| Im Schatten der Pandemie – neue und intransparente Abschottungspraxen auf dem Mittelmeer

Juni 2020  Druckansicht
Von Michel Brandt

Die Coronakrise beschleunigt den seit Jahren fortschreitenden migrationspolitischen Abschottungsprozess der EU, im Zuge dessen Grenzschutzverantwortung an Drittstaaten ausgelagert wird und die Überwachung, Zurückweisung und Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zunimmt. Grenzüberwachungssysteme werden ausgebaut, während das, was an den EU-Außengrenzen geschieht, für die Zivilgesellschaft immer intransparenter wird.

Die griechisch-türkische Grenze – Gewalt, Push-Backs und geheime Lager

Tausende Flüchtlinge kamen im März an die türkisch-griechische Grenze, nachdem der türkische Präsident Erdoğan diese für geöffnet erklärt hatte. Für etwa zwei Wochen blickte ganz Europa auf die griechische EU-Außengrenze. Die dann folgenden Corona-bedingten Reisebeschränkungen machten sowohl eine Berichterstattung vor Ort als auch Unterstützungsinitiativen wie Hilfskonvois vollends unmöglich. Schließlich schloss die Türkei die Grenze aufgrund der Pandemie, transportierte die Menschen in Lager im Landesinneren und brannte das provisorische Camp an der Grenze nieder.

Als ich Anfang März 2020 diesen Grenzabschnitt besuchte, traf ich auf griechischer Seite auf ein militarisiertes Sperrgebiet. Journalist*innen wurde der Zugang verwehrt, selbst mit Diplomatenpass war es dort unmöglich, die Pufferzone, also den Schauplatz der Auseinandersetzung, auch nur aus der Ferne einzusehen. Die zentralen Schauplätze der europäischen Asyl- und Migrationspolitik werden gegenüber der Zivilgesellschaft, der Presse und auch gegenüber Oppositionspolitiker*innen sorgfältig abgeschirmt. Kaum verwunderlich also, dass Berichte von einer sich verschärfenden Push-Back-Praxis in Griechenland also den systematischen Rückführungen von Menschen ohne vorherige Chance auf Asylantragstellung, kaum zur Kenntnis genommen und schon gar nicht politisch aufgearbeitet werden. Zeug*innen und Menschenrechtsorganisationen wie „Mare Liberum“ weisen seit Monaten darauf hin, dass die griechische Küstenwache Menschen, die bereits die griechischen Inseln erreicht hatten, zurück auf See verschleppt und dort ihrem Schicksal überlässt. Sich mehrende Hinweise darauf, dass die griechische Küstenwache Menschen auf aufblasbaren Rettungsplattformen auf dem Meer aussetzt und treiben lässt, bis die türkische Küstenwache sie zurückbringt, bleiben resonanzlose Randnotizen.

Zudem häufen sich Hinweise auf ein „Verschwindenlassen“ von Menschen durch die griechischen Behörden. Die New York Times berichtete im März von geheimen Lagern, in denen Geflüchtete vor ihrer illegalen Abschiebung festgehalten wurden, ohne Zugang zu Rechtshilfe oder auch nur verlässlichen Kontakt nach außen.

Recherche- und Dokumentationsarbeit zu den neuen Abschottungspraxen erbringen nur einige kritische Journalist*innen und zivile Organisationen. Auf politischer Ebene aber bleiben selbst gravierende Vorwürfe folgenlos. Die Überwachung der staatlichen Institutionen durch die Zivilgesellschaft und die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen wird jedoch massiv behindert – nicht erst seit Corona. Schon letztes Jahr wurde etwa „Mare Liberum“ durch deutsche und griechische Behörden juristisch unter Druck gesetzt, woraufhin ihr Schiff, das in der Ägäis Menschenrechtsmonitoring betreibt, festgesetzt wurde – zu Unrecht, wie schließlich ein Gericht in Hamburg feststellte (Zeit Online). Mit der Corona-Krise ist nun ein neuer Vorwand gefunden, die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen zu erschweren.

