| »Innerhalb der EU und gegen sie«. Bilanz der portugiesischen Anti-Austeritätsregierung – und was sie für Großbritannien bedeutet

Juni 2019  Druckansicht
Von Hilary Wainwright

Die Wahl zwischen einem schwerkalkulierbaren Brexit und einer neoliberalen Europäischen Union vor Augen, mag es aus britischer Perspektive weiterführend sein, aus den Erfahrungen einer Regierung zu lernen, die es geschafft hat, neoliberale Austerität aus dem Inneren der EU herauszufordern. In Portugal kommt derzeit eine solche Regierung ans Ende ihrer vierjährigen Legislaturperiode. Die Parteien, die in ihr führend oder mit ihr verbunden sind, werten die Erfahrung für sich aus und bereiten ihre Programme für die Wahlen im Oktober vor. In diesen Wochen erkundete ich die Diskussion vor Ort, auf der Suche nach einer Alternative zwischen Brexit oder fragloser Akzeptanz der EU-Verträge – denn evtl. erhält die britische Bevölkerung noch die Möglichkeit einer weiteren Abstimmung. 

Die Erfahrung der Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei (PS) in Portugal – die die von der Troika aufgezwungenen Einschnitte in Löhne, öffentliche Dienste und soziale Sicherheit durch eine Allianz mit Parteien der radikalen Linken rückgängig machte – ist in Europa eine bemerkenswerte Ausnahme (vgl. Candeias 2017, Candeias/Principe/Mortagua 2017). Zunächst handelt es sich um eine Minderheitsregierung, angeführt von einer sozialdemokratischen Partei, die, statt sich mit dem rechten Zentrum zu verbünden, wie es ihre Schwesterparteien getan haben, ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei (PCP, eine orthodoxe Kommunistische Partei und führende Kraft in der Überwindung der Salazar-Diktatur) und der pluralen radikalen Linken Bloco Esquerda einging (BE –  zunächst eine Verschmelzung maoistischer und trotzkistischer Gruppen, zog der Bloco seit seiner Formierung 1999 Aktivist*innen sozialer Bewegungen und radikale Intellektuelle an).

Die PS-Regierung brach mit den bisherigen Grundsätzen der EU durch  eine Kombination aus scharfsichtiger, wiewohl risikoreicher Diplomatie (dies eine weithin anerkannte Fähigkeit des Premierministers und PS-Generalsekretärs Antonio Costa) und Punktsiegen gegen EU-Institutionen, wann immer diese versuchten, Anti-Austeritätsmaßnahmen zu blockieren. Da die EU nach 2016 kein zweites Griechenland und kein weiteres destabilisierendes Element neben dem Brexit wollte, war sie in keiner starken Position, um ihre Politik durchzusetzen. Doch am entscheidendsten war die Machtbalance auf nationaler Ebene, in Portugal selbst, bedingt durch die Stärke des BE und der PCP als neuen Verbündeten des PS, die unnachgiebig und mit breiten Kampagnen darauf drängten, dass die getroffenen Vereinbarungen eingehalten würden. Ihre Kraft und politische Beharrlichkeit machten es der PS-Regierung unmöglich, der EU nachzugeben um im Amt zu bleiben. Bei einigen Themen, wie etwa dem Anstieg des Mindestlohns und der Sicherheit prekär Beschäftigter, machten der Bloco und zumeist auch der PCP klar, dass sie ihre Unterstützung für das Regierungsbündnis zurückziehen würden, falls diesbezügliche Vereinbarungen nicht eingehalten würden.

Voraussetzungen einer ungewöhnlichen Allianz

Die Sozialistische Partei hatte den Kollaps ihrer Schwesterpartei Pasok in Griechenland vor Augen. Die Angst vor der Pasokifizierung (auf Portugisisch „Pasokificao”) wurde in den Gesprächen mit Abgeordneten, Minister*innen und  Aktiven des PS häufig benannt. Die PS verfolgte bis 2015, wie die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa, einen neoliberalen Kurs. Noch bis 2011 setzte eine sozialistische Regierung unter dem später wegen Korruption verhafteten Ministerpräsidenten José Sócrates die Vorgaben der Troika um. In den Jahren 2011 bis 2015 regierte eine rechte Koalition das Land. Nachdem der Stimmenanteil der Pasok in Griechenland von 43,9 Prozent im Jahr 2009 auf 6,3 Prozent bei den Wahlen im September 2015 abgestürzt war, wurde auch für die PS in Portugal eine Fortführung der alten Politik, eventuell in einer Koalition mit der Rechten, zu einer Bedrohung: die PS wäre der Pasok ins Familiengrab der europäischen Sozialdemokratie gefolgt.

