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Implosion. Warum sich die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) selbst zerstört

Von Juan Andrade

Die Erosion der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) geht weiter. In einem innerparteilichen Coup stürzten die Vorstandsmitglieder um Felipe González am 1. Oktober 2016 den amtierenden Generalsekretär Pedro Sánchez. Ihr Ziel war es, eine Kooperation zwischen PSOE und Unid@s Podemos und damit eine »Regierung des Wandels« zu verhindern. Stattdessen wollten sie den Weg frei machen für eine »Regierung der nationalen Einheit« unter Führung der rechtskonservativen Partido Popular mit ihrem Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Eine innerparteiliche Revolte des Establishments gegen das zarte Pflänzchen der Erneuerung. (Die Redaktion)

Nun ist es doch passiert. Die Krise der PSOE hat letztlich zu einer Implosion geführt. Die Partei zerstört sich von innen heraus – und das in einer Weise, die sogar bei Widersachern eher Verwunderung als Genugtuung auslöst. Kommentator*innen vergleichen die Situation mit der, die die Partei im Mai 1979 durchlaufen hatte. Damals sah sich der Generalsekretär gezwungen seinen Hut zu nehmen, da die Parteibasis seinen Vorschlag zur ideologischen Neuausrichtung ablehnte. Wurde die interne Krise der PSOE seinerzeit als Bedrohung für den Fortgang der damaligen Transición, den Übergang von der Franco-Diktatur zur liberalen Demokratie, angesehen, so ist sie heute offensichtlicher Ausdruck einer Krise ebenjenes politischen Systems, das aus der Transición hervorgegangen ist. Insofern können beide Momente als Beginn und Schlusspunkt eines langen Zyklus angesehen werden. Nicht umsonst spielt mit Felipe González bei beiden Ereignissen dieselbe Person die Hauptrolle. Im Jahr 1979 war ihm ein Kunstgriff gelungen: Er brachte die Parteimitglieder, die ihn abgestraft hatten, dazu, ihre Schuldgefühle ob seines Rücktritts dadurch zu verarbeiten, dass sie ihm fortan bedingungslose Gefolgschaft versprachen. Heute versucht er sie mit den Zwangsmechanismen des Parteiapparates zu disziplinieren oder dadurch, dass er wahlweise an die Ohnmachtsgefühle oder Ambitionen regionaler Parteifunktionäre appelliert.

Führung ohne Führung

Der gegenwärtige Konflikt in der Parteiführung erinnert aber auch an die Auseinandersetzung zwischen den Anhänger*innen von Juan Negrín, Ministerpräsident der II. Spanischen Republik (1931–1936), und seinen Gegner*innen während des Spanischen Bürgerkrieges. Damals wie heute sind die internen Spannungen in der PSOE dem plötzlichen Aufstieg einer neuen Kraft links von ihr geschuldet. Damals war es die Kommunistische Partei PCE, heute ist es Unid@s Podemos. Stark vereinfacht besteht der Unterschied darin, dass zum Ende des Bürgerkrieges die Konfliktlinie innerhalb der PSOE zwischen denen verlief, die ein zeitweiliges Bündnis mit der PCE befürworteten, und jenen, die es erbittert bekämpften. Heute verläuft sie zwischen denen, die jeglichen Kontakt zu Unid@s Podemos ablehnen, und jenen, die sich nicht positionieren.

