht, ihre Forderungen aufnimmt, und wenn die Forderungen zu groß sind, bespricht, warum das vielleicht noch nicht geht, dann beteiligen sich die Kolleg*innen auch rege.«

Aber auch externe Unterstützung hätte eine Rolle gespielt und zwar nicht von linken Gruppen oder anderen Streikenden, sondern von einer Agentur der speziellen Art, ergänzt Kalle Kunkel. Der ehemalige Verdi-Sekretär hat jahrelang mit den Charité-Beschäftigten gekämpft und beobachtet die Auseinandersetzungen derzeit von außen. »Der Corona-Pakt wird gerade von den Organiz.ing-Leuten um Luigi Wolf unterstützt, koordiniert und konzeptionell vorangetrieben. Es ist nicht einfach nur die autonome organisierte Belegschaft, die da kämpft, es gibt eben auch externe Unterstützung.« Organiz.ing ist eine Agentur, die für Gewerkschaften Arbeitskampf-Kampagnen entwirft und zum Beispiel durch Telefonaktionen zu Warnstreiks, Demonstrationen und Versammlungen mobilisiert.

Eine weitere Forderung ist, dass die Krankenhausbeschäftigten an den Gesprächen mit den Berliner Abgeordneten teilnehmen, dass sie selbst sprechen und nicht von anderen für sie entschieden wird. In dieser Hinsicht waren sie bereits erfolgreich: Während des Shutdowns fand eine Videokonferenz mit Abgeordneten statt, berichtet Lützkendorf, am 20. Mai wurden die Unterschriften an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller übergeben und am 29. Mai verhandelten die Beschäftigten mit der Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci über den »Corona-Krankenhaus-Pakt«. Mittlerweile haben die kämpfenden Beschäftigten erste Erfolge vorzuweisen: In einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte Müller Ende Mai: »Ich kann mir auch eine Berliner Bundesratsinitiative vorstellen, um das System der Fallpauschalen abzuschaffen.«[4] [4] Wird Berlin jetzt also Vorreiter im Kampf gegen die Ökonomisierung der Krankenhäuser?

Ganz so leicht wird es wohl nicht, gibt Kalle Kunkel zu bedenken. »Einerseits sind durch die Pandemie die Fallpauschalen auf politischer Ebene delegitimiert, und es gibt derzeit ein großes gesellschaftliches Bewusstsein für die Probleme im Pflegebereich. Das erleichtert die Arbeitskämpfe dort und erhöht die Möglichkeiten für entsprechende Erfolge. Auf der anderen Seite rollt gerade eine neue Austeritätswelle auf uns zu, und es ist noch gar nicht klar, wo gespart werden wird.«

Klar ist, sie wollen weitermachen. Unklar ist bisher wie, sagt Lützkendorf: »Unter Corona hätten wir nicht streiken können. Wir Pflegekräfte fühlen uns für die Patienten verantwortlich, aber auch gesellschaftlich wäre das nicht akzeptiert gewesen.« Und in der Zukunft? »Es ist nicht unser primäres Ziel zu streiken, sondern unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Patientinnen und Patienten optimal zu versorgen. Wenn wir da nicht vorwärts kommen, diskutieren wir aber, ob wir mal wieder streiken.« In den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst, die im September begonnen haben, zeichnet sich schon ab, dass die Arbeitgeberseite ohne Druck von unten kaum zu entscheidenden Verbesserungen der Situation der Beschäftigen auch in der Pflege bereit sein wird.

Petition im Einzelhandel

Für die Verkäufer*innen und Kassierer*innen, die während der Pandemie in den Supermärkten und Drogerien weiterarbeiten mussten, ist ein Streik noch in sehr weiter Ferne. Ihre Arbeitsbedingungen rückten zwar während des teilweisen Shutdowns mehr in den Fokus als bisher, breite Solidarität blieb trotzdem aus. Den Pfleger*innen wurde von Balkonen aus applaudiert, die Verkäufer*innen kamen in den Dankesreden aber weitaus seltener vor. Obwohl sie weiter Regale einräumen und Barcodes scannen mussten, während es einen Massenandrang in den Supermärkten gab, weil viele Klopapier, Seife, Desinfektionsmittel und Mehl hamstern wollten.

