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September 2014  Druckansicht
Von Franz Segbers

Von der Allianz zwischen Thron und Altar zu einer neuen Bündnispolitik der Kirchen

Die politischen und kirchlichen Eliten waren irritiert, ja verschreckt, als im November letzten Jahres Papst Franziskus mit seinem Schreiben Freude des Evangeliums der herrschenden Wirtschaft entgegenhielt: »Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung. Nein zur neuen Vergötterung des Geldes. Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen. Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.« (Papst Franziskus 2013, Ziff. 52–59) Seine Kritik fasste er zusammen mit der Aussage: »Diese Wirtschaft tötet.« (ebd., Ziff. 53) Auf einer Demonstration der Occupy-WallStreet-Bewegung oder des Weltsozialforums hätte man solche Slogans erwartet, doch nicht aus Rom. Aber auch innerkirchlich war die Irritation groß, forderte der Papst doch eine »arme Kirche«. Diese doppelte Positionierung einer armen und antikapitalistischen Kirche bedeutet in der Sache einen Seitenwechsel, der den Weg öffnet für eine neuartige Allianz mit antikapitalistischen gesellschaftlichen Bewegungen, und entsprechend die Chance für eine neue Bündnispolitik. Impliziert ist außerdem ein Bruch mit dem alten Bündnis zwischen Kirche und Staat.

Seit ihren frühesten Anfängen kämpfte die Arbeiterbewegung für eine Trennung von Staat und Kirche. Dies war mehr als berechtigt, hatte sie es doch mit einem doppelten Gegner zu tun. Staat und Kirche waren in einem ›Thron-und-Altar-Bündnis‹ fest miteinander verbunden. Bis zum Ende der Monarchie war der deutsche Kaiser auch der oberste evangelische Bischof. Die Kirchenleitung war eine Abteilung im Innenministerium. Die Pfarrer wurden angewiesen, regelmäßig über die obrigkeitsfreundlichen Sätze der Bibel zu predigen. Kaiser Wilhelm II. befand Ende des 19. Jahrhunderts kurz und bündig: »Christlich-sozial ist Unsinn.« Gemeint hat er mit dieser Absage alle kirchlichen Bestrebungen, die soziale Frage anzugehen. Die Pfarrer sollten sich um die Seelen kümmern und den Rest dem Staat überlassen. Historisch war die Trennung von Staat und Kirche deshalb eine zentrale emanzipatorische Forderung.

Neue Gestalt der religionspolitischen Macht

Die religionspolitische Macht kehrt gerade mit dem Islam, und zumal seinen radikalen Strömungen, in neuer Gestalt nach Europa zurück. Hier stellt sich die Frage nach der Trennung von Staat und Kirche/Religion neu. Wenn die Religion sich auf der öffentlichen Bühne zurückmeldet, kann eine postsäkulare Position nicht daran vorbei, dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein aus laizistischen und religiösen Traditionen zusammensetzt, die sich gegenseitig befruchten.

Die Neutralität des Staates setzt eine klare Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Verfassungspolitisch meint dies jedoch keine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften. Mit dem Begriff der »fördernden Neutralität« hat das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass die Religionen ihren Beitrag zum Zusammenleben in der Gesellschaft leisten können. Damit redet der Staat den Religionen aber auch in ihre Praxis hinein. Er zivilisiert die Religionen, will beispielsweise über islamische Religionslehrer Einfluss auf die Herausbildung eines europäischen Islams nehmen, der mit den Grundüberzeugungen des Grundgesetzes kompatibel ist. Bezeichnend ist, dass die Inhaber der ersten Lehrstühle, an denen zukünftige islamische Religionslehrer ausgebildet werden, mit den Moscheenvertretungen in Konflikt geraten sind. Auch manch konservativer katholischer Bischof würde es lieber sehen, wenn seine künftigen Pfarrer nicht liberalen Theologien an den Universitäten ausgesetzt wären, sondern in kircheneigenen Hochschulen ausgebildet würden.