Der neue Kurs war eine programmatische Überraschung und schuf mit seinem populären Anti-Austeritätsprogramm Vertrauen. Denn zunächst galt das linke Überraschungsbündnis, als „geringonca“, als „klapprige Kiste“, wie es abfällig genannt wurde. Weder die Rechte noch die EU-Funktionär*innen glaubten, dass es Bestand haben könnte. Die Partei von Mario Soares, der Portugals Integration in die EU und die NATO bewerkstelligt hatte, befand sich nun in einem Bündnis mit zwei Parteien, die der EU ablehnend gegenüber stehen. Kommentator*innen glaubten, die Regierung werde in einem Jahr zusammenbrechen, und die PS sich einer Koalition mit der rechten PSD zuwenden (da nach der Revolution von 1974 keine Partei einen Namen wollte, der sich mit der Rechten verband, nannte sich die Rechte merkwürdigerweise „Partei der Sozialen Demokratie“)., Dann wäre die von der Troika gewünschten Austeritätsmaßnahmen fortgeführt worden. Doch das Bündnis der Linken hielt.

Ein weiterer Faktor, der die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Troika erklärt, ist das Erbe der Nelkenrevolution von 1974 mit seinen demokratischen Institutionen. Gewiss, viele der radikaleren sozialistischen Errungenschaften Revolution – angetrieben durch die hauptsächlich kommunistische geführten Landbesetzungen der Latifundien im Alentejo sowie der Besetzungen von Werften und großen Fabriken – wurden durch die moderaten und antikommunistischen Kräfte (in denen die PS unter Mario Soares eine Führungsrolle spielte) wieder zurück gedrängt. Gleichwohl hatte der radikal demokratische und egalitäre Umsturz autoritärer Herrschaft eine bleibende Wirkung auf die Institutionen: die überall präsente demokratische Kraft der portugiesischen Revolution, wie auch ihre Entstehung aus dem Militär, verhinderte eine konservative Kontinuität wie in Spanien nach der Zeit Francos.

Zwei Besonderheiten der portugiesischen Demokratie stechen als Bedingungen für die Fähigkeit des Landes heraus, sich als EU-Mitglied gegen die Versuche derselben zu verwahren, den portugiesischen Bürger*innen gegen ihren Willen neoliberale Regeln aufzuzwingen, wie es in Griechenland gelungen war. Da ist zum einen der Charakter der post-revolutionären, 1976 verabschiedeten Verfassung mit ihrem Kernprinzip sozialer und ökonomischer Rechte und ihrem wachsamen Verfassungsgericht. Bei mehreren Gelegenheiten in den Jahren 2013 und 2014 intervenierte das Verfassungsgericht gegen Austeritätsmaßnahmen, die unter Druck der Troika von der Legislative verabschiedet worden waren. Jorge Manuel da Silva Sampaio, Richter am Verfassungsgericht seit 2014, erinnert sich an eine Regelung, die die Kündigung öffentlich Bediensteter erleichtern sollte. „Das Gericht befand sie für verfassungswidrig, weil sie den legitimen Erwartungen der öffentlich Bediensteten zuwiderlief”, so Sampaio. Ebenso untersagte es Maßnahmen zur Absenkung der Löhne öffentlich Bediensteter als verfassungswidrig. Diese Interventionen des Verfassungsgerichts fanden Widerhall in der Gesellschaft, gegen den verbreiteten Fatalismus spornten sie zur Hoffnung an. Der wachsende kollektive Widerstand ab 2013 – mit Massendemonstrationen von bis zu einer Million Teilnehmenden bei einer Bevölkerung von nur zehn Millionen – gewann durch die ständige Aufmerksamkeit des Gerichts ohne Zweifel einiges an Legitimität. Sampaio berichtet anekdotisch über dessen Popularität: „Es war lustig, ich erinnere mich sogar an ein Mädchen, das ein T-Shirt mit der Aufschrift ‚Ich liebe das Verfassungsgericht‘ trug. Stell dir das vor, ein T-Shirt zu kaufen, auf dem ein Herz neben dem Wort ‚Verfassungsgericht‘ steht!“