Zentrales Mittelmeer – Erprobung neuer Abschottungspraxen

Unter dem Deckmantel von Pandemie-Bekämpfung und Infektionsschutzmaßnahmen wird der Abschottungsprozess im Mittelmeer fortgesetzt. „Angesichts der aktuellen schwierigen Lage appellieren wir deshalb an Sie, derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“, schrieb der Abteilungsleiter für Migration im Bundesinnenministerium, Ulrich Weinbrenner, im April an alle deutschen Seenotrettungsorganisationen. Die Arbeit der zivilen Seenotrettungsorganisationen wird erneut erschwert, Grenzschutzverantwortung und die Pflicht zur Rettung in Seenot geratener Menschen an die sogenannte libysche „Küstenwache“ ausgelagert.

Am 1. Mai 2020 gab der maltesische Premierminister Robert Abela, nachdem unter anderem die New York Times darüber berichtet hatte, offiziell zu, dass Malta eine „Geisterflotte“ privater Fischerboote angeheuert hat. Diese sollen schutzsuchende Menschen vor maltesischen Hoheitsgewässern an der Einreise hindern und werden von dem ehemaligen Regierungsmitarbeiter Neville Gafà koordiniert. Die NGO AlarmPhone, die Notrufe von in Seenot Geratenen entgegennimmt und weiterleitet, dokumentierte einen Vorfall vom 14. April 2020: Ein privates Fischerboot verschleppte Menschen, die seit fünf Tagen in Seenot trieben. Sie wurden direkt aus dem maltesischen Verantwortungsbereich zurück in den Hafen von Tripolis gebracht. Vor und während der Operation, welche offiziell in Maltas Auftrag durchgeführt wurde, starben 12 Menschen – drei von ihnen unter bisher ungeklärten Umständen während der Fahrt nach Libyen.

Wie die Times Malta berichtete, wurden Migrant*innen teilweise monatelang auf Fähren außerhalb der maltesischen Hoheitsgewässer festgehalten. Gerechtfertigt wurde dies mit Infektionsschutz.

Das Mittelmeer wird zur „hell ausgeleuchteten Blackbox“

Journalist*innen und NGOs, die im direkten Kontakt mit Menschen auf der Flucht stehen, sind mittlerweile häufig die einzigen, die den offiziellen Aussagen der italienischen und maltesischen Behörden, wenn es denn welche gibt, sowie den EU-Institutionen widersprechen können. AlarmPhone berichtet fast täglich, dass die Seenotleitstellen in Malta, Italien und Libyen für sie kaum erreichbar sind. Auch in Fällen akuter Lebensgefahr wird die Zusammenarbeit verweigert. Bei Versuchen Schiffsunglücke aufzuklären, verweigern die Behörden jegliche Kommunikation.

Nachdem die erste Regierung des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte im August 2019 geplatz, und Matteo Salvini in Folge dessen nicht mehr Innenminister war, konnten Schiffe ziviler Rettungsorganisationen teilweise wieder im Mittelmeer aktiv sein. Der Coronaausbruch hat dies abrupt beendet.

Der italienische Journalist Sergio Scandura konnte nachweisen, dass Frontex sein Agieren im Mittelmeer vor der Öffentlichkeit verbirgt. Er dokumentierte die Luftüberwachung im Mittelmeerraum unter anderem durch Frontex-Flugzeuge und nutzte dafür Flugzeug-Trackingdienste. Über solche Dienste ist normalerweise der gesamte Flugverkehr öffentlich einsehbar. Am Osterwochenende 2020 zeigte Scandura mithilfe der Tracking-Seite „Flight Aware“, dass Frontex-Flugzeuge in Seenot geratene Menschen in vier Booten aus der Luft beobachteten, ohne Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Kurz darauf wurden die Flugdaten der Frontex-Maschinen auf dem Trackingdienst mit Verweis auf europäische Datenschutzregelungen blockiert. Auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion antwortete die Bundesregierung, dass ihr ein Verbot der Veröffentlichung von Flugdaten von Frontex-Flugzeugen nicht bekannt sei. Durch eine Anfrage der EU-Abgeordneten Özlem Demirel wurde Anfang Juni 2020 schließlich öffentlich, dass Frontex Positionsdaten ihrer Flugzeuge aus taktischen Gründen regelmäßig blockiert.

