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Kanzlerkandidat ohne Mehrheit

Von Horst Kahrs

Die SPD hat als erste Partei einen Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt. Olaf Scholz steht für die Agenda-2010-Politik und hat doch eine vorsichtige Erneuerung eingeleitet. Kevin Kühnert wie die linke Parteiführung sind ein Bündnis mit ihm eingegangen, das die SPD versöhnen soll – schließlich geht es im kommenden Jahr so ziemlich um alles. Ob allerdings eine Konstellation zustande kommen wird, in der Olaf Scholz Kanzler wird, ist mehr als offen.

Den Finanzminister als Kanzlerkandidaten auszurufen, hatte zunächst innerparteiliche Gründe. Man stelle sich vor, die SPD verzichtete angesichts der letzten Wahlergebnisse und Umfragewerte auf den Anspruch, den Kanzler zu stellen. Für das Selbstbewusstsein der SPD wie auch für ihre Position im Parteienwettbewerb und in den Medien ist dieser Anspruch unabdingbar, auch als derzeit 15−17-Prozent-Partei. Alles andere wäre eine auch nach innen desaströs wirkende politische Selbstverzwergung, der die elektorale Verzwergung um so rascher folgen würde.

Unter denjenigen, die für die Rolle in Frage kommen, war Olaf Scholz nicht nur der einzige, der 2021 Kanzler werden will, sondern auch derjenige mit den besten Persönlichkeitswerten. Zu diesen Werten trägt bei, dass er als eigenwilliger Kopf und nicht als Parteifunktionär wahrgenommen wird. Zugleich gilt seine Bestimmung durch den Parteivorstand – statt durch einen Parteitag oder einen Mitgliederentscheid – als ein Akt der innerparteilichen Versöhnung und Heilung. Diejenigen, die ihn beim Kampf um den Parteivorsitz niedergerungen haben, ihm absprachen, überhaupt noch ein Sozialdemokrat zu sein, tragen ihm nun die Spitzenkandidatur und die Aussicht auf die Kanzlerschaft an. Mehr demonstrative Geschlossenheit geht nicht.

Dass die Wahl auf Scholz fiel, deutet auf die sozialdemokratische Wahlstrategie: Wenn die SPD zulegen und tatsächlich ins Kanzleramt kommen will, muss sie Wählerinnen und Wähler gewinnen, die Scholz statt CDU wählen. Bei den „Esken“- und „Kühnert“-Wähler*innen ist nicht mehr viel Luft nach oben. Außerdem würde die Stimmensuche im „linken Feld“ eher in ein Nullsummenspiel mit der Linkspartei führen. Und auf die Mobilisierung von Nichtwählerinnen und Nichtwählern zu setzen, hieße nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre eine politische Sandburg zu bauen. So lautet das erste Ziel, welches mit Scholz erreicht werden soll und muss: Mehr Stimmen von der umfragestarken CDU zu holen als die Grünen, um die „führende Kraft im progressiven Lager“ zu bleiben.

Der Zeitpunkt, zu dem die Kandidatenfrage geklärt wurde, lenkt zusätzliche Aufmerksamkeit (und Druck) auf die Kandidatenfrage bei Union und Grünen. Tritt die Union mit einem Kandidaten an, der über keinen Amtsbonus verfügt und deutlich schlechtere Persönlichkeitswerte aufweist als Markus Söder, könnte die SPD mit Scholz einen Amts- und Vertrauensbonus generieren. In einem Wahlkampf, der von der Corona-Pandemie und ihren Folgen geprägt sein dürfte, könnte Scholz als der verbliebene Krisenmanager womöglich wie einst Angela Merkel „Sie kennen mich“ plakatieren lassen.

Allerdings lebt die Kandidatur von der Hoffnung, dass „CumEx“ und „Wirecard“ nicht an der Person Scholz haften bleiben. Dieses Hoffen ist nicht unbegründet, denn persönlich bereichert oder Vorteile gezogen hat Scholz wohl in beiden Fällen nicht.

Aus Sicht der SPD sprechen also viele Aspekte für den Kandidaten Scholz. Bei der Bundestagswahl geht es für die gesamte SPD allerdings nicht um die Kanzlerschaft, sondern um die eigene Existenz – nicht nur als zweitstärkste Partei nach der Union und vor den Grünen. Jedes Ergebnis, das nicht mindestens eine „2“ vorne stehen hat, würde die Negativ-Dynamik beschleunigen. Diese Erkenntnis eint die Müntefering-Anhänger („Opposition ist Mist“) und die „Raus aus der GroKo“-Anhänger in der Partei. Die frühe und geräuschlose Klärung der Kandidatenfrage erfolgte daher auch mit Blick auf die Landtagswahlen, die in der ersten Hälfte 2021 anstehen. Zeigt der SPD-Pfeil dort am Wahlabend nach oben, entsteht erst wirklich die Hoffnung, dass die Kanzlerkandidatur zu einer ernsten Sache werden kann.