Eine weitere Eigenschaft der parlamentarischen Institutionen Portugals, die die Anti–Austeritäts-Allianz möglich machten, ist ihre ungewöhnliche Offenheit. Ein Aspekt dabei ist ein Verhältniswahlrecht ohne Hürden, die die parlamentarische Repräsentation kleinerer Parteien beschneiden. Diese Parteien konnten so eine Präsenz im Parlament halten und aufbauen. In der Folge konnte etwa der Bloco praktisch stetig wachsen, von 2,4 Prozent im Jahr 1999 auf 10,2 Prozent im Jahr 2015 (von zwei auf 19 Sitze von 230). Die PCP als Partei mit stabiler Unterstützungsbasis in den wichtigsten Industrie- und Landwirtschaftsregionen hielt ihre Position als respektierter Teil der politischen Szene – bei etwa  8-9 Prozent seit den frühen 1990er Jahren (und 16-17 Parlamentssitzen).

Die Tolerierung der sozialistischen Regierung durch die radikale Linke eröffnete die Möglichkeit „in und gegen“[1] die EU zu sein, da der Bloco und die PCP ihre Unabhängigkeit von der Regierung wahrten. So können sie sich für langfristige Ziele eines radikalen und strukturellen Wandels einzusetzen (auch gegen die Grundsatzverträge der EU), während sie gleichzeitig Maßnahmen verhandeln (durch Einsatz in den Institutionen der EU), die auf einen Rückbau der Politiken der Troika und der früheren Rechtskoalition „Portugal voran“ abzielten. Dies bedeutete, die Lage der zweieinhalb Millionen Menschen zu verbessern, die in Zeiten der der Troika-Politik unterhalb der Armutsgrenze leben mussten, die hohen Arbeitslosenzahlen abzubauen (die Jugendarbeitslosigkeit hatte 41 Prozent erreicht), unter der Troika abgebaute Arbeitsrechte wiederherzustellen. Dies hatte Hoffnung und ein Vertrauen in die Möglichkeit der Veränderung zur Folge, produzierte Erwartungen und weckte Forderungen nach weitergehendem Wandel. Mit anderen Worten: ein offenes Verhältniswahlrecht macht es möglich, dass Parteien gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen arbeiten und so die Komplexität und Hybridität großer politischer Probleme, wie das Verhältnis eines Nationalstaates zur EU, weit besser ausdrücken als es das Zweiparteiensystem Großbritanniens tut.

Die Praxis des Abkommens

Dieses sind also die Charakteristika von Portugals vierjähriger Erfahrung ‘in und gegen’ die EU. Es folgt eine Chronologie dessen, was geschah und worauf viele nach den Wahlen im Oktober hoffen:

Bei den Wahlen von 2015 gewann die Rechtskoalition „Portugal voran“ den höchsten Stimmenanteil aller Parteien, doch nicht genügend, um ihre Budgetpläne durchs Parlament zu bringen und zu regieren. Die Sozialistische Partei hingegen, die nach einer moderaten Kampagne für eine „Austerität light“ (Principe) 30 Prozent der Stimmen erhalten hatte, konnte nur durch ein Bündnis mit PCP und Bloco, die mit Kampagnen gegen Austerität ihren gemeinsamen Stimmenanteil auf über 20 Prozent erhöht hatten, eine alternative Regierung stellen.

Antonio Costa, der neugewählte Vorsitzende des PS, hatte soeben den Platz Socrates’ eingenommen, der nicht nur  – ganz im Stil der Pasok – den ersten Deal mit der Troika von 2011 abgeschlossen hatte, sondern auch gerade wegen Korruption verhaftet worden war und auf seinen Prozess wartete. Costa, dessen Vater ein PCP-Aktivist gewesen war, hatte zuvor als Bürgermeister von Lissabon mit dem PCP zusammengearbeitet. Wenn auch links der Politik von Socrates, war und ist auch die Politik von Costa eher moderat und schließt unzweifelhaft eine Bindung an die Regularien der EU mit ein. Catarina Martins, die derzeitige Parteivorsitzende des Bloco, beschreibt ihn interessanterweise als “einen tapferen Mann, der Risiken auf sich nimmt”, und „einen geschickten und harten Verhandler”. Auf ein überraschendes Angebot Catarina Martins zur Unterstützung einer sozialistischen Regierung während einer Talkshow, ging Costa ein Risiko ein: erstmalig seit langer Zeit wieder eine Allianz mit der radikalen Linke einzugehen. Bloco und PS handelten ein Übereinkommen aus, das die Troika-konformen Maßnahmen der Vorgängerregierung zurücknahm.