Parallel zur Intensivierung der Überwachung dies- und jenseits der EU-Außengrenzen, schirmt die EU ihren Umgang mit Migration für Blicke von außen mehr und mehr ab. Während der Mittelmeerraum für die Zivilgesellschaft zu einer Blackbox wird, wird er von den Grenzschutzbehörden umso heller ausgeleuchtet.

2013 wurde mit EUROSUR ein wirkungsmächtiges Grenzüberwachungssystem geschaffen und schrittweise um neue Überwachungstechniken ergänzt. EUROSUR führt die Aufklärungsdaten von Flugzeugen, Drohnen und Satelliten zusammen und vernetzt die Frontex-Zentrale in Warschau mit den Koordinierungszentren der nationalen Grenzbehörden (netzpolitik.org). Welche Regionen konkret beobachtet werden, entscheidet Frontex mittels einer Risikoanalyse des Dienstes „Pro Detective Service“, der „Aktivitätsindikatoren“ für illegale Migration auswertet. Dieser Mechanismus kann von Frontex dafür genutzt werden, mit den EUROSUR-Daten die Grenzregionen zu Algerien, Tunesien und Libyen zu überwachen.

Parallel zu EUROSUR vernetzt das Projekt „Seepferdchen Mittelmeer“ mit einem Startbudget von 5 Millionen Euro die EU-Mittelmeeranrainer Italien, Malta, Griechenland, Zypern, Frankreich und Spanien, sowie Portugal (netzpolitik.org).  Seit Jahren wird die Einbindung der nordafrikanischen Anrainerstaaten Libyen, Tunesien, Algerien und Ägypten vorangetrieben (junge welt). Aus einer Antwort der Europäischen Kommission vom 7. Mai 2020 auf eine parlamentarische Anfrage geht hervor, dass im Rahmen von „Seepferdchen Mittelmeer“ unter anderem die sogenannte libysche Küstenwache ausgebildet wurde. Grenzschutzverantwortung wurde nach Libyen ausgelagert und seit 2017 eine libysche Such- und Rettungszone bis weit in internationale Gewässer hinein eingerichtet. Die Informationen über das Geschehen im Mittelmeer laufen in einem von der EU unterstützten „Joint Rescue Coordination Center“ in Tripolis zusammen. Finanziert werden die Maßnahmen durch den mit 90 Millionen Euro ausgestatteten „Nothilfe Treuhandfond der EU für Afrika“ (EUTF for Africa), der eigentlich für die Ursachenbekämpfung von Flucht und Vertreibung – und nicht für die Grenzsicherung – eingerichtet wurde.

Libyen ist bisher nicht an EUROSUR und nur punktuell an „Seepferdchen Mittelmeer“ angebunden. In einzelnen von Frontex als Seenot definierten Fällen erhalten libysche Behörden aber in ihrer Funktion als Küstenwache die über EUROSUR zusammengeführten Daten, um die entsprechenden Boote aufzuspüren – und solche Einzelfälle gibt es beinahe täglich.

Aktuell plant Frontex zudem die Stationierung von Langstreckendrohnen zur unbemannten Grenzüberwachung in Griechenland, Italien und Malta – und kalkuliert dafür Kosten in Höhe von 50 Millionen ein (statewatch.org). Doch neben der Agentur für Grenz- und Küstenschutz werden auch EU-Drittstaaten massiv hochgerüstet. In der ersten Phase des EU-finanzierten Programms „Integrated Border Management in Tunesia“ etwa wurde das integrierte Meeresüberwachungssystem „ISMariS“ für Tunesien entwickelt und erprobt. Auch die Bundesregierung fördert den Auf- und Ausbau von Grenzkontrollstrukturen in Tunesien, letztes Jahr flossen 1,5 Millionen Euro in die Unterstützung der Grenzpolizei. Durch Ausrüstung, Schulung und den Anschluss an Überwachungsnetzwerke werden Tunesien, Algerien, Libyen, Marokko und Ägypten nach und nach zu Grenzvorposten der Europäischen Union ausgebaut.