Die alte Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche steht in einem neuen gesellschaftspolitischen Kontext: Wird der Staat bei seiner verfassungspolitischen »fördernden Neutralität« gegenüber den Religionen auch dann bleiben, wenn die Kirchen sich gesellschaftlich neu positionieren sollten? Wie gehen die Kirchen ihrerseits mit einer »fördernden Neutralität« um, wenn diese nichts anderes ist als eine sanfte Umarmung, bei der den Religionen zwar Privilegien zugestanden werden, aber um den Preis, dass sie sich zähmen lassen? Wie gehen sie damit um, wenn doch der Papst an der Seite der gesellschaftlich Benachteiligten und Armen steht? Aktuell weichen die Kirchen diesen Fragen aus. Doch gerade deshalb könnte die alte linke Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche für die Kirche selbst zu einer politisch-gesellschaftlich emanzipatorischen Forderung werden.

Vom Thron-und-Altar-Bündnis zur marktkonformen Demokratie

Nicht nur Religionen kehren mit einem religionspolitischen Anspruch zurück. Auch der Staat muss sich heute mehr und mehr gegenüber der Macht der ›Märkte‹ behaupten. Längst treiben diese den Staat vor sich her. Das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus stellt sich neu. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die »fördernde Trennung von Staat und Kirche« eine zivilisierende Wirkung gegenüber den Religionen entfalten konnte, der Staat seine zivilisierende Wirkung gegenüber den Märkten aber weitgehend aufgegeben hat. Ein neuer Konstitutionalismus etabliert sich, bei dem der neoliberale und zunehmend autoritäre Staat für das reibungslose Funktionieren der Märkte sorgt. Während der alte ›demokratische‹ oder Rheinische Kapitalismus die Märkte politisch regulierte, um ökonomische Krisen zu verhindern und den Klassenkonflikt einzudämmen, stellt der neoliberale Staat eine politische Ordnung her, die sich den Anforderungen der Märkte unterordnet. Weniger durch die Staatsgewalt werden einzelne BürgerInnen zur Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse gezwungen, sondern durch die Erosion und Deformierung der sozialen Sicherungssysteme, die Angst vor dem sozialen Absturz hervorrufen.

Die große Krise ist eine Folge eben der Empfehlung an die Politik, sich den Anforderungen der Märkte unterzuordnen. Davon scheinbar unbekümmert empfiehlt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Wir leben ja in einer Demokratie, und das ist eine parlamentarische Demokratie, und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments, und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.« Längst hat sich das alte Thron-und-Altar-Bündnis, gegen das sich die Linke mit der Forderung nach Trennung von Staat und Kirche wendet, in ein Staat-undKapitalismus-Bündnis verwandelt.

Neue Machtkonstellation?

Geradezu irritierend ist in dieser Gemengelage der Auftritt eines Papstes, der aus dem globalen Süden kommt und die verheerenden Folgen des Finanzkapitalismus in der Schuldenkrise in Argentinien selbst erlebt hat. Sein Ideal ist eine »verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist« (ebd.; Ziff. 49). Eine solche Kirche hat ihren Klassenstandpunkt verändert, verlässt ihren Platz an der Seite der politischen und ökonomischen Eliten. Sofort gingen die regimetreuen Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung zur Sache. Rainer Hank, Chefredakteur der FAZ, kommentierte: »Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen.« (FAZ vom 1.12.2013) Der Kapitalismus wird nicht als Ursache der Armut dargestellt, sondern als Lösung des Armutsproblems. Der Papst nennt den Kapitalismus einen »Fetischismus des Geldes« und die »Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel« (ebd., Ziff. 55). Er nennt ihn »an der Wurzel ungerecht« (ebd., Ziff. 59). Dabei scheut er sich nicht, den Kapitalismus mit marxistischen Begriffen wie »Fetischismus des Geldes« zu analysieren. Er begreift ihn als »Götzendienst«, der sich mit seinen »sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems« (ebd., Ziff. 54) gegen jede Kritik abschirmen will. Das ist der Kern: Der Papst wagt es, die Systemfrage zu stellen! Auf einer Veranstaltung in der TheologischPhilosophischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main hat Rainer Hank deshalb im Februar dieses Jahres bekräftigt: »Nicht der Kapitalismus hat sich beim Papst zu entschuldigen, sondern der Papst beim Kapitalismus. Der Kapitalismus hat schließlich siebzig Millionen Menschen allein in China in wenigen Jahren aus der Armut gebracht, während die Kirche nur Almosen parat hält.« Auch Marc Beise von der Süddeutschen Zeitung hält der schonungslosen Kritik des Papstes am Kapitalismus entgegen: »Der Papst irrt.« (SZ vom 1.12.2014) Jüngst hat Papst Franziskus in einem Interview mit der spanischen Zeitung La Vanguardia (9.6.2014) nachgelegt: Der Kapitalismus sei »unerträglich«, er brauche den Krieg wie alle großen Reiche der Geschichte. Durch die Waffenproduktion saniere man die großen Volkswirtschaften und opfere Menschenleben zu Füßen des Götzen Geld.