Die Kommunistische Partei führte eigene Verhandlungen mit dem PS entlang ähnlicher Linien – auf dieser Trennung hatte der PCP bestanden. Die Konditionen, auf die sich in diesem Prozess geeinigt wurde, schlossen eine Erhöhung des Mindestlohns um 20 Prozent ab Januar 2019 ein, die Einfrierung der Renten wurde aufgehoben und ihre Höhe wieder an die Inflationsrate angebunden, eine Erhöhung der niedrigsten Renten um 3 bis 4 Prozent jährlich, die Wiederherstellung des Rechts auf Tarifverhandlungen für öffentlich Bedienstete, eine Rücknahme der unter der Troika verabschiedeten Sondersteuer auf Löhne und Renten, eine Beendigung des Programms zur Entlassung öffentlich Bediensteter, eine Herabsetzung der Steuern auf Arbeitseinkommen und eine Erhöhung der Steuern für große Firmen, die Rücknahme durch die Rechtsregierung erfolgter Privatisierungen (der Fluglinie TAP und des öffentlichen Nahverkehrs in Porto und Lissabon) sowie ein Verbot weiterer Privatisierungen.

Als Costa unter diesen Voraussetzungen sein Amt antrat, tat er dies gegen den ausdrücklichen Wunsch der EU. Tatsächlich erwog die Europäische Kommission auf Betreiben von Manfred Weber, dem Fraktionsvorsitzenden der konservativen Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, Sanktionen gegen die neue Regierung. Costas Europaministerin war zu dieser Zeit Margarida Marques, selbst eine ehemalige Angestellte der Europäischen Kommission. Sie nahm an den Verhandlungen mit der EU teil und kommentierte rückblickend: „Die Position der Europäischen Kommission war ganz klar zu ideologisch. Sie glaubten auf eine ideologische Weise, dass Austerität der beste Weg sei, um der Krise zu begegnen.” Marques fuhr fort: „Unsere Maßnahmen gegen Austerität erwiesen sich als erfolgreich – gestützt von einer Verbesserung der internationalen Situation. Wir haben gezeigt, dass es möglich ist, keine solche Politik zu verfolgen und dennoch innerhalb der EU-Regel von 3-Prozent-Defizit zu bleiben. Am Ende war es allerdings nicht der Inhalt unserer Politiken, der für sie maßgeblich war, es waren die Vereinbarungen mit der Kommunistischen Partei und dem linken Flügel. Sie dachten an Syriza und versuchten, Portugal als das neue Griechenland zu behandeln.”

Hatte ihr Handeln gegen die griechische Regierung bereits die Legitimität der ideologischen Mission der EU zu schwächen begonnen, so nötigte Portugal die Kommission, flexibler zu agieren. Eine der Architektinnen der ökonomischen Strategie der Regierung, die Wirtschaftsprofessorin Francisca Guedes de Oliveira, erklärt: „Unser Hauptziel war, einen politischen Plan vorzulegen, der Armut und Ungleichheit reduziert, Wachstum und mehr Einkommensumverteilung ermöglicht sowie den Zustand der portugiesischen Wirtschaft verbessert – innerhalb Europas.” Die Verhandlungen mit dem PCP und dem BE hätten eine Wirkung auf diesen Plan gehabt: „Die Linke wollte, dass die Verbesserungen schneller erreicht würden, und sie drängte stark darauf, die Ausgaben für Gesundheit und Bildung wieder zu heben. Ich denke, das wirkte“, so Marques. „Eines der Dinge, die Politiker oft vergessen, ist die Bedeutung von Erwartungen. Unter den brutalen Maßnahmen der Troika waren die Leute so verängstigt, dass sie ihren Konsum massiv einschränkten, was die ökonomische Situation noch verschlimmerte, selbst wenn das Defizit gebremst worden war. Jetzt, wo diese Maßnahmen zurückgenommen werden, blicken die Leute mit Optimismus in die Zukunft und sie konsumieren wieder und hegen wachsende Erwartungen.“

