| Im Sog der Großen Stagnation. Strategische Herausforderung des sozialen Widerstands

Januar 2018  Druckansicht
Von Karl Heinz Roth

Auf die Große Rezession von 2007/2008 folgt die Große Stagnation. Die Krisenverluste des internationalen Finanzsektors sind auf die öffentlichen Haushalte abgewälzt worden, wo sie seither zulasten der Sozialbudgets und auf den Schultern der kleinen Steuerzahler*innen getilgt werden. Diese zur »Schuldenkrise« verniedlichte Sozialisierung der Verluste wird sich über Jahrzehnte hinziehen. Sie wird von den großen Zentralbanken durch die Flutung der Geldmärkte und durch massive Wertpapieraufkäufe abgesichert. Dadurch konnte bislang ein Abgleiten der Weltökonomie in eine selbstzerstörerische Depression verhindert werden. Doch sind die Probleme nicht gelöst. Die auf die Geld- und Kapitalmärkte beschränkten antizyklischen Maßnahmen werden durch fiskalpolitische Austeritätsprogramme prozyklisch konterkariert. Deshalb sind die Investitionen in die Realwirtschaft weltweit niedrig und werden es noch lange bleiben. Die Nachfrage nach verwertbarer Arbeitskraft tritt auf der Stelle oder ist sogar rückläufig. Für die globalen Unterklassen sind die Folgen dieser Operationen der politisch-ökonomischen Machtzentren weitreichend: Jenseits der halbwegs prosperierenden Zentren werden sie jahrzehntelang mit chronischer Unterbeschäftigung und mit ausgefeilten Programmen des Lohn- und Sozialdumping konfrontiert sein. Während der Reichtum der Besitzer*innen von Kapitalvermögen ins Unermessliche wächst, versinken ganze Weltregionen in Elend und Massenarmut.

Diese hybride – meines Erachtens zu Unrecht als »neoliberal« gedeutete – Strategie der Krisenüberwindung ist neu. Wer die Protokolle der führenden Zentralbankgremien liest, stellt fest, dass sie ihre Lektion aus den Fehlern der Großen Depression der 1930er Jahre gelernt haben – aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Es geht um nichts Geringeres als die Vermeidung eines endgültigen Kollapses des kapitalistischen Weltsystems. Zugleich sollen aber die arbeitenden und ausgebeuteten Klassen die Hauptlast der Krisenbewältigung tragen. Damit sie diese Abwälzung der an die öffentlichen Haushalte weitergereichten Verluste des finanzialisierten Akkumulationsregimes auf ihre Schultern ohne größeren Widerstand hinnehmen, muss ihnen die Möglichkeit für ein aussichtsreiches kollektives Aufbegehren vorbeugend genommen werden. Hier stößt die Agenda der finanz-keynesianischen Krisenbekämpfung auf die »eherne« Schranke restriktiver fiskalpolitischer Maßnahmen und protektionistischer Abschottung. Das aber hat fatale Folgen für das Weltwirtschaftssystem. Es kommt zu einem neo-merkantilistischen Wettlauf der großen Nationalökonomien und der Machtblöcke, in deren Gefolge sich die sozialökonomischen Ungleichgewichte vertiefen. Relativ prosperierenden Regionen stehen Territorien gegenüber, die dem Teufelskreis von Wirtschaftsdepression und Massenverelendung überlassen bleiben und nur noch durch Praktiken der asymmetrischen Kriegführung unter Kontrolle gehalten werden.