Einer Verkäuferin platzte schließlich der Kragen. Am 15. März machte sich Farina Kerekes auf Facebook Luft. »Meine Kolleginnen und ich können uns gerade nicht vor einer Ansteckung schützen und ins Homeoffice gehen. Im Gegenteil, da wir mit dem Auffüllen der Regale nicht mehr nachkommen müssen wir wie verrückt Überstunden kloppen«, schrieb sie in dem Posting, das mehr als 1200-mal geteilt wurde. Am Ende appellierte sie an die Kund*innen: »Entspannt euch, seid nett zu dem Personal, das gerade arbeiten MUSS, egal ob im Einzelhandel oder im medizinischen Bereich oder woanders. Und hustet verdammt noch mal in eure Armbeuge.«

Kerekes war sauer, sagt sie. »Viele Kunden behandelten mich sehr schlecht, obwohl ich das gar nicht verdient habe, die achteten nicht auf meine Gesundheit. Die haben mich angehustet. Das hat mich mega angepisst.« Das Posting ist auch den Machern von der Petitionsplattform change.org [5] aufgefallen. Sie kontaktierten Kerekes und boten ihr an, ihre Forderungen auf ihrer Seite online zu stellen. Kerekes forderte vor allem zwei Sofortmaßnahmen: Gefahrenzuschlag und Schutzausrüstung für alle. Wochenlang hatte sie gearbeitet, ohne Maske und anderen Schutz und mit der gleichen Angst vor Ansteckung, wie sie jede andere auch hatte. Die Petition »Wir sind mehr wert als ein Danke! Der Handelsaufstand beginnt jetzt!« wurde bis zum Mitte Juli rund 18.500-mal unterschrieben. Das Ziel von 25.000 Unterschriften ist aber noch nicht erreicht.[5] [6]

Kerekes glaubt nicht, mit solchen Petitionen einen Arbeitskampf gewinnen zu können. Sie hofft aber, Kolleg*innen dadurch besser organisieren zu können, weswegen sie parallel zur Petition eine Facebook-Gruppe gegründet hat: »Gerade ist es noch eine ›Auskotzgruppe‹. Alle schreiben, wie schlimm ihre Arbeitsbedingungen sind.« Jetzt will sie selber aktiv werden und plant, ein Onlinetreffen zu organisieren. Für mehr fehlen leider Zeit und Unterstützung, denn noch mache sie eigentlich alles alleine, sagt sie. Dabei hat Kerekes andere Vorstellungen: »Mein Wunsch wäre, die Frauen, denn es sind ja vor allem Frauen, die jetzt das erste Mal über ihre miesen Arbeitsbedingungen posten, zu organisieren.«

Dass es sich meist um Frauen handelt, bestätigt auch Nicole Mayher-Ahuja, Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Göttingen: »Die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel werden seit Jahrzehnten kontinuierlich schlechter. Vollzeitstellen sind stark zurückgebaut worden. Stattdessen gibt es unglaublich viele Teilzeitstellen und Minijobs.« Vielen reicht das verdiente Geld nicht mal zum Überleben, ergänzt Mayer-Ahuja: »Zehntausende Verkäuferinnen verdienen so wenig, dass sie gleichzeitig aufstocken, also ALG II beantragen müssen.«

Kerekes hat versucht, dafür Unterstützung von ihrer Gewerkschaft Verdi zu bekommen – bislang ohne Erfolg. Sie sieht die Gründe beim niedrigen Organisierungsgrad in ihrer Branche: »Im Einzelhandel sind nur wenige gewerkschaftlich organisiert, und ich glaube, die Gewerkschaften interessieren sich vor allem für Bereiche, in denen sie schon viele Mitglieder haben.« Sie müssen mehr werden, damit Verdi sich für sie interessiert – und sie brauchen Verdi, um mehr zu werden. Kerekes trifft hier auf ein Problem, das andere Beschäftigte in Branchen mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad ebenfalls kennen: Auch Gewerkschaften müssen mit Ressourcen haushalten und überlegen, wo sich der Einsatz für sie lohnt.

Die Überforderung ist Kerekes deutlich anzumerken, wenn sie sagt: »Ich mache das eigentlich alles alleine«. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Einzelhandel geraten aktuell allerdings wieder aus dem Fokus, stattdessen wird über die Öffnung von Geschäften am Sonntag, also über eine Sieben-Tage-Woche und die Absenkung des Mindestlohns diskutiert. Kerekes ist fassungslos, obwohl sie von der Politik ohnehin wenig erwartet: »Die klatschen im Bundestag, bedanken sich in ihren Reden bei uns Systemrelevanten und verpassen uns gleichzeitig einen Arschtritt.«

Streik der Erntehelfer

Drugan Ion ist Mitte 40 und war bereits mehrmals als Erntehelfer in Deutschland. Wie 2019 war er dieses Jahr wieder bei Spargel Ritter in Bornheim, in der Nähe von Bonn, jenem Betrieb, bei dem es Mitte Mai einen wilden Streik gab, der bundesweit für Aufsehen sorgte. Überhaupt sind die Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigrant*innen in der Landwirtschaft, aber auch in der Fleischindustrie in diesen Wochen viel mehr Thema als sonst, was vor allem an einigen spektakulären Fällen massenhafter Infektionen von Beschäftigten lag.