Gestiegene Erwartungen und Unabgegoltenes

Gestiegene Ansprüche und wachsendes Vertrauen verweisen auch auf die unabgeschlossenen Teile der Vereinbarung. Es gibt ein höheres Maß an Organisierung und Aktivismus, die nach vorne drängen. Eine Priorität, für die sich Aktive des Bloco, der PCP-und der PS gleichermaßen leidenschaftlich aussprechen, sind Investitionen in den Gesundheitssektor. Druck des Bloco und der PCP führte zu beachtlichen Investitionen in den Nationalen Gesundheitsdienst, doch reicht dies nicht aus. Obwohl die Löhne und Gehälter der Beschäftigten im Gesundheitssektor wieder stabilisiert wurden, kam es in den vergangenen Jahren, so Bruno Maia, Mediziner und Bloco-Mitglied, zu einem „Verfall der Infrastruktur und der Dienste selbst“. Im Ergebnis „verlieren wir Ärztinnen und Ärzte an den privaten Sektor; Notaufnahmen sind überfüllt, es gibt zunehmende Wartezeiten und immer längere Wartelisten für Operationen. Es nimmt unerträgliche Ausmaße an”. Dr. Maia rechnet damit, dass Investitionen im Gesundheitswesen eine Priorität im Wahlprogramm seiner Partei bilden werden: „Das ist sicher“, sagt er und fügt die Frage hinzu: „Was aber passiert nach den Wahlen? Wenn das Abkommen neu geschlossen werden muss – und alle Umfragen sagen, dass die Sozialistische Partei die linken Parteien brauchen wird, um zu regieren –, wird es keine Alternative geben: Wir werden die unzureichenden Investitionen ins Gesundheitssystem einfach angehen müssen.” Domingos Lopez, langjähriger Unterstützer des PCP und Sekretär des historischen PCP-Führers Alvaro Cunhal zu jener Zeit, als Cunhal nach der Nelkenrevolution kurz Minister war, stimmt zu, dass die Wiederherstellung und Verbesserung der Gesundheitsdienste das Thema ist, bei dem in ein neues Übereinkommen Fortschritte machen muss. „Unsere größte Errungenschaft nach der Revolution war der Nationale Gesundheitsdienst. Selbstverständlich werden wir dies zu einem Thema der Wahlen machen.” Minister*innen der Regierung äußern sich zurückhaltend über öffentliche Investitionen, während Abgeordnete des Bloco anerkennen, dass eine Milliarde Euro in die Gesundheitsdienste investiert wurde: „Es gab keine Einschnitte. Sie haben investiert”, sagt Ze Soeiro, Sprecher des BE zu Arbeitsthemen, „nur war es nicht genug.“

Regierungsvertreter des PS, wie Costas Staatssekretärin Mariana Vieira Da Silva, sind stolz darauf, wie ihre Strategie zur Anhebung von Löhnen und Renten funktioniert hat, nicht nur weil die Not gelindert wurde: „wir haben die Wirtschaft zum Wachsen gebracht und dabei das Defizit reduziert“, sagt sie und ergänzt: „Unser Finanzminister Marcelo Centano wird in Europa als ‘Ronaldo der Staatsfinanzen’ bezeichnet, so gering ist das Defizit.” Tatsächlich liegt das Defizit derzeit bei 0,7 Prozent, verglichen mit 3.2 Prozent zu jener Zeit, als die Troika auf Austerität als einzigem Weg zur Reduktion bestand. Centanos Problem ist nun, dass gestiegene Erwartungen und verbreitetes Selbstvertrauen bedeuten, die Menschen wissen, dass es öffentliche Gelder gibt, die für staatliche Dienstleistungen ausgegeben werden könnten. Seine Politik, diese Gelder nur zu nutzen, um das Defizit  zu reduzieren, wird nun offen herausgefordert. Der Finanzminister kann die Mittel nicht länger horten, um der engen Definition vermeintlich solider Staatsfinanzen zu entsprechen, die ihn und die EU-Finanzminister verbindet.