Die SPD hat in den vergangenen fünfzehn Jahren erheblich an organisatorischen und finanziellen Ressourcen verloren. Die Parteistrukturen dünnen aus, wodurch der wahlpolitischen Stärke in den Kommunen und lokalen Alltagswelten der Boden unter den Füßen wegrutscht. Ein weiterer Verlust bei den Wahlen 2021 würde diesen Prozess enorm beschleunigen. Die Mitgliedschaft ist bis 2017 zunehmend „älter“ geworden. In den letzten beiden Jahren hat jedoch ein merklicher Zufluss jüngerer Mitglieder stattgefunden.[1] [1]

In der Not erweist sich die SPD als lernfähig. Das aktuelle Agieren scheint fast einem Drehbuch entsprungen, wie es nach der Fehlerkritik des Wahlkampfes 2017 geschrieben worden sein könnte:

Wie brüchig diese Geschlossenheit ist, zeigte sich am Wahlabend der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen: Die Parteivorsitzende sprach davon, das Ergebnis sei „enttäuschend“, der Partei sei es „nicht gelungen deutlich zu machen, dass es einen Unterschied macht, wo Sozialdemokraten regieren“. Ihr Co-Vorsitzender fand zusammen mit dem Landesvorsitzenden Sebastian Hartmann das Ergebnis hingegen ermutigend, weil man gegenüber den 19 Prozent bei der Europa-Wahl doch deutlich zugelegt habe und vor den Grünen gelandet sei.

Scholz ist der Kandidat, der die Wandlung der „Generation Schröder“ in der SPD verkörpert. Er steht für die SPD derjenigen, die „trotz alledem“ geblieben sind. Er ist nicht der Kandidat der jungen SPD, wie sie eher von Kühnert personalisiert wird. Kühnert ist mit Scholz ein als lieb- und emotionslos wahrgenommenes Bündnis eingegangen und kündigt recht vollmundig an, darin die Rolle des Kochs und nicht des Kellners ausfüllen zu wollen, nachdem Scholz schon unter dem Druck seiner Jusos auf Linkskurs gegangen sei (vgl. taz-Interview 6.9.2020).

Tatsächlich sind Anzeichen einer politischen Neuausrichtung unübersehbar: ein beachtenswertes Sozialstaatskonzept, in der Europa-Politik, bei staatlichen Investitionen, in Sachen Klimapolitik (Ablehnung der Auto-Kaufprämie). Bei seiner Vorstellung als Kanzlerkandidat zog Olaf Scholz drei Linien: Respekt und Anerkennung für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer, ein Zukunftsinvestitionsprogramm, welches um den Klimawandel kreist, und ein starkes Europa.[2] [2] All das kann man durchaus nicht nur als schrittweise Umkehr, Abwendung von „neoliberaler Politik“ verstehen, sondern als Linien einer Neuausrichtung in Sachen sozial-demokratischer Politik. Zumindest ist es als ernsthafter Versuch der politischen Erneuerung mit Hilfe der jungen Mitglieder und mit Bezug auf die gleichen gesellschaftlichen Kräfte/Bewegungen zu verstehen, um die auch die Linkspartei konkurriert.

Das große Problem der SPD in den kommenden zwölf Monaten wird die Beantwortung der Frage sein, wie und mit wem eine hinreichende Kanzler-Mehrheit erreicht werden kann und soll. Aus Perspektive der SPD sind die Grünen ein Wackelkandidat wegen ihrer möglichen Präferenzen für schwarz-grün. Jedenfalls werden sich die Grünen diese Option allein schon aus wahltaktischen Motiven bis zum Wahlabend offenhalten, zumal es derzeit eine große Präferenz für eine solche Koalition in der Bevölkerung gibt. Die FDP versucht sich zwar als mögliche Ampelpartnerin ins Gespräch zu bringen, was derzeit von der SPD zurecht aber als reine Wahltaktik verstanden wird: Die FDP wird einen unbedingten “Wir können und wollen regieren“-Wahlkampf führen müssen, weil sie sonst kaum erklären kann, warum man sie wieder in den Bundestag wählen sollte. Auf die FDP kann die SPD nicht setzen.