Die Folgen für die globalen Klassen der Arbeitenden und Ausgebeuteten

700 Millionen kleinbäuerliche Familien – 2,5 bis 2,8 Milliarden Menschen – sind durch Landraub, klimabedingte Missernten, Bürgerkriege und ruinöse Welthandelsbedingungen in eine existenzbedrohende Sackgasse geraten. Um zu überleben, schicken sie ihre aktivsten Mitglieder auf die Suche nach Arbeit und Einkommen in die relativ prosperierenden Zonen, soweit sie nicht insgesamt durch Kriegsgräuel und Hungerkatastrophen zur Flucht gezwungen sind. Die Vereinten Nationen registrieren derzeit weltweit 65,3 Millionen Flüchtlinge. Ähnlich viele haben seit dem Beginn der Großen Stagnation Südasien, den Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika als Arbeitsmigrant*innen verlassen. Die Zahl der Saison- und Binnenmigrant*innen, die sich mit diesen Migrationsbewegungen überschneiden, wird auf 300 Millionen jährlich geschätzt. Zehn bis 15 Prozent des Weltproletariats vegetieren derzeit auf den Migrationsrouten, in Internierungslagern und Massenunterkünften; weitere 15 Prozent haben in den Slum Cities und Schattenwirtschaften des globalen Südens eine prekäre Überlebensperspektive gefunden. Inzwischen ist auch Europa verstärkt in diese Massenwanderungen einbezogen. In den Jahren 2015/2016 überschritten knapp drei Millionen Menschen die Schengen-Grenze, die meisten von ihnen ohne Reisepapiere.

Die ungleiche Entwicklung des Weltwirtschaftssystems wird durch die Krisenzyklen verstärkt, und mit ihren sozialen Folgen werden die arbeitenden Klassen der Zuwanderungsländer konfrontiert. Ihre Arbeitsverhältnisse und Quartiere werden erneut unterschichtet, und das in einer Situation, in der sie stärker denn je mit den fatalen Folgen der Krisenbewältigung zu tun haben. Seit Beginn der Großen Stagnation sind 180 bis 190 Millionen Menschen ohne bezahlte Arbeit, etwa 25 Millionen mehr als vor der Großen Rezession 2007/2008. Unter dem Konkurrenzdruck dieser überwiegend jugendlichen und regional sehr unterschiedlich verteilten Massenerwerbslosigkeit hat sich der seit Jahrzehnten anhaltende Abbau sozial gesicherter und durch kollektive Arbeitsverträge garantierter Arbeitsplätze beschleunigt. Auch wenn sich in den Metropolen noch einige Enklaven der industriellen Arbeiterschichten gegen den Trend behaupten, sind neue Arbeitsverhältnisse inzwischen zur Norm geworden: zeitlich befristet, unterbezahlt, sozial dereguliert und durch neue Entgeltsysteme jenseits des Arbeitslohns destabilisiert. Dabei hat die Große Stagnation ihren Zenit noch längst nicht überschritten. Aber schon jetzt müssen wir konstatieren, dass sie dem sozialpartnerschaftlich verankerten Garantielohn den Todesstoß versetzt hat und damit eine Entwicklung beendet, die seit den 1970er Jahren andauerte.

Die sozialen Kämpfe

Die Unterklassen haben diesen Transformationsprozess nicht kampflos hingenommen: Sie haben ihn mit beeinflusst und die herrschenden Eliten immer wieder zu Ausweichmanövern und Zugeständnissen gezwungen. Im globalen Süden kam es seit Krisenbeginn in periodischen Abständen zu länderübergreifenden Aufständen gegen die Steigerung der Lebensmittelpreise. In vielen Ländern der Metropolen organisierten die arbeitenden Klassen Massenstreiks, Betriebsbesetzungen, Demonstrationen gegen den Sozialabbau und die Bildungsmisere, Aktionen gegen die Zwangsräumung von Mietwohnungen und andere Sozialrevolten, die in den folgenden Jahren – so etwa in Griechenland, Frankreich und Spanien – durch Generalstreiks überlagert wurden. Auch in Schwellenländern gingen Tagelöhner*innen, erwerbslose Jugendliche, Straßenhändler*innen und Busfahrer*innen zusammen mit entlassenen Industriearbeiter*innen auf die Straße und besetzten zentrale Plätze der Hauptstädte. In China revoltierten Millionen Wanderarbeiter*innen gegen ihre Entlassung aus den Fabriken der Sonderwirtschaftszonen, wobei ihnen häufig die Löhne vorenthalten worden waren. Als sie in den folgenden Jahren aus ihren Dörfern zurückkehrten, organisierten sie Massenstreiks in der Automobil- und Elektronikindustrie. Nach der brutalen Niederschlagung dieser Fabrikkämpfe dezentralisierten sich die Revolten. Sie dauern auf lokaler Ebene bis heute an und setzen das Regime in China unter erheblichen Reformdruck.

