- Zeitschrift LuXemburg - https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de -

It’s the austerity, stupid!

Von Felix Wiegand

Zwischen kommunalem Sparzwang und einer ›Stadt für alle‹

Die Ankunft der Geflüchteten, ihre Versorgung und ihr Zugang zu Wohnraum, Bildung oder Arbeit, die Organisation des alltäglichen Zusammenlebens und das Entstehen neuer sozialer Gefüge – all diese Herausforderungen und die Fragen, ob und wie »wir das schaffen« (Angela Merkel) und in welche Richtung sich unsere Gesellschaft dabei verändern wird, haben sich im vergangenen Jahr zuallererst auf der lokalen Ebene gestellt. Dies liegt nicht nur daran, dass sich Handlungschancen und -notwendigkeiten hier unmittelbarer ergeben als auf übergeordneten Ebenen des Politischen. Vielmehr sind die Städte und Gemeinden in ihrer Funktion als Kommunen, als lokaler Staat auch formal für die Bereitstellung weiter Teile der »öffentlichen Daseinsvorsorge« (Ernst Forsthoff) oder des »kollektiven Konsums« (Manuel Castells) verantwortlich.

Der Sommer der Migration hat einmal mehr offengelegt, dass diesbezüglich große Lücken bestehen. Vielerorts war und ist die Versorgung der Geflüchteten nur durch das ehrenamtliche Engagement unzähliger Helfer*innen und den Aufbau selbstorganisierter Solidarstrukturen möglich. Gleichzeitig dient diese als »Überforderung« titulierte Krise (lokal-)staatlicher Leistungserbringung den herrschenden Parteien als Legitimation für eine Rückkehr zur Abschottungspolitik. Sie folgen der Argumentation der gesellschaftlichen Rechten, die die offensichtlichen Versorgungsmängel (etwa bei bezahlbarem Wohnraum) nutzt, um alte und neue Bewohner*innen gegeneinander auszuspielen und Geflüchtete für eine real vorhandene Misere verantwortlich zu machen.

Gegen solche Deutungen lässt sich anhand der tatsächlichen Handlungsbedingungen lokaler Politik beispielhaft zeigen, dass die Ursache der Probleme nicht in der Ankunft der Geflüchteten, sondern in der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte liegt. Da wiederum die politischen Spielräume der Städte und Gemeinden maßgeblich über ihre Haushaltssituation bestimmt werden, ist die Entwicklung der Kommunalfinanzen von entscheidender Bedeutung. So wie ein Mangel an finanziellen Ressourcen in der Vergangenheit die materielle Grundlage für die Durchsetzung einer unternehmerischen, neoliberalen Stadt- und Kommunalpolitik bildete, markiert heute ein hartes Regime kommunaler Austerität das Terrain, auf dem sich die aktuellen Kämpfe vollziehen und auf dem eine notwendige sozialpolitische Offensive von links ansetzen könnte.

Zur Funktionsweise der Kommunalfinanzen

Versucht man die Entwicklung der finanziellen Handlungsfähigkeit des lokalen Staates in den letzten Jahrzehnten zu erklären, so ist zunächst offensichtlich, dass diese im Wesentlichen den Konjunkturzyklen folgt. Charakteristisch ist demnach eine wellenförmige Bewegung des Finanzierungssaldos, deren Dynamik von den großen Wirtschaftskrisen sowie den dazwischenliegenden Phasen relativer ökonomischer Prosperität bestimmt wurde. Diese Rückkoppelung ergibt sich unmittelbar aus der Funktionsweise der Kommunalfinanzen (vgl. Reiner 2010). Sowohl einnahmeseitig (Gewerbesteuer und Gemeindeanteil an der Einkommensteuer) als auch ausgabenseitig (Sozialleistungen) werden zentrale Parameter maßgeblich von der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflusst. Infolgedessen übersetzen sich Wirtschaftskrisen regelmäßig in Finanzkrisen des lokalen Staates. Ebenso stehen die kommunalen Haushalte dort, wo die ökonomische Entwicklung aufgrund eines Strukturwandels krisenhaft verläuft (etwa im Ruhrgebiet oder in Teilen Ostdeutschlands), dauerhaft unter Druck.