Als ich Portugal besuchte, gingen zeitweise Lehrer*innen in den Streik, um die volle Wiedereinsetzung in ihre Laufbahnen und damit den Wiederanstieg ihrer unter Troika-Diktat gekürzten Gehälter zu erreichen. Ich sprach mit einem ihrer Organisatoren in Porto, Henrique Borges, während er sich auf eine landesweite Massendemonstration in Lissabon am folgenden Wochenende vorbereitete. „Die Regierung sagt, es gebe kein Geld, aber wir wissen, dass welches da ist“, sagte er. „Das Defizit ist sehr niedrig, und sie vergeben Geld an private Banken. Also gibt es auch Geld für die öffentlichen Dienstleistungen.” Der Bloco und der PCP unterstützen die Lehrer*innen, und die Gewerkschaft fühlt sich dadurch gegenüber der Regierung gestärkt. Es ist absehbar, dass der Charakter der nächsten Übereinkunft, sofern die Wahlergebnisse dies notwendig machen, nicht einfach nur durch Wahlarithmetik, sondern auch durch breiteren sozialen Druck bedingt sein wird, angeregt sowohl durch die mit den Abkommen geweckten Erwartungen als auch durch den Umstand, dass eben dieses Abkommen neue Kanäle geschaffen hat, über die soziale und Arbeiter*innenbewegungen Einfluss auf die politische Macht nehmen können.

Eine weitere Illustration dieses Verhältnisses von Wandel durch die politischen Institutionen und Druck für weitere Schritte durch soziale Bewegungen liefert die Prekarisierung der Arbeit. Die Prekarisierung ist ein der wenigen strukturellen Fragen, bei denen begonnen wurde, eine Dynamiken hin zu weiterreichenden Veränderungen zu erzielen. Prekarisierung ist ein globaler Trend, doch in einem semi-peripheren Land mit großem informellem Sektor und schwacher produktiver Basis erleben die Menschen in Portugal Prekarisierung auf besonders harsche Weise.

Ab 2002 begann eine wachsende Bewegung von prekär Arbeitenden, verstärkt durch internationale Netzwerke eines selbstbewusster werdenden und auf kreative Weise militanten „Prekariats“. In Portugal wuchs dieses Bewusstsein prekärer Arbeiter*innen von sich selbst als kollektivem Akteur in den späten Jahren des Einflusses der Troika. Sie schufen ihre eigenen Räume zur Selbstorganisation, wurden Teil der Bewegung „Setzt die Troika ab“ (Screw the Troika) von 2013 und entwickelten eine enge Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen. Sogar schon vor dem Fall der Austeritätsregierung führten diese Aktivitäten zu einem Volksbegehren (eine weitere Besonderheit Portugals radikal-demokratischer Verfassung) für ein Gesetz für verbindliche Arbeitsverträge zur Beendigung prekärer Arbeitsverhältnisse. Unter der Minderheitsregierung des PS war dann die Beendigung von prekärer Arbeit im öffentlichen Sektor eine wichtige Maßnahme des geschlossenen Abkommens. Die Implementierung war keineswegs nur eine Angelegenheit von Gesetzgebung und zentralstaatlicher Verwaltung: erfolgreiche Implementierung erforderte das praktische Wissen der prekär Arbeitenden selbst. So kam es zu einem exemplarischen Prozess der Zusammenarbeit von parlamentarischer und gesellschaftlicher Aktion, von Selbstorganisation und einer Teilung praktischen und offiziellen Wissens – ein Teil der bemerkenswert günstigen Machtbalance, die die PS-Regierung befähigte, in ihren Verhandlungen gegen Austerität und im Kampf mit der EU erfolgreich zu sein.

…und die Verschiebung der Kräfte in Europa

Doch auch eine günstige Machtbalance auf nationaler Ebene kann nur in begrenzten Arenen einen Wandel erreichen. Für Veränderungen in zentralen strukturellen Fragen, etwa des Finanzsystems, müsste die Verschiebung auf nationaler Ebene mit einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa verbunden werden, um Regeländerungen bei Institutionen wie der Europäischen Zentralbank zu erwirken.