Veränderung des Kräfteverhältnisses

Wie die soziale Frage sich globalisiert, so auch die Klassenfrage. Angesichts dessen sind die Kirchenleitungen in Deutschland nicht nur provinziell. Sie stehen auch fest an der Seite der Eliten. Im Zentrum des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu Hause, werden die Kirchen in Deutschland aber bedrängt von den Erfahrungen derjenigen Kirchen, die weltweit die Folgen des Finanzkapitalismus zu spüren bekommen, und sind irritiert über die neuen Töne. Nicht allein der Papst positioniert sich klar antikapitalistisch, auch die Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan/Südkorea hatte im November 2013 mit Zustimmung der Delegierten der evangelischen Kirchen in Deutschland eine »Ökonomie des Lebens« gefordert, die sich inhaltlich in weiten Teilen mit den päpstlichen Positionen deckt. »Unsere ganze derzeitige globale Realität«, so heißt es dort, »ist so voll von Tod und Zerstörung, dass wir keine nennenswerte Zukunft haben werden, wenn das vorherrschende Entwicklungsmodell nicht radikal umgewandelt wird und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur treibenden Kraft für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Erde werden«. Es wurde ein siebenjähriger Pilgerweg verabredet, bei dem die Kirchen in einen Beratungsprozess über diese Positionen eintreten sollen. Das zeigt in aller Klarheit: Es gibt erstmals eine große Ökumene vom Papst bis zu den 350 Kirchen aus der ganzen Welt im Ökumenischen Rat der Kirchen, die eine radikale Abkehr vom Kapitalismus einfordern. In diesem Ringen um die ideologische Deutungsmacht tun die politischen Eliten und mit ihnen die Kircheneliten alles, um sich vor dieser großen Ökumene zu schützen oder sie hierzulande erst gar nicht bekannt werden zu lassen!