Da die grundlegenden Einnahmen- und Ausgabenparameter der Kommunen auf den übergeordneten Ebenen des Staates gesetzlich festgelegt werden, bleiben den Kommunen in Krisensituationen nur geringe Handlungsoptionen. Sie versuchen zum einen, über die Erhöhung lokaler Steuern, Beiträge und Gebühren, die Veräußerung kommunalen Vermögens oder riskante Finanzgeschäfte die Einnahmen kurzfristig zu steigern. Zum anderen erfolgen Kürzungen bei Sachinvestitionen und beim Personal sowie bei all jenen sozialen Infrastrukturen, deren konkreter Leistungsumfang, wie im Fall der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit, nicht genau festlegt ist, oder die, wie Schwimmbäder, Stadtteilbibliotheken und Theater, als ›freiwillig‹ gelten – deren Existenz beziehungsweise Zugänglichkeit gleichzeitig aber sehr direkt über die Lebensqualität und die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten entscheidet.

Folgen des neoliberalen Staatsumbaus Diese Funktionsweise der Kommunalfinanzen ist freilich nicht naturgegeben, sondern selbst das Ergebnis politischer Kräfteverhältnisse. Eine angespannte Finanzlage und umfangreiche Leistungseinschränkungen sind in vielen Städten und Gemeinden bereits im Verlauf der 1980er Jahre, spätestens jedoch seit den 1990er Jahren auch über konjunkturelle Schwankungen hinweg zum Normalzustand geworden. Dies lässt sich nicht allein mit der generell sinkenden Wachstumsdynamik seit dem Ende des Fordismus erklären. Vielmehr handelt es sich um ein Resultat der umfassenden Neoliberalisierung staatlicher Politik sowie des damit verbundenen Siegeszugs von Austerität als »politischem Projekt« (Ingo Stützle) – das heißt der Verallgemeinerung und institutionellen Festschreibung des Ideals eines ausgeglichenen Staatshaushalts. Da die Kommunen innerhalb des föderalen Staatsaufbaus am unteren Ende der Hierarchie stehen, aber auch weil sich hier die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge räumlich konzentrieren, waren und sind sie von dieser Politik und ihren Folgen besonders betroffen.

Beispielhaft ist das Feld der Steuerpolitik: Beginnend in den späten 1970er Jahren wurde die Gewerbesteuer schrittweise derart beschnitten, dass sie heute nur mehr auf den Ertrag einiger weniger (Groß-)Unternehmen erhoben wird. Als Konsequenz hat sich die Steuerbelastung für die Wirtschaft verringert, die Konjunkturanfälligkeit der kommunalen Haushalte dagegen massiv erhöht. Aufgrund ihrer prozentualen Beteiligung an den Gemeinschaftssteuern waren die Kommunen gleichzeitig auch direkt von den umfangreichen Steuersenkungen betroffen, die in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt von der rotgrünen Bundesregierung auf nationaler Ebene vollzogen wurden. Diese Entwicklung wiegt besonders schwer, da die parallel vorangetriebenen Reformen der sozialen Sicherungssysteme sowie die Etablierung neuer Leistungen und Standards ohne ausreichende Gegenfinanzierung eine Kostenverschiebung von oben nach unten in Gang gesetzt haben. Zuletzt wurde diese Tendenz durch die Übernahme der Kosten einzelner Sozialleistungen durch den Bund zwar gebremst, nicht jedoch grundsätzlich umgekehrt. Im Ergebnis leiden die Kommunen daher bis heute besonders unter der strukturellen Unterfinanzierung des deutschen (Sozial-)Staates.