So wurde etwa Ende April bekannt, dass 300 Arbeiter*innen in einem Schlachthof in Baden-Württemberg positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Kurz darauf gab es etwa 200 Corona-Infizierte in einem Schlachtbetrieb in Nordrhein-Westfalen. Dann wurde bekannt, dass sich beim Fleischriesen Tönnies an dessen Hauptsitz in Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen mehr als 1500 Arbeiter*innen mit COVID-19 infiziert hatten, woraufhin eine bundesweite Debatte um die Arbeitsbedingungen und das Subunternehmer-System in der Fleischindustrie entbrannte.

Das Subunternehmer-System ist aber genauso in der Landwirtschaft und anderen Bereichen der Saisonarbeit etabliert. Kritisiert wurden auch die Unterkünfte für Saisonarbeitskräfte, die häufig auf engstem Raum leben müssen. »Corona hat die Situation der Saisonarbeiter und Arbeitsmigranten überhaupt erst sichtbar gemacht«, sagt Jens Zimmermann, Gewerkschaftssekretär bei der IG BAU und in Westfalen für den Agrarsektor zuständig.

Allerdings habe das gestiegene mediale Interesse kaum zu Verbesserungen in der Landwirtschaft geführt. »Den meisten Betrieben geht es nicht darum, die Situation für die Beschäftigten zu ändern, etwa die Löhne zu erhöhen oder die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Die Unterbringungen und Arbeitsstätten, die ich in den vergangenen Wochen gesehen habe, nehmen es überwiegend nicht so genau mit dem Infektionsschutz«, sagt Zimmermann.

Die Unterbringung und die Versorgung waren auch bei Spargel Ritter in Bornheim ein Problem, sagt Erntehelfer Ion. Er lebte mit etwa 200 anderen Saisonkräften zwischen Bahngleisen, Friedhof und Kläranlage in einem Containerdorf. Die hygienischen Bedingungen seien dort mies gewesen, und auch das Essen war laut Ion schlechter als im vergangenen Jahr. Trockenes Brot und ungekochter Reis führten dazu, dass viele der Saisonarbeitskräfte anfingen, sich selbst zu versorgen, obwohl der Betrieb zu ihrer Verpflegung verpflichtet war.

»Die Bedingungen waren zwar schlechter als vergangenes Jahr, aber die hätten wir noch verkraftet. Schlimmer war die Sache mit dem Lohn«, erzählt Ion. Unter den Beschäftigten rumorte es in den Tagen vor dem Streik, denn einige der Saisonarbeitskräfte, die früher abreisen mussten, hätten von dem unter Insolvenzverwaltung gestellten Betrieb viel zu wenig Geld bekommen, manche sogar weniger als 200 Euro für ihre gesamte Arbeitsleistung. Bei Ion und vielen Kolleginnen und Kollegen wuchs die Sorge, ebenfalls deutlich weniger als vereinbart zu bekommen. »Dann hat eine Gruppe der Arbeiter beschlossen, wir arbeiten nicht weiter, bis wir den Lohn für unsere bisher geleistete Arbeit bekommen haben.«

Am Streik hätten sich mehrheitlich jene beteiligt, die zum ersten Mal auf dem Hof gearbeitet haben, sagt Ion. Eine kleinere Gruppe war gegen die Arbeitsniederlegung, allerdings sei diese Gruppe auch weniger von der Vorenthaltung der Löhne betroffen gewesen. Unterstützer*innen wie Beschäftigte berichten von Spannungen zwischen den beiden Gruppen, den Streikenden und den Nicht-Streikenden, bei denen offenbar auch rassistische Spaltungen eine Rolle gespielt haben. Unterstützung bekamen die Streikenden in Bornheim von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU, die von dem Konflikt aus dem Radio erfuhr und noch am gleichen Tag Leute nach Bornheim schickte. »Über Dolmetscher haben wir erfahren, dass es ein akutes Problem mit der Bezahlung gibt und unsere Hilfe angeboten«, sagt Max Schnetker von der FAU Bonn.