Die PSOE durchlebt eine Legitimations- und damit verbunden eine Identitätskrise. Die Zahl derer, die sich von der Partei angesprochen fühlen, nimmt von Tag zu Tag ab. Dadurch wird es immer schwieriger, sich ihrer selbst zu versichern. Die Stärke der Sozialdemokratie in den goldenen Jahren des Wohlfahrtsstaates gründete sich nicht zuletzt auf ihre Fähigkeit, die Arbeiterklasse in den Staat zu integrieren. Sie galt als Vermittlerin in sozialen Konflikten und als Vehikel im Kampf um Umverteilung. Die PSOE kam in Spanien jedoch erst 1982 wieder an die Macht, also zu einer Zeit, als sich der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat angesichts veränderter ökonomischer Konstellationen – und daraus sich ergebender Verschiebungen in der Klassenzusammensetzung – in ganz Europa aufzulösen begann. In dieser Situation legte die PSOE ein Modernisierungsprojekt auf, das eher technokratischer Natur war und sich von klassisch sozialdemokratischen Politiken deutlich unterschied. Es sprach eher den Erwartungshorizont der Mittelschicht an, umfasste jedoch alle möglichen Versprechungen und Anreizsysteme, um von Beginn an dafür zu sorgen, dass der Rahmen aus Hoffnungen und Ängsten auch von einem Großteil der Arbeiterklasse verinnerlicht würde. Gleichzeitig wies die PSOE dank ihrer Präsenz im ganzen Land auch einen Weg aus verschiedenen regionalen Begehrlichkeiten und Erwartungen, die jeweils an die Möglichkeit autonomer Entwicklung geknüpft waren. Auf diese Weise wurde sie zum wichtigsten Integrationsfaktor sowohl großer regionaler Unterschiede als auch der sehr heterogenen sozialen Mehrheit des neuen politischen Systems. Die PSOE agierte dabei so neutral, dass ihre Rolle später – ohne größere Brüche, wenn auch mit deutlichen Unterschieden im Detail – auch von der konservativen Partido Popular (PP) ausgefüllt werden konnte.

Die Stärke des politischen Systems von 1978 beruhte darauf, inneren Spannungen eine Form zu geben: Zwischen beiden Parteien wurden heftige Konfrontationen darüber ausgetragen, was innerhalb der bestehenden Grenzen des Systems möglich sei – aber stets in der stillschweigenden Übereinkunft darüber, genau diese Grenzen auf keinen Fall anzutasten. Aus der Gegenüberstellung mit der PP zogen viele Parteimitglieder und Führungskräfte über Jahrzehnte ihre Daseinsberechtigung – die gemeinsam definierten Grenzlinien erschienen über die Zeit als quasi naturgegeben. Auch deshalb ist es heute so schwierig die Partei dazu zu bewegen, diese Konfrontation aufzugeben, um das Gemeinsame – nämlich das Interesse am Erhalt des Systems – bewahren zu können.

Das Problem der Riege um González ist, dass die Auseinandersetzung zwischen sozialdemokratischer und rechtskonservativer Partei längst kein Maßstab mehr ist für die politische – und nun auch die parlamentarische – Dynamik im Land. Seit der Bewegung des 15. Mai denken viele außerhalb des kategorialen Rahmens von 1979 und versuchen ihre Probleme und Hoffnungen jenseits dieser Grenzen zu lösen, die ihnen plötzlich nicht mehr naturgegeben scheinen. Seit den Wahlen vom Dezember 2015, bei denen Podemos 20 Prozent der Stimmen erhielt, ist die parlamentarische Arithmetik offensichtlich eine andere.

Über 30 Jahre hat das faktische Zweiparteiensystem in Spanien von dieser Polarisierung zwischen PSOE und PP gelebt. Zu Zeiten von José Luis Rodríguez Zapatero, der von 2000 bis 2012 Parteivorsitzender und von 2004 bis 2011 Ministerpräsident war, nahm sie geradezu paradoxe Züge an. Sie hatte jedoch eher mit Parteizugehörigkeit und Identität zu tun denn mit programmatischen Unterschieden, mehr mit übersteigerten Ängsten und einer symbolischen Repräsentation zweier vermeintlicher gesellschaftlicher Blöcke – der Rechten und der Linken – denn mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Konflikten. Diese Inszenierung ist mit dem Beginn der Krise in den Augen vieler Menschen unglaubwürdig geworden. In diesem Moment trat die Übereinstimmung zwischen beiden Parteien in Bezug auf das Wachstumsmodell und vor allem in Bezug auf das antisoziale Krisenmanagement offen zutage. Dieser Umstand brachte vor allem die PSOE in Misskredit, da sie einerseits zu diesem Zeitpunkt an der Regierung war und andererseits noch die Rolle einer Partei spielte, die angeblich über ein soziales Gewissen verfügte. Zudem hatte die PSOE mit Zapatero einen relativ jungen Vorsitzenden, von dem angenommen wurde, er stehe für einen Bruch mit dem sogenannten Felipismus.