Das Regime kommunaler Austerität

Das Fehlen finanzieller Ressourcen wirkt sich vor allem deshalb unmittelbar auf die politische Handlungsfähigkeit von Städten und Gemeinden aus, weil sie nur sehr begrenzt Haushaltsengpässe durch Kreditaufnahme ausgleichen können. Vermittelt über die Gemeindeordnung und die Kommunalaufsicht der Länder sind sie einer vergleichsweise strengen Haushaltsdisziplin unterworfen. Obwohl die kommunalen Verbindlichkeiten weniger als zehn Prozent der staatlichen Gesamtverschuldung ausmachen, wurden diese Regelungen in den letzten 30 Jahren weiter verschärft. Damit wurde auf Ebene der Kommunen eine Institutionalisierung von Austerität vorweggenommen, die für Bund und Länder erst mit der Einführung der Schuldenbremse Realität geworden ist. Exemplarisch ist hierfür das »Haushaltssicherungskonzept« zur Überwachung der kommunalen Haushaltsführung, das in den meisten Bundesländern zur Anwendung kommt. Mit der in den 2000er Jahren aus der Privatwirtschaft übernommenen doppelten Buchführung ›Doppik‹ wird die Rationalität einer permanenten finanziellen Knappheit auch dort als handlungsleitende Maxime verankert, wo die Haushaltssituation de facto politische Handlungsspielräume eröffnen könnte.

Demgegenüber zielen sogenannte Sparkommissare, die von den Ländern vereinzelt eingesetzt werden, um vor Ort auch gegen den Willen der gewählten Gemeindevertreter*innen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung durchzusetzen, auf besonders stark verschuldete Städte. Gleiches gilt auch für die kommunalen ›Rettungsschirme‹, die unter anderem als Reaktion auf die Einführung der Schuldenbremse aufgelegt wurden. Da die darin enthaltenen Finanzhilfen vielerorts lediglich die zuvor erfolgten Kürzungen von Landeszuweisungen kompensieren und in ihrem Umfang begrenzt sind, erscheinen diese Programme kaum geeignet, die finanzielle Situation der Städte und Gemeinden dauerhaft zu verbessern. Stattdessen reihen sich die harten Konsolidierungsmaßnahmen, zu denen sich die teilnehmenden Kommunen vertraglich verpflichten, in die Kürzungspolitik der letzten Jahrzehnte ein, während gleichzeitig die lokale Demokratie und die verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung weiter eingeschränkt werden (vgl. für Hessen Eicker-Wolf 2015).

Zeiten und Räume kommunaler Austerität

Angesichts der beschriebenen Entwicklungen lässt sich konstatieren, dass das Regime kommunaler Austerität eine zentrale Form ist, in der die Dynamiken und Widersprüche der neoliberalen Entwicklungsweise in der Bundesrepublik gegenwärtig ihren Ausdruck finden. Auf die offenkundigen Parallelen zum Modus der Krisenbearbeitung auf europäischer Ebene verweist – wenn auch unfreiwillig – die Parole »Wir sind Griechenland«, mit der einzelne Ruhrgebietskommunen in der jüngsten Krise versucht haben, auf ihre dramatische finanzielle Situation aufmerksam zu machen. Neben dem Umfang der Kürzungsmaßnahmen besteht eine wichtige Differenz gegenüber der europäischen Austeritätspolitik jedoch in der Geschwindigkeit der Prozesse: Hierzulande erfolgte die Durchsetzung kommunaler Austerität weniger im Rahmen einer kurzfristigen, offen autoritären politischen Offensive, einer sogenannten ›Schock-Strategie‹ (Naomi Klein). Vielmehr handelt es sich um einen langfristigeren Prozess, der ‚scheibchenweise‘ und ungleichzeitig über einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren verlief.Damit sind Gewöhnungs- und Normalisierungseffekte verbunden, die eine Politisierung und die Formulierung von Alternativen erschweren. Dies gilt umso mehr, als die Herausbildung des kommunalen Austeritätsregimes mit dem Prozess der Neoliberalisierung städtischer und kommunaler Politik Hand in Hand ging, wodurch sich die reale Einschränkung von Handlungsspielräumen und die ideologische Affirmation von Privatisierungs- und Kürzungspolitiken wechselseitig verstärken und stabilisieren konnten.