Während sich die Beschäftigten auf ihren spontanen Streik konzentrieren konnten, organisierte die FAU samt Unterstützerkreisen aus der linken Szene der Umgebung eine Demonstration in Bornheim. Auf Videoaufnahmen im Internet sind einige Reden in rumänischer Sprache dokumentiert. Sie zeigen, dass nicht nur ausbleibender Lohn die Wut der Arbeiter*innen beförderte. Eine Erntehelferin erzählt etwa, wie sie seit Beginn des Streiks in dem Containerdorf von einem Security-Team behandelt wird: »Sie bewachen uns seit drei Tagen Tag und Nacht, als wären wir im Gefängnis.« Eine andere Frau beschreibt, wie die Saisonkräfte »jeden Tag, vom Morgengrauen an, ohne Schutzmasken vor dem Mund, eingepfercht in Bussen kamen«. Sie seien auf dem Feld beleidigt und misshandelt worden wie Hunde und das Essen sei nicht einmal für Schweine geeignet gewesen.

Nach einer weiteren Demo in Bonn ging eine Gruppe der rumänischen Saisonkräfte zum Konsulat ihres Landes und erzwang damit, dass der Konsul aktiv wurde. So kam am 20. Mai sogar die rumänische Arbeitsministerin Violeta Alexandru nach Bornheim, um Gespräche zu führen. Sie reiste zwar kurz darauf wieder ab, aber dass sie überhaupt gekommen war, wurde bereits als Zeichen gewertet, dass der spontane Streik Wirkung zeigte. Einige der Arbeiter*innen gingen mittlerweile wieder zurück nach Rumänien, andere suchten sich Arbeit auf anderen Höfen. Nicht alle haben das Geld bekommen, das sie erwartet haben – auch Drugan Ion nicht. »Für drei Wochen habe ich nur 600 Euro gesehen. Es hätte mehr als das Doppelte sein müssen.«

Der Aktivist Christian Frings war in den Tagen des Arbeitskampfes häufiger in Bornheim und Teil der Unterstützungsstruktur. »Bemerkenswert ist, dass einige der Feldarbeiterinnen und -arbeiter sich bei der Suche nach neuen Jobs erst einmal die Unterkünfte und die Arbeitsverträge angeschaut haben«, sagt er. Und auch IG-BAU-Sekretär Zimmermann sieht für sein Gebiet, zu dem Bornheim nicht zählt, eine Veränderung im Vergleich zu den Vorjahren: »Für die Arbeiter gab es in der Landwirtschaft selten so gute Voraussetzungen wie jetzt, denn es sind wegen der Corona-Krise deutlich weniger Saisonarbeitskräfte als sonst da.« Die würden dann teilweise von anderen Höfen abgeworben. Manche Felder seien aus Mangel an Arbeitskräften gar für die private Ernte freigegeben worden.

Unterstützer Frings zieht eine positive Bilanz. Man habe gesehen, dass sich Linke an solchen realen Kämpfen beteiligen können: »Wir müssen die Augen aufhalten, dann können wir uns auch nützlich machen.« Denn dass Linke überhaupt von solchen wilden Streiks erfahren, ist nicht selbstverständlich. Anders als sozialrevolutionäre Aktivist*innen und auf Klassenpolitik fokussierte Journalist*innen haben die spontan Streikenden häufig andere Sorgen, als diese häufig illegale Form des Arbeitskampfes an die große Glocke zu hängen. Drugan Ion jedoch überlegt, vor Gericht zu ziehen, um für seine Arbeit bei Spargel Ritter doch noch den kompletten Lohn bekommen.

Was wir aus den Kämpfen lernen können

Zu Beginn der Pandemie waren im linksliberalen Feuilleton ausgesprochen hoffnungsvolle Artikel zu lesen, die Corona-Pandemie läute das endgültige Ende des Neoliberalismus ein. Davon ist, so lässt sich vorläufig bilanzieren, in den betrachteten Branchen wenig zu spüren. Die Beschäftigten berichten von schlechteren Arbeitsbedingungen und haben Angst um ihre Gesundheit. Der neoliberale Kapitalismus könnte durch Corona sogar eine Renaissance erfahren: Eine Intensivierung der Ausbeutung, die Stützung der Kapitalseite durch die Regierungen, Appelle an die Arbeiterklasse, die Gürtel zum Wohle der Wirtschaft enger zu schnallen, deuten sich bereits jetzt an. Wie allerdings die Bedingungen aussehen werden nach oder während der sich verschärfenden Corona-Krise, das ist heute kaum vorhersehbar. Es zeichnen sich allerdings drei Tendenzen ab.