In einer Art ungelenkem Bestreben, an eine (heute wieder aktuelle) Vergangenheit anzuknüpfen, machten die Sozialist*innen Alfredo Pérez Rubalcaba, der schon unter Felipe González Minister war, zu ihrem Generalsekretär. Doch kurze Zeit später entschieden sie sich, diesen Eindruck wieder zerstreuen zu wollen – also wählten sie den jungen Pedro Sánchez zum Vorsitzenden. Jedoch: Alle Versuche von Sánchez, sich als Garant des Wandels zu präsentieren, scheiterten. Für eine breite Mehrheit der progressiven Parteibasis ließ sich die Vorstellung von ›Wandel‹ nicht länger darauf reduzieren, eine bestehende PP-Regierung durch eine Regierung unter Sánchez zu ersetzen. Sein Diskurs wirkte auch dann nicht glaubwürdiger, als er sich bemühte, ihn mit der Grammatik der neuen politischen Bewegung durchzudeklinieren – es war nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Nicht einmal aus Sicht derjenigen, die den Aufstieg von Podemos als Bedrohung empfanden, konnte er sich überzeugend als ein Garant für Sicherheit präsentieren – ganz einfach deshalb, weil die PP das besser konnte. Und noch weniger vermochte er es, dem Wunsch nach Wandel und Sicherheit – wie seinerzeit Felipe González – zu entsprechen. Ein rhetorisches Pendeln zwischen beiden Polen ist einfach nicht das Gleiche wie eine echte Synthese. Diese allerdings wäre nötig, um breite Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Anfang Oktober musste er schließlich zurücktreten und wird – bis zu einer Neuwahl – durch eine geschäftsführende Kommission ersetzt. So viele Führungswechsel in so kurzer Zeit offenbaren, wie verunsichert und orientierungslos die Partei ist – so orientierungslos, dass sie selbst ihre Trial-and-Error-Logik gegen ein Konzept des Error-and-Error eintauschte. Es scheint, als ob sich die PSOE nicht entscheiden könne zwischen einem Casting junger Talente und der ewigen Wiederkehr des Felipismus.

Dem System von 1978 verhaftet

Auch jenseits der fehlenden politischen Führung ist die Situation der PSOE vertrackt. Mit der Krise von 2008 ist ihr in erster Linie kulturelles Modernisierungsprojekt, mit dem sich ein Großteil der Gesellschaft identifizierte, ebenfalls in die Krise geraten. Es ist nicht so, dass das Projekt an sich den Erwartungen der Mittelklassen nicht mehr entsprochen hätte. Jedoch haben Krise und Austeritätspolitiken bei ebenjenen zu einer enormen Verarmung und entsprechender Unzufriedenheit geführt. Angesichts dieses sozialen wie ideologischen Zerfalls hat die Partei jeglichen Boden unter den Füßen verloren. Sie hat es auch nicht geschafft, die alten Muster des Zweiparteiensystems zu überwinden. Dessen klare Rollenverteilung hatte es ihr ermöglicht, einen Alleinvertretungsanspruch für die Linke zu formulieren und mit der PP um das Zentrum zu ringen. Heute gibt es jedoch eine Kraft links der PSOE, die sich in dieses Modell nicht einfügt. Sie lässt die PSOE konservativ und altmodisch aussehen, was sie auch von der Mehrheit der Jungwähler*innen gespiegelt bekommt. Selbst auf regionaler Ebene hat sie den Rückhalt und die Verankerung in der Bevölkerung verloren. Dies ist besonders deutlich in Regionen mit starken Unabhängigkeits- oder Autonomiebestrebungen. Aber selbst in den früheren Hochburgen im Süden verliert sie ihren Führungsanspruch. So ist die Parteikrise in Wahrheit eine Krise des 1978 etablierten Systems (vgl. zur französischen Situation Syrovatka in diesem Heft). Es gelingt heute weder, die regionalen Differenzen zu überbrücken, noch die Erwartungen zu erfüllen, die ein Großteil der unteren Schichten wie die verarmte Mittelklasse in diese Politik gesetzt hat.