In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die hier sehr allgemein dargestellte Entwicklung in der Realität lokal spezifisch und höchst ungleich verlaufen ist. So hat die Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte zuallererst strukturschwache Kommunen getroffen und die dort ohnehin geringen Ressourcen zur Gestaltung der örtlichen Belange weiter geschmä- lert. Etwa in schrumpfenden Regionen wurde so eine kumulative Abwärtsspirale befördert. Obwohl Austerität auch in prosperierenden Kommunen eine materielle und insbesondere ideologische Wirkung entfaltet, sind diese eher in der Lage, über geringe Steuersätze oder gezielte Stadtentwicklungsmaßnahmen die eigene Position in der interkommunalen Konkurrenz zu verbessern. Dieses Muster setzt sich zudem innerhalb der Städte und Gemeinden fort, wo einzelne Nachbarschaften und Viertel häufig ganz unterschiedlich mit Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgestatten sind. In der Konsequenz hat das Maß an sozialräumlicher Ungleichheit in Deutschland zuletzt ein Rekordniveau erreicht, das sich in der nachhaltigen Peripherisierung ganzer Landstriche niederschlägt (vgl. Albrech et al. 2016).

Die lokalen Folgen der Austeritätspolitik

Mit der Frage der sozialräumlich ungleichen Entwicklung sind bereits die immensen gesellschaftlichen Folgen angesprochen, die das Regime kommunaler Austerität hat. Während der milliardenschwere Investitionsstau im Bereich der physischen Infrastruktur zuletzt sogar von Unternehmensverbänden oder Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel als Gefahr für den ›Standort Deutschland‹ problematisiert wurde, erfahren die im engeren Sinn sozialen und politischen Auswirkungen dieser Politik weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit. Neben den negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungsverhältnisse sind diesbezüglich zuallererst die eklatanten Versorgungslücken zu nennen, die entstehen, wenn Kommunen Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge privatisieren, sogenannte freiwillige Leistungen kürzen oder die Gebühren und Eintrittspreise für Kitas, Museen oder Schwimmbäder erhöhen. Derartige Maßnahmen wirken sozial höchst selektiv, da sie vor allem jene Bevölkerungsgruppen negativ betreffen, die wie Geringverdiener*innen, Arbeitslose, Migrant*nnen oder Alleinerziehende besonders auf staatliche Leistungen angewiesen sind. In der kommunalen Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte liegt somit eine der zentralen Ursachen für die Krise der sozialen Reproduktion samt ihrer hochgradig vergeschlechtlichten Implikationen (vgl. Winker 2012). Auf der Ebene der Subjekte finden der Abbau sozialer und kultureller Infrastrukturen zudem in nachhaltigen Erfahrungen der Deklassierung, Exklusion und Ohnmacht ihren Niederschlag.

In Verbindung mit dem realen Verlust kommunalpolitischer Steuerungsmöglichkeiten ist in diesen subjektiven Erfahrungen auch eine mögliche Ursache dafür zu suchen, dass die Beteiligung an Kommunalwahlen insbesondere in struktur- und finanzschwachen Gemeinden nur noch äußerst gering ausfällt und viele Parteien beklagen, kaum mehr motivierte Kandidat*innen für kommunalpolitische Ämter zu finden. Obwohl Kommunalpolitiker*innen und insbesondere Bürgermeister*innen in Umfragen immer noch deutlich bessere Vertrauens- und Zufriedenheitswerte aufweisen als Bundes- und Landespolitiker*innen, herrscht offenkundig auch hier ein Legitimationsdefizit und eine Krise der (lokalen) Repräsentation. Diese Situation wird dadurch weiter befeuert, dass die austeritätspolitische Rhetorik von der Alternativlosigkeit einer ›sparsamen‹ Haushaltsführung häufig auch in jenen Städten und Gemeinden die (post-)politische Szenerie bestimmt, die durchaus über Mittel für eine alternative, sozial orientierte Kommunalpolitik verfügen würden.

