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Juristin und Marxistin – alltägliche Diskrepanz

Von Anne-Kathrin Krug

Als ich von der Redaktion die Anfrage bekam, einen Text darüber zu schreiben, was es heißt als Juristin Marxistin zu sein, fiel mir sofort ein, dass Marx ja auch ein wenig Jura studiert hat, aber schon sehr bald entschieden hatte, dass er nicht bei rechtskritischen Reflexionen stehen bleiben könne, sondern den Forschungsgegenstand ganz wechseln müsse. Bekanntermaßen hat er sich dann der politischen Ökonomie zugewandt. Da ich sehr froh darüber bin, dass er das gemacht hat (ohne zu wissen, ob auch ein guter Jurist an ihm verloren gegangen ist), stellt sich mir die Frage natürlich immer wieder: Welche Stelle hat oder hätte Marx dem Recht dann aber später zugewiesen? Oder marxistisch ausgedrückt: Welche Rolle spielt das Recht in der kapitalistischen Produktionsweise, insbesondere im Produktions- und Zirkulationsprozess? Hat das Recht einen Einfluss auf die Mystifizierung der Aneignung der unbezahlten Mehrarbeit? Und wenn ja, wie und welchen? Welche juristischen Kategorien und Praktiken tragen dazu wie bei? Braucht es eine Kritik des bürgerlichen Rechts (damit meine ich selbstverständlich nicht eine Kritik des BGB)?

Solche Fragen drängen sich auf, wenn man sich als Juristin für eine Marxistin hält. Besonders große Ausführungen gibt es von Marx dazu leider nicht, nur hin und wieder dürftige Andeutungen, nicht selten in Form von Polemiken.

Also lese ich weiter und finde sowohl in entfernter Vergangenheit als auch in der Gegenwart unermüdliche Denker*innen, die sich an genau diesen Fragen versucht haben. Dann stoße ich aber auch auf solche, die sie kritisieren würden, denn warum sollte Recht so eng an die ökonomische Produktionsweise gekoppelt sein? Hat das Recht nicht viel mehr Eigenständigkeit im Sinne einer eigenständigen gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung relativ unabhängig von den ökonomischen Zusammenhängen?

Und so setze ich mich weiteren Fragen aus, ohne die ersten in irgendeiner Weise geklärt zu haben, weil abschließend klären, so lerne ich, kann mensch ja nicht. Aber zumindest auf vorläufige Arbeitsergebnisse habe ich es abgesehen!

Nun. Ich habe ja das Feld nicht gewechselt, wie Karl Marx. Und ich bin auch nicht hauptberuflich mit der marxistischen Rechtstheorie befasst. Das bedaure ich, aber ich wollte mich meistens auch nicht mit dem Wissenschaftsbetrieb konfrontieren. Stattdessen bin ich Rechtsanwältin und teame nebenbei Kapitallesekreise. Die marxistische Rechtstheorie bleibt wohl erst mal dem Broterwerb untergeordnet. Der Umstand, dass ich bei der Juristerei geblieben bin, hat überhaupt keinen Zusammenhang mit wissenschaftlicher Neugier an diesem akademischen Feld (ich halte die Rechtswissenschaft eigentlich nicht für eine Wissenschaft). Es ist eher eine Affinität zur anwaltlichen Berufsausübung, besonders den Gerichtsverhandlungen, den Mandantengesprächen, zum Argumentieren. Bevor ich mich selbst in der rechtsanwaltlichen Praxis kennengelernt habe, wusste ich das alles noch nicht. Zunächst war es neben der Marxlektüre die längste beendete Ausbildung, die sich dann eben auch lohnen sollte. Aber: Muss sich die Marxlektüre jetzt auch für die Juristerei lohnen? Führt die Marxlektüre dazu, dass ich meine Arbeit anders ausführe oder dass ich eine andere Arbeit ausführe als Nichtmarxist*innen?