Die PSOE ist von Widersprüchen zerrissen und verfügt nicht über die Ressourcen, um diese zu bearbeiten. Angesichts ihrer Trägheit läuft sie Gefahr, sich dauerhaft darin zu verfangen. Die ungleiche regionale Verteilung ihrer Wählerbasis stärkt Führungskräfte aus dem Süden, die einem plurinationalen Diskurs kritisch gegenüberstehen. Sie fürchten, dass solche Debatten ihre soziale Basis schwächen könnten. Ohne sich diesen Diskussionen zu stellen, dürfte es der Partei jedoch nicht gelingen, das regionale Ungleichgewicht hinsichtlich ihrer Wähler*innen und Mitglieder zu überwinden. Obgleich es auf der Hand liegt, dass es in Zukunft nicht mehr ausreichen wird, sich mit der Partido Popular abzuwechseln, wenn es ums Regieren geht, hat sich die PSOE bisher nicht getraut, ein parlamentarisches Bündnis zu ermöglichen, das eine echte Alternative zum bestehenden System darstellen könnte. Zuletzt hat der Sturz von Sanchez das gezeigt. Das System, das der Partei ihre besten Tage beschert hatte, droht sie nun mit in den Abgrund zu reißen.

Es gibt zwei Gründe, warum sich die Partei nicht traut, ein solches neues Bündnis einzugehen: Der erste hat mit ihrer politischen Kultur zu tun: In der PSOE herrscht die Überzeugung, dass es der Partei immer dann schlecht ergangen ist, wenn sie sich auf größere Bündnisse eingelassen hat, und immer dann gut, wenn sie ihren eigenen Weg gegangen ist. Ein Beispiel dafür betrifft die erwähnte Beziehung zur PCE während des Bürgerkrieges und der Zeit des Franquismus. Damals sind Mitglieder, Kader und Führungskräfte zur neueren und radikaleren Alternative abgewandert – so zumindest die Interpretation. Ein weiteres Beispiel der jüngeren Geschichte ist das Dreiparteienbündnis in Katalonien, das sich nach Meinung vieler Sozialist*innen als Fehlschlag erwiesen hat und gar nicht erst hätte geschlossen werden dürfen. Dazwischen liegt der überraschende Aufstieg eines Felipe González zur Zeit der Transición und die glorreichen Jahre, die als »nordischer Weg zur Macht« bezeichnet wurden: auf sich gestellt, ohne Bündnispartner von links (wie damals bei den französischen Sozialisten) oder von rechts (wie bei den italienischen Sozialisten).

Die Ironie der Geschichte ist, dass ein Bündnis mit den Rechten gar nicht mehr so abwegig ist. In der PSOE herrscht ein starker und nachhaltiger Antikommunismus, der seinen Ursprung im Bruch mit der PCE im Jahr 1921 hat, während des Spanischen Bürgerkrieges ein neues Hoch erreicht, im Kalten Krieg neue Nahrung erhält und sich schließlich im Exil einrichtet. Auch zur Zeit der Transición setzt sich dieser Antikommunismus fort. Zunächst richtet er sich gegen die aus dem Antifranquismus gestärkt hervorgegangene PCE, später gegen die Izquierda Unida (Vereinigte Linke) und ihren populären Sprecher Julio Anguita und heute gegen Unid@s Podemos. Solch tief verankerte Überzeugungen abzulegen ist keine einfache Übung.

Neben strategischen Traditionen, der politischen Kultur und einer gewissen Trägheit gibt es noch einen letzten, mit den anderen aber eng verwobenen Grund, weshalb die PSOE einem Bündnis mit den erstarkenden Kräften zu ihrer Linken skeptisch gegenübersteht: ihre organische Verbindung zur Macht. Aus einer gewissen Distanz betrachtet scheint diese Verbindung zu einer Art Habitus im Sinne Bourdieus geworden: eine bestimmte Form des Denkens, Fühlens und Handelns von jenen, die sich über lange Zeiten ökonomische Macht, Positionen und Prestige mit den Eliten geteilt haben. Glaubt tatsächlich jemand, dass diese Partei imstande wäre, eine Linksregierung zu bilden und ein dezidiert sozialdemokratisches Programm auf den Weg zu bringen, ein Programm, das den Interessen dieser Eliten zuwiderlaufen würde? Und sei es lediglich auf Steuerpolitik und Umverteilung beschränkt? Es geht nicht nur um offene Korruption, die sich bis in die Kapillaren der PSOE hinein erstreckt. Es geht um eine subtile Form der Korruption, um Korruption als Moment der Herrschaft. Das ist der Kern des Problems, und solange dieser Punkt nicht angetastet wird, bleiben alle Debatten über die künftige Rolle der Sozialdemokratie in Spanien und Europa leere Worte.

Erschienen bei CTXT – Contexto y ­Accion, am 3. Oktober 2016.
Aus dem ­Spanischen von Bettina Hoyer und Sebastian Landsberger