Linke Politiker*innen in Portugal sind sich darüber bewusst, wie gering ihre Macht als Vertreter*innen eines kleinen Landes gegenüber der EU ist, sofern sie keine mächtigeren Verbündeten haben. Der Fall der rechten Regierung in Spanien und die Aussicht auf eine Fortsetzung der Minderheitsregierung der sozialistischen Partei wird als Moment einer positiven Entwicklung gesehen. Ana Gomes, eine frühere Abgeordnete des PS, blickt der Möglichkeit einer von Corbyn geführten britischen Regierung enthusiastisch entgegen: „Das hätte eine dramatische Wirkung, es würde die EU nach links ziehen“, auch wenn in vielen anderen Ländern das Bild gemischt ist und die radikale Rechte überall zulegt. Costas Staatssekretärin wiederholt diese Hoffnungen mit mehr Zurückhaltung: „Ich muss sagen, das würde einen großen Unterschied machen, stünde die Entscheidung an, in Europa zu verbleiben und es von innen zu verändern.“

„Lissabon“, so ließe sich sagen, symbolisiert die Widersprüche der EU: einerseits sind die Regeln in Verträgen festgehalten, andererseits hängen die Institutionen und die täglichen Entscheidungsprozesse von Machtverhältnissen zwischen verschiedenen Akteuren und der politischen Interpretation der Probleme ab. Die Verträge von Lissabon, benannt nach der Stadt, in der sie unterzeichnet wurden, repräsentieren die neoliberalen Regelungen, die, dogmatisch interpretiert, Austerität und absolute Zwänge gegenüber sozialen Maßnahmen und/oder die strafende Rolle der Troika bedeuten. Mit der Rechten und radikalen Rechten an der Macht quer durch Europa und dem Einfluss der Unternehmenslobbies (wie dem Round Table of Industrialists) ist diese Ebene dominant. Auf der anderen Seite zeigt die Erfahrung des „Abkommens von Lissabon“ von PS, Bloco und PCP eine mögliche Flexibilität an, die die Machtbalance zwischen EU-Institutionen und dem Druck großer Unternehmen und der sonst üblichen dienstbaren Ergebenheit der Nationalstaaten herausgefordert wird.

Es bleibt abzusehen, ob die neue Machtkonstellation nach den Wahlen in Portugal im Oktober, sowohl mit Blick auf das Wahlergebnis als auch auf den Mobilisierungswillen der Zivilgesellschaft, das Land befähigt, über eine defensive Rücknahme der brutalen Troika-Maßnahmen hinauszugehen und strukturell die Fähigkeit des portugiesischen Staates zu erhöhen, die Bedürfnisse seiner Bürger*innen zu erfüllen. Doch bereits der Erfolg durch die Rücknahme der Austerität ist eine Erfahrung, aus der Labour lernen kann. Jeremy Corbyn erklärte während der Gala der Bergleute von Durham seinen Glauben an ein „Europa gegen  die Austerität“. Der Prozess in Portugal zeigt, dass der Weg dorthin nicht im Bruch mit Europa liegt, sondern in Europa, mit Verbündeten wie in Portugal, Griechenland, Spanien und anderen Ländern in Europa, um die eigene Machtbasis zu erweitern, um zusammen mit sozialen Bewegungen Kraft für eine linke Politik „in und gegen“ die EU zu gewinnen.

Die Autorin dankt Alvarao Vasconcelos, Pedro Bacelar und Catarina Principe sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Transnational Institute.

Aus dem Englischen von Corinna Trogisch und Mario Candeias

Weiterlesen

Candeias, Mario, 2017: Tolerierung einer Anti-Austeritäts-Regierung – ein erfolgreiches Modell?, in LuXemburg Sonderausgabe „Weltklasse“, legacy.zeitschrift-luxemburg.de/portugal-tolerierung-einer-anti-austeritaets-regierung-ein-erfolgreiches-modell/

Candeias, Mario, Catarina Principe, Mariana Mortágua, 2017: Anti-Austerity and the Politics of Toleration in Portugal. A way for the Radical Left to develop a transformative project?, A Study by Rosa-Luxemburg-Stiftung, www.rosalux.de/publikation/id/38188/anti-austerity-and-the-politics-of-toleration-in-portugal/

Anmerkung

[1] „In and against (the state)“ geht auf eine Formulierung John Holloways zurück, bevor er sich vom ersten Teil des Slogans verabschiedete.