Bewegungsfreiheit für alle – als Gegenentwurf zur Festung Europa

Im Schatten der durch die Corona-Pandemie eingeschränkten Reisefreiheit kam es zu einer Häufung von Push-Backs, zu einer erneuten Kriminalisierung ziviler Organisationen, zur weiteren Ausdehnung des Einflussbereichs der libyschen Behörde und zur Fortschreitung der Externalisierung von Grenzschutzverantwortung. Um überhaupt einige wenige Informationen über diese Prozesse zu erhalten, kommt der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen eine immer größere Bedeutung zu. Gerade weil ihre Arbeit vor Ort durch Repression und politischen Druck zunehmend erschwert oder gar unmöglich gemacht wird, ist der Aufbau von Solidaritätsnetzwerken und die Weiterverbreitung kritischer Informationen zentral.

Gegen die praktizierte rassistische und neoliberale Selektivität des Rechts auf Leben brauchen wir einen kraftvollern Gegenentwurf, in dessen Zentrum Menschenrechte und Bewegungsfreiheit für alle stehen. Dazu beitragen können wir als Linke unter anderem dadurch, dass wir die Narrative im öffentlichen Diskurs so verschieben, dass Migration nicht mehr als Problem dargestellt wird. Wir müssen weiter laut und deutlich für die Schaffung sicherer und legaler Fluchtwege kämpfen.

Es braucht praktische, gelebte Solidarität von unten. Dass diese vorhanden ist, drückt sich zum Beispiel in der SEEBRÜCKE-Bewegung aus und in den über 150 deutschen Kommunen und Städten, die bereit sind, über die Verteilungsquoten hinaus Menschen Schutz zu gewähren. Aber nicht nur hier, sondern auch in der gesamten EU gibt es solidarische Städte. die sich gegen die Festung Europa stellen. Ein wichtiger Schritt ist nun die Ermöglichung und Unterstützung direkter und eigenverantwortlicher kommunaler Aufnahmesysteme.

Gemeinsam mit ihnen müssen wir uns der menschenverachtenden Abschottungspolitik mit politischen, juristischen und medialen Mitteln in den Weg stellen und wo nötig zivilen Ungehorsam leisten. Es gilt daher Strukturen vor Ort zu schaffen und zu stärken und Solidarität von unten weiter aufzubauen. Es gibt keine Mauer, die nicht eingerissen werden kann.

Aktuelle und weiterführende Informationen sind bei folgenden NGOs und Journalist*innen zu finden:

In ständigem Austausch mit Geflüchteten steht AlarmPhone (www.alarmphone.org, auf Twitter: @alarm_phone). Die Menschenrechtssituation in der Ägäis wird u.a. von Mare Liberum beobachtet (www.mare-liberum.org, @teammareliberum). Gute Recherchen zu den nordafrikanischen Mittelmeeranrainern sind u.a. bei Sofian Philip Naceur zu finden (www.sofiannaceur.de, @SofianNaceur), Recherchen zu Überwachungssystemen und Frontex sind u.a. auf der Seite von Matthias Monroy (www.digit.site36.net, @matthimon). Wichtige journalistische Arbeit zum Thema Flucht und Migration machen in Süditalien zum Beispiel Angela Caponnetto (@AngiKappa) und Sergio Scandura (@scandura), in Tunesien etwa Morgane Wirtz (@MorganeWirtz), zu West- und Ostafrika arbeitet Sara Creta (@saracreta), zu Libyen u.a. Sally Hayden (www.sallyhayden.net, @sallyhayd) und zu Griechenland u.a. Franziska Grillmeier (@f_grillmeier) und Daphne Tolis (@daphnetoli).