Auch Nichtmarxist*innen, die als Jurist*innen arbeiten, sind bisher öfter zu Ansichten gekommen, die man auch von einem marxistischen Standpunkt aus vertreten könnte. Dass die Begehung von Straftaten nichts mit einem natürlichen Hang zur Kriminalität oder dergleichen zu tun hat, sondern immer aus einem gesellschaftlichen Kontext, der die Situation der vermeintlichen Straftäterin rahmt, erklärbar ist, ist für viele (auch Nichtlinke) nichts Fremdes. So gibt es auch staatstragende Bestrebungen einer von Heiko Maas eingesetzten “Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte”, die auch endlich die Formulierung “Mörder ist, wer …” aus § 211 StGB entfernen will, weil sie auf die von den Nationalsozialisten vertretenen Lehre vom normativen Tätertyp beruht, nach der die Handlung aus dem Menschentyp ableitbar sei.

Dass die Geschichte offen ist und Veränderungen erkämpft werden können – sowohl über den parlamentarischen als auch den außerparlamentarischen Weg ist nicht nur Marxist*innen bekannt. Sogar die Tatsache, dass ein Prozess politisch geführt werden kann, aber seine Grenzen hat und darüber hinausgehende Änderungen auf politischem Weg in Organisationen erkämpft werden müssen, ist Allgemeinwissen.

Das Recht auf persönliche Freizügigkeit einer jeden Person weltweit wäre etwas, da würden die Meinungen auseinander gehen. Dieses Recht gibt es nicht. Aber es gibt Nichtmarxist*innen, die diese (eigentlich urliberale) Idee (der FDP müssten die Ohren klingeln) offen einfordern. Und die Frage bleibt auch, was daran marxistisch wäre, denn im liberalen Ohr klänge das nach reinstem Wettbewerb unter den Arbeitnehmer*innen, wo dann doch wieder Geschlecht, Herkunft usw. über die Lohnhöhe entschieden.

Sich politisch internationalistisch engagieren, die Arbeiter*innen agitieren, das alles haben schon zu Marx’ Zeiten auch Personen mit anderen Ansätzen gemacht.

Aber die Frage nach der Konstitution unserer Gesellschaft in Abgrenzung zu vorangegangenen Gesellschaften, die Frage nach den alltäglichen Praxen, den Vorstellungen und Begriffen und danach, welche gesellschaftlichen Zusammenhänge in ihnen gar nicht sichtbar sind, das macht Hoffnung auf ein Verständnis von der Gesellschaft, in der wir leben. Und das macht auch Hoffnung darauf, dass wir wissen können, was wir ändern wollen. Das macht Hoffnung auf Veränderung.

So grenzt sich die Frage ein auf die gesellschaftlichen Perspektiven. Mir ist klar: Ich möchte nicht nur Teil einer Armutsverwaltung sein, die im besten Sinne als juristische Vertretung auf der Seite der Unterdrückten steht. Ich möchte Emanzipation nicht nur insoweit unterstützen, als es um die Förderung der informierten, um ihre Rechte wissenden Bürgerin geht. Ich möchte darauf hinweisen, dass mit der Rechtsform Ausbeutung einhergeht, dass die Rechtsform sie gleichfalls schwer sichtbar macht. Ich möchte darauf hinweisen, dass Herrschaft auch durch juristische Formen stattfindet und dergleichen. Ich möchte mich auch gegen eine Überbewertung der Potenziale des bürgerlichen Rechts aussprechen. Auch in unseren Grundannahmen und Verfahren steckt eine Menge überkommener Herrschaft, die ich nicht übernehmen will. Mir geht es um eine nicht-kapitalistische, herrschaftsfreie Gesellschaft, die also keinerlei Warentausch zu regeln hat, keine ausschließliche Verfügungsgewalt über Produktionsmittel festschreibt, keine rechtliche Absicherung von monopolisiertem Reichtum gewährleistet usw.

Das alles kann ich meistens nicht in meine tägliche Praxis einbringen. Mit diesen Grundanliegen im Hintergrund arbeitet es sich auch nicht leichter, sondern teilweise sogar schwerer, weil immer deutlich ist, dass es weder über den Kapitalismus noch über das Recht ausreichend verbreitete Fragestellungen und Grundkenntnisse gibt, die gesellschaftliche Perspektiven in eine denkbare Nähe zu rücken in der Lage wären. Aber diese Diskrepanz muss ich wohl aushalten und das Fragenstellen nicht durch die Aktenberge verbauen. Das ungefähr bedeutet es als Marxistin hier und heute Juristin zu sein.