»Stadt für alle« statt Austerität und Spaltung

Wie die vergangenen Monate gezeigt haben, erleben wir eine neue Qualität gesellschaftlicher Polarisierung – mit dem aus linker Perspektive grundlegenden Konstruktionsfehler, dass diese sich nur zwischen dem neoliberalen Lager von Merkel & Co. sowie jenem der rassistischen, nationalistischen Rechten zu vollziehen scheint. Demgegenüber tritt der dritte solidarische Pol bisher ›lediglich‹ über seine Praxis konkreter Hilfe und über seine antirassistische Positionierung, nicht jedoch als politisches Projekt in Erscheinung, das soziale Unterstützung mit politischer Veränderung zu verbinden versucht. Um diesen Pol zu artikulieren, wäre eine sozialpolitische Offensive von links notwendig, die Fragen der Entstehungsbedingungen und der Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, der gemeinsamen Lebensweise und der Demokratie in den Fokus rückt und so das Konfliktterrain in Richtung Klassenauseinandersetzung verschiebt.

Chancen …

Für eine solche Offensive bietet sich die lokale Ebene als Ausgangspunkt an. Gerade unter den Bedingungen kommunaler Austerität wird der Gegensatz zwischen dem privaten Reichtum einiger weniger und Milliarden- überschüssen in der gesamtstaatlichen Haushaltsbilanz einerseits und dem Mangel an Ressourcen zur Gewährleistung einer sozialen Infrastruktur für alle andererseits unmittelbar sichtbar. In den Konflikten um die Zuständigkeiten, Ressourcen und demokratischen Qualitäten des lokalen Staates eröffnet sich somit die Möglichkeit, Kämpfe um konkrete Verbesserungen des Status quo mit einem grundlegenden Angriff auf die herrschende Krisen- und Austeritätspolitik zu verbinden.

Für derartige Interventionen scheint die Situation mit Blick auf die ›subjektive Seite‹ der Bewegungen aktuell durchaus vielversprechend. So existieren nicht nur gewisse Erfahrungswerte, wie sich auf lokaler Ebene beispielsweise die Perspektive von »Recht auf Stadt« mit dem Problem von Austerität und sozialer Spaltung verknüpfen lässt (vgl. Recht auf Stadt – Ruhr 2014) oder wie beim Bündnis »Never mind the Papers« in Hamburg mit Fragen von Migration und Antirassismus. Vielmehr hat sich in den vergangenen Monaten auch der Kreis derer, die selbst aktiv sind oder politisch adressiert werden können, erheblich über das klassische Bewegungsmilieu hinaus erweitert. Diese Neuzusammensetzung der Gruppe der Aktiven reicht von den Geflüchteten selbst über die unzähligen Unterstützer*innen bis hin zu all jenen, die sich im Protest und Widerstand gegen Pegida und AfD politisiert haben. Neben einer neuen Vielfalt innerhalb des Bewegungsspektrums erscheint auch die Verbreitung einer politischen Haltung bemerkenswert, die sich nicht zuallererst aus einer allgemeinen Einsicht in die Verhältnisse, sondern aus direkter Betroffenheit und dem individuellen – und gleichzeitig massenhaft geteilten – Gefühl einer unmittelbaren Handlungsnotwendigkeit speist. Schließlich hat das letzte Jahr, trotz aller Schwierigkeiten, eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich breit geteilte Erfahrung der alltäglichen Solidarität und kollektiven Selbstermächtigung hinterlassen, an die sich politisch anknüpfen lässt.