Angesichts der geschilderten Beispiele wird erstens einmal mehr klar, wie vielfältig die Klasse der Arbeiter*innen ist – sowohl hinsichtlich ihrer Beschäftigungsverhältnisse als auch in ihrer sozialen Zusammensetzung. In den vergangenen Jahren hat sich in der Debatte zwischen sozialer Frage auf der einen Seite und Identitätspolitik auf der anderen Seite eine zweifelhafte Polarisierung zwischen Klassenfragen und Fragen des Antirassismus und des Feminismus entwickelt. In konkreten Kämpfen aber wird sichtbar, dass diese Gegensätze in den Unterdrückungsverhältnissen so nicht existieren. Die Pflegekräfte sind mehrheitlich weiblich, als Arbeiterinnen in sogenannten Frauenberufen ist ihre Arbeit gesellschaftlich abgewertet und ergo schlechter bezahlt. In den privatisierten, outgesourcten Krankenhausbereichen, in denen die Menschen weniger abgesichert und schlechter bezahlt sind, finden sich überdurchschnittlich viele migrantische Arbeiter*innen. Ähnlich ergeht es Verkäuferinnen im Einzelhandel, die selbst in der Gewerkschaft wenig Beachtung finden. Ihre Arbeit wird in der Öffentlichkeit immer noch als »Zuarbeit der Hausfrau« gewertet, auch wenn die Frauen oftmals den Familienunterhalt (mit-)bestreiten oder ganz für sich selbst sorgen. Kund*innen begegnen ihnen mit der Respektlosigkeit und Ignoranz, mit denen Frauen der unteren Klassen oftmals bedacht werden. Die Spargelarbeiter*innen aus osteuropäischen Staaten sind fast vollkommen entrechtet. Die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, aber auch in der häuslichen 24-Stunden-Pflege oder in der Fleischindustrie sind von der Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte geprägt. »Hier zeigt sich deutlich das Zusammenspiel wirtschaftlicher Überausbeutung mit rassistischen Diskursen über Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Ihnen wird unterstellt, sie kämen einzig nach Deutschland, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Solche Diskurse legitimieren die Überausbeutung ideologisch. Ergänzt wird dies durch die relative Entrechtung der ausländischen ArbeiterInnen in Deutschland: Sie haben kein Wahlrecht, können also selbst nur bedingt an politischen Prozessen teilhaben, um an der Situation etwas zu ändern.«[6] [7]

In den konkreten Kämpfen treten aber nicht nur die verschiedenen Unterdrückungsverhältnisse deutlich hervor, auch Möglichkeiten zu ihrer Überwindung werden sichtbar. Arbeitskämpfe werden also immer auch Kämpfe gegen andere Formen von Unterdrückung wie Rassismus oder Sexismus sein.

Die Schlaglichter zeigen zweitens, dass Organisierung ein Prozess ist und kein Zustand. Das wird besonders deutlich in den Arbeitskämpfen, die auf bereits bestehende Organisierung aufbauen konnten, wie die der Amazon-Arbeiter*innen und der Pflegekräfte. Gerade Letztere haben mehr als zehn Jahre Kämpfe in Berlin hinter sich, hatten eine sich verändernde Gewerkschaft im Rücken und waren in den Betrieben verankert, weil sie jahrelang ansprechbar gewesen waren. Und sie wussten, wer von ihren Kolleg*innen wofür ansprechbar ist, ein nicht zu unterschätzender Faktor in Organisierungsprozessen. Sie konnten auch schnell ihre Taktiken ändern, weil sie vorher schon viele andere erprobt hatten. Gleichzeitig funktioniert Organisierung nur über die Vielen. Für die Verkäuferin Kerekes, die als Einzelperson eine Petition gestartet hat, ist es schwierig, andere zu organisieren, also aus der Vereinzelung herauszukommen. Neben der Menge der Organisierenden ist eine Kontinuität der Kämpfe genauso wichtig. Bei den Spargelarbeiter*innen etwa ist fraglich, ob sie sich über den kämpferischen Moment und die mediale Aufmerksamkeit hinaus werden organisieren können, wenn viele von ihnen nach Rumänien zurückkehren und beim nächsten Job vielleicht an einem anderen Ort arbeiten werden.