Ähnlich verhält es sich mit der Linkspartei, auch wenn sich nun führende Sozialdemokraten offen für eine rot-grün-rote Regierungsmehrheit zeigen. Die Linkspartei hat es aus Perspektive der SPD versäumt, rechtzeitig zu klären, wer für die Partei spricht, auf wessen Wort Verlass ist, und wer innerparteilich erfolgreich an der Vorbereitung einer solchen Option arbeitet. Die aktuellen Debatten in der Partei bestärken diese Sicht in der SPD: Es bräuchte schon eine komfortable Mehrheit, um mit einer kommenden Linksfraktion eine Regierungsmehrheit bilden zu können. Spätestens nach der Wahl eines neuen Parteivorstandes auf dem Parteitag in Erfurt wird die SPD sich festlegen, wie stark sie im Wahlkampf mit der Linkspartei um die gleichen Wählergruppen konkurrieren wird – was dann faktisch bedeutet: vor allem und nur für die eigenen Prozente, nicht für eine Kanzlermehrheit zu kämpfen.

Die jüngsten Wahlergebnisse, in denen die beiden Parteien, zu deren Markenkern die soziale Gerechtigkeit zählt, eher nicht erfolgreich waren – jede für sich und in der Summe der Mandate – lassen bei anhaltender Stärke der Union einen eher langweiligen Wahlkampf erwarten, in dem beide Partei große Mobilisierungsprobleme haben werden. Ändern könnte daran allein die Union etwas, nämlich wenn ihre Vorsitzenden-Wahl und ihre Kandidatenkür eine Dynamik innerparteilicher und persönlicher Auseinandersetzungen auslösen würde. Ohnehin sind in einem Wahlkampf, der unter den Bedingungen einer zumindest heftig nachhallenden Pandemie geführt wird, echte Richtungsentscheidungen nicht zu erwarten. In unübersichtlichen Krisenzeiten lässt man lieber „auf Sicht“ fahren.

Anmerkungen

[1] [3] Mitglieder: Am Ende des Jahres 2000 zählte die SPD 734.667 Parteimitglieder, fast 120.000 mehr als CDU und CSU. Fünf Jahre später, Ende 2005, hatte sie knapp ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren, mit 590.485 Mitgliedern lag sie nur noch um 20.000 Personen vor der Union. Ende 2019 betrug die Mitgliederzahl der SPD noch 419.34, das waren 29 Prozent weniger als 2005. In knapp zwei Jahrzehnten verlor die SPD nahezu 43 Prozent ihrer Mitglieder und mit ihnen entsprechende finanzielle und organisatorische Ressourcen.

Zudem hat sich die Altersstruktur der Mitgliedschaft stark verändert. Waren im Jahr 1990 ein Zehntel der Mitglieder jünger als 30 Jahre und nur ein knappes Viertel über 60 Jahre alt, so waren Ende 2000 nur noch 4,4 Prozent jünger als 30, aber bereits 38,1 Prozent älter als 60 Jahre. In der jüngsten Zeit hat sich durch Neueintritte der Anteil jüngerer Parteimitlieder wieder auf 7,8 Prozent (Ende 2019) erhöhte, gleichzeitig sind aber 56,4 Prozent älter als 60 Jahre. Der Anteil der Angehörigen der mittleren Generation, der 30-59jährigen, sank von 65 Prozent in 1990 über 58 Prozent in 2000 und 51 Prozent in 2005 auf zuletzt nur noch knapp 36 Prozent.

Das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder beträgt 60 Jahre (Union: 61) und steigt (LINKE: 55 Jahre, FDP: 51 Jahre, Grüne: 48 Jahre, jeweils mit sinkender Tendenz).

Mandate: Mandate und ihre finanzielle und organisatorische Ausstattung bilden ein weiteres Rückgrat der Parteiorganisation. Im Vergleich der jeweils beiden letzten Landtagswahlen verlor die SPD in summa 154 oder 26,5 Prozent ihrer Mandate. Sie erreichte nur noch 22,9 Prozent aller Landtagsmandate gegenüber 31,3 Prozent bei der vorletzten Wahl. Davor stellte sie ebenfalls regelmäßig knapp ein Drittel aller zu vergebenden Mandate der Landtage, um das Jahr 2000 herum waren es noch um die 40 Prozent gewesen.

Im Bundestag verfügt die SPD aktuell über 153 von 709 Mandaten (21,9 Prozent). Nach der Bundestagswahl 2005 waren es 222 von 614 Mandaten (36,2 Prozent). Allerdings erfolgte hier der Einbruch bereits 2009, als die SPD nur noch 146 Sitze gewinnen konnte. (2013 gab es eine scheinbare Erholung mit 193 Sitzen, die sich aber allein dem knappen Scheitern von FDP und AfD an der Sperrklausel verdankte.)
Bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 13.9.2020 erreichte die SPD nur noch gut 23% der Stimmen und verlor 18% ihrer kommunalen Mandate von 2014.

[2] [4] Vgl. zur „programmatischen Erneuerung“ von Olaf Scholz auch: Redaktion Sozialismus: Linksbündnis unter Führung von Olaf Scholz?; in: Sozialismus, Heft 9/2020, S. 2-5.