Die neue Konstellation: Staat-und-Kapitalismus-Bündnis

Wenn das bisherige Thron-und-Altar-Bündnis in ein Staat-und-Kapitalismus-Bündnis umgeformt wird, erhält auch die Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche einen anderen Gehalt und eine andere Stoßrichtung. Eine Kirche, »die zerbeult ist, verletzt und beschmutzt«, teilt das Schicksal der unterdrückten Klassen, die ebenfalls zerbeult, verletzt und beschmutzt werden, und wird deshalb für deren Emanzipation eintreten. Eine solche Kirche wird sich von jenen Privilegien verabschieden müssen, die die politischen Eliten den Kirchen nur zu gern geben, um sie an sich zu binden. Erstmals in der Geschichte hat sich die Christenheit in ökumenischer Klarheit und Einigkeit gegen den Götzen Kapitalismus formiert. Die neuen Dokumente aus Rom und aus den Kirchen, die im Ökumenischen Rat der Kirchen zusammengeschlossen sind, zeigen erstmals unmissverständlich und einmütig eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus als System. Deshalb steht eine Diskussion über systemische Alternativen auf der Tagesordnung. Weltweit machen sich die Kirchen Positionen zu eigen, für die die Akteure des Südens jahrelang von den Kirchen Europas kritisiert wurden. Der globale Süden war seit Jahrzehnten Opfer eines Kapitalismus, der mit seinen Krisen nun auch das ökonomische Zentrum erreicht hat. Werden jetzt die Kirchen in Deutschland von den Einsichten der Kirchen des Südens lernen? Wenn sie es tun, verschiebt sich das Kräfteverhältnis. Noch sperren sich gewichtige Sektoren der Kirchen gegen diesen Druck aus dem Süden, deren Sprachrohr der Papst ist. Sie wiegeln die päpstliche Kritik am Kapitalismus ab. Kardinal Karl Lehmann fragt sich, ob Franziskus die Soziale Marktwirtschaft kennt. Gleichzeitig lobt der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki dessen radikale Kritik. Einig sind sie sich, dass die bestehende Wirtschafts- und Konsumweise ethisch nicht erträglich ist, und plädieren deshalb für eine »große Transformation«. Für diejenigen kirchlichen Akteure, die sich die Kritik aus den Kirchen von Rom bis Busan zu eigen machen, bedeutet dies aber auch, dass sie jenen entgegentreten müssen, die diese große Transformation auf bloße kosmetische Reformen innerhalb des Systems beschränken wollen.

Noch sehe ich nicht, dass die Kirchen den Bruch mit den politischen und ökonomischen Eliten wagen. Doch der Druck der Kirchen an der Peripherie auf die im Zentrum nimmt zu und ermutigt deren progressive Kräfte und Sektoren. Programmatisch haben die über fünfhundert Teilnehmer der Ökumenischen Versammlung, die im Mai dieses Jahres in Mainz tagte, formuliert: »Unser derzeitiges Wohlstandsmodell und unsere Wirtschaftsordnung sind ethisch und ökologisch nicht akzeptabel. Das ganze Leben wird von einer kapitalistische Anhäufungs- und Wachstumslogik beherrscht, die zur ›Staatsreligion‹ geworden ist. Diese beherrscht unseren Alltagsverstand. Zwar erkennen viele, dass wir Nutznießer des Systems sind, aber wir lassen uns immer noch benutzen, dieses System bereitwillig oder gedankenlos zu legitimieren. Wir machen uns dabei eines Verbrechens gegenüber einem Großteil der Menschheit schuldig.« Die Versammlung stellt der Illusion des neoliberalen Kapitalismus eine konkrete Alternative entgegen: »Als weitere konkrete Forderung auf dem Weg ist die Befreiung jedes Menschen auf der Welt aus den Zwängen von Hunger, Krankheit und fehlender Entfaltungsmöglichkeit zu nennen. Daher ist eine solidarische weltweite Grundsicherung umzusetzen. Diese beinhaltet den Zugang zu Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen und regionaler Mobilität als Gemeingüter für jeden Menschen. Sie wird durch die Gründung lokaler und regionaler, profitfreier Kooperativen ermöglicht, wie bereits weltweite Beispiele zeigen. Eine solche kann auch die Kirchengemeinde vor Ort sein.«

Die ökumenische Versammlung in Mainz von Christen und Christinnen aller Konfessionen hat angeregt, dass das Ökumenische Netz in Deutschland zu einer Strategiekonferenz mit den Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und allen Initiativen, die sich für die große Transformation der Gesellschaft einsetzen, einlädt.

Die Opfer und Leidtragenden unseres Wirtschaftssystems und unseres Lebensstils bilden weltweit die übergroße Mehrheit der Kirche. Ihre Erfahrungen, Praxen und Stimmen sind unüberhörbar. Sie fordern die Kirchen und Christen in den Zentren heraus. Heute geht es darum, dass jene Kräfte, die gegen das todbringende System des Kapitalismus und seine Unterstützer kämpfen, in einem Bündnis zusammenfinden.

 

Literatur

Papst Franziskus, 2013: Evangelii Gaudium. Apostolisches Schreiben

Ökumenische Versammlung, 2013: Ökonomie des Lebens, Busan

Ökumenische Versammlung, 2014: Schlussbotschaft, Mainz