… und Herausforderungen

Trotz günstiger Bedingungen steht jeder Versuch einer sozialpolitischen Offensive von links jedoch vor einer Reihe von Herausforderungen. Diesbezüglich erscheint erstens problematisch, dass die gesellschaftliche Linke gerade in jenen sozialen Milieus und geografischen Räumen, die besonders von Austerität und den damit verbundenen Versorgungslücken betroffen sind, nur sporadisch präsent ist. Dieser Verdoppelung der sozialräumlichen Ungleichheit in der eigenen Politik müsste aktiv entgegengewirkt werden – etwa durch ein Projekt solidarischer (Klassen-)Organisierung, das, wie etwa die Plattform der Hypothekenbetroffenen in Spanien (PAH), explizit sozial und politisch ausgerichtet ist. Wie voraussetzungsvoll sich die Verknüpfung dieser beiden Logiken real gestaltet, zeigt sich etwa in den »Stadt für alle-Initiativen«, die in den letzten Monaten gegründet wurden, um die Vernetzung der solidarisch Aktiven mit einer spektrenübergreifenden Diskussion um die Notwendigkeit (stadt-)politischer Interventionen zu verbinden. Eine zweite Herausforderung besteht darin, politische Formen der kollektiven Verständigung, Allianzbildung und Organisierung zu (er-)finden, die der Heterogenität der politischen Subjekte und Akteure angemessen sind, zugleich aber offensiv in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzugreifen vermögen.

Damit geraten drittens unweigerlich die Institutionen des lokalen Staates in den Blick. Dies betrifft zum einen das Verhältnis von ehrenamtlichem Engagement und selbstorganisierten Solidarstrukturen zu staatlichen Stellen. Die Notwendigkeit der Unterstützung der bestehenden Initiativen, aber auch die Problematik der politischen Repräsentation des darin aufscheinenden gesellschaftlichen Pols der Solidarität verweist zum anderen auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen linker Kommunalpolitik. Neben der Analyse entsprechender Projekte zu anderen Zeiten (vgl. Lichtenberger et al. in diesem Heft) und an anderen Orten (vgl. Giovanopoulos in diesem Heft) wäre diesbezüglich auch die systematische Auswertung der hierzulande gesammelten Erfahrungen hilfreich. Insofern derartige Projekte ohne eine Veränderung der (austeritäts-)politischen Rahmenbedingungen auf den übergeordneten Ebenen des Staates kaum Erfolgsaussichten haben, stellt sich schließlich viertens die Herausforderung einer ebenenübergreifenden Strategie. Analog zur Austeritäts- und Krisenpolitik der Herrschenden und den aktuellen Bemühungen zur Restabilisierung des europäischen Grenzregimes müsste auch die gesellschaftliche Linke versuchen, ihre lokale Praxis stärker als bisher mit einer Orientierung auf überregionale Dynamiken und den europäischen Raum der Kämpfe zu verbinden. Die nächste Gelegenheit, dies praktisch werden zu lassen, bietet sich im Rahmen eines von Blockupy und vom Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« ausgehenden Aktionswochenendes am 2. und 3. September in Berlin, im Herzen der Bestie.

 

Literatur

Albrech, Joachim/Fink, Philipp/Tiemann, Heinrich, 2016: Ungleiches Deutschland: Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015, library.fes.de/pdf-files/ [1] wiso/12390.pdf
Eicker-Wolff, Kai, 2015: Zur Austeritätspolitik der Kommunen in Hessen, Arbeitspapier des DGB Hessen-Thüringen Nr. 10 unter Mitarbeit von Gökay Demir, http:// hessen-thueringen.dgb.de/++co++db8aa552-2eb9-11e5- 8a1c-52540023ef1a
Recht auf Stadt – Ruhr, 2014: Von Detroit lernen! Manifest für ein Recht auf Stadt im Ruhrgebiet, www.rechtaufstadt-ruhr.de/files/2014/08/Von-Detroit-lernen.pdf
Reiner, Sabine, 2010: Städte und Gemeinden in Not, in: LuXemburg 4/2010, 50–58
Winker, Gabriele, 2012: Die Erschöpfung des Sozialen, in: LuXemburg 4/2012, 6–13

Anmerkungen

1 Die Anpassungen in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wende bilden hier eine wichtige Ausnahme.