Schließlich zeigen die Beispiele drittens, dass Arbeitskämpfe sich nicht nur zentral um Lohnfragen drehen, sondern auch um Arbeits- und Lebensbedingungen, da die für physische und psychische Gesundheit von entscheidender Bedeutung sind. Das wurde in den Kämpfen der vergangenen Jahre bereits deutlich, auch bei den Amazon- und Pflegestreikenden, bei denen ebenfalls nicht die Lohnfragen im Vordergrund standen. In Zeiten der Pandemie verschärfen sich diese Kämpfe für das Recht der eigenen Unversehrtheit nochmals. Für alle, die jetzt unter Kolleg*innen und Kranken arbeiten müssen, die nicht zu Hause bleiben können, erhöht sich das Risiko der Ansteckung. Die Amazon-Arbeiter*innen kämpfen seit Jahren gegen Überwachung, gegen den psychischen Druck, der mit dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung in der Arbeitszeit einhergeht. Bei den Pflegekräften ist es ähnlich: Schon vor der Corona-Pandemie haben sie für mehr Entlastung auf der Arbeit und Wertschätzung gekämpft. In der Pandemie geht es vermehrt um Arbeitsschutz, vereinfachte Möglichkeiten sich krankzumelden und darum, genug zu verdienen, damit es zum Leben reicht. Es geht aber auch um Lebensbedingungen, wie der Kampf der Spargelarbeiter*innen gegen ihre desolaten Unterbringungen zeigt, denen dort kaum Schutz vor Infektionen zugestanden wird.

Vielleicht bringt die Pandemie und die mit ihr einhergehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit einen Schub für die Kämpfe von unten. Der Soziologe Peter Birke erinnert daran, dass es auch schon vor Corona prekäre Arbeitsbedingungen gab. Nun ist aber zu befürchten, dass sich sie Situation für viele Menschen verschärfen dürfte – insbesondere für Frauen und Migrant*innen. Aber nicht nur für sie. »Es geht also darum, die besonderen Bedingungen von Migrant*innen in ein Verhältnis zu setzen zu ihrer allgemeinen Bedeutung. Bourdieus altbekannter Satz, dass ›die Prekarität überall‹ sei wird zunehmend zur Banalität, zu einem Allgemeinplatz, und die bisher weitergehend unaufgelöste Schwierigkeit besteht gerade darin, diese soziale Tatsache in emanzipatorische, antirassistische Politik zu übersetzen. Bis dahin finden Solidarisierungen sporadisch auf der Grundlage der Überwindung jener Lücke zwischen Besonderem und Allgemeinem statt: So ist die Forderung nach der Anerkennung sozialer Rechte und Ansprüche für alle hier lebenden Menschen ein Versuch, sowohl die Besonderheit, die Vielfalt von Migration zu verstehen, und zugleich universelle Rechte auf eine menschenwürdige Existenz zu fordern.«[7] [8]

Ob die skizzierten und noch kommenden Kämpfe aber losgelöst voneinander stattfinden und dann möglicherweise wieder zu verpuffen drohen, wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, trotz aller Besonderheiten der jeweiligen Arbeitsbereiche das Gemeinsame der Klassenauseinandersetzungen zu entdecken. Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, ob sowohl die Kämpfenden als auch die sie Unterstützenden einen langen Atem haben werden. Eines jedoch ist trotz Shutdown unverändert geblieben: Das Ende des Neoliberalismus wird nicht an Schreibtischen ausgerufen.

Dieser Beitrag ist entnommen aus »Die Welt nach Corona«, das bei Bertz + Fischer [9] (© 2021) gerade erschienen ist.

Anmerkungen

[1] [10] Die Namen der Amazon-Beschäftigten wurden geändert.

[2] [11] Jonathan Ponciano: Jeff Bezos Becomes The First Person Ever Worth $200 Billion. In: Forbes, 26.8.2020 (online).

[3] [12] Vgl. den Beitrag von Julia Dück in diesem Buch.

[4] [13] Hannes Heine / Sascha Karberg: »Andere Städte hätten auch gerne eine solche Klinik-Reserve«. In: Tagesspiegel, 24.5.2020 (online).

[5] [14] www.change.org/p/peter-altmaier-wir-sind-mehr-wert-als-ein-danke-der-handelsaufstand-beginnt-jetzt [15]

[6] [16] Bafta Sarbo / Sebastian Friedrich: Ausbeutung auf Stereoiden. In: WOZ, 27/2020 (online).

[7] [17]  Peter Birke: Coesfeld und die Folgen: Arbeit und Migration in der Pandemie. In: sozialgeschichte-online.org [18], 27.5.2020.