Die Zeugnisse des sozialen Widerstands, die hier stellvertretend für unzählige andere genannt wurden, blieben in der Regel auf bestimmte Regionen oder Nationalstaaten begrenzt. Seit 2011/2012 gab es jedoch drei Massenbewegungen, die von Anfang an transnational orientiert waren; deshalb war die weitere Perspektive der sozialen Kämpfe auf besondere Weise von ihrem Ausgang abhängig. Das erste Ereignis konzentrierte sich auf den Nahen und Mittleren Osten. In Tunesien, Ägypten und Syrien verdichteten sich seit Beginn des Jahres 2011 die sozialen Proteste der vorangegangenen Jahre zu einem Aufstand der prekär lebenden Jugendlichen aller sozialen Schichten. Dieser griff auf die gesamte arabische Welt über und stellte durch die Kombination sozialer Forderungen mit dem Anspruch auf politische Selbstbestimmung die Legitimität der despotischen Regime direkt infrage. Der so hoffnungsvoll begonnene Aufbruch rief jedoch sofort die Konterrevolution auf den Plan – zunächst die sozial-religiöse Reaktion, anschließend die Despotien selbst, die die Aufstände brutal unterdrückten und sogar die Option eines Bürgerkriegs den nur minimalen Reformkonzessionen vorzogen – einzig Tunesien bildete hier eine Ausnahme. Die »Arabellion« endete nach nur wenigen Monaten in einer katastrophalen Niederlage.

Dessen ungeachtet traf der »Arabische Frühling« weltweit auf eine positive Resonanz bei sozialen Bewegungen. Von der Transatlan-tikregion über Europa bis nach Ostasien erhoben sich Hunderttausende prekärer Jugendlicher zum kollektiven Massenprotest (vgl. LuXemburg 3–4/2013). Wie im Nahen und Mittleren Osten besetzten sie zentrale Plätze und Kommunikationspunkte – besonders spektakulär war ihr Versuch, die New Yorker Börse lahmzulegen. Die »Occupy«-Bewegung war gewaltlos. Sie konzentrierte sich auf Symbolhandlungen und gezielte Regelverletzungen, die mit Versuchen der Einübung direkter Demokratie verbunden waren. Dabei war der soziale Hintergrund der Proteste – die überdurchschnittliche Erwerbslosigkeit unter jungen Menschen und die extrem unsichere Perspektive der oft hochqualifizierten Berufsanfänger*innen – unverkennbar, und er fand in den Massendemonstrationen der norditalienischen Jugendlichen auch direkt Ausdruck. Die Bewegung verebbte in den folgenden Jahren, nachdem einige Initiativen in Europa zwischen 2012 und 2014 nochmals zu spektakulären »Blockupy«-Aktionen mobilisiert hatten. Die seither immer wieder aufgeflammten Revolten und Quartiersaufstände – zuletzt im Rahmen der Massenaktionen gegen den G20-Gipfel in Hamburg – hatten einen anderen, oft ziellos gewalttätigen, Charakter. Aber sie gehören zur Breite und zur Vielfalt des Aufbegehrens der jugendlichen Prekären, das auch künftig noch für Überraschungen gut sein wird.

Das dritte transnationale Großereignis war die jüngste Welle der Massenmigration von Zentral- nach Nordamerika, von Zentral- und Südasien in den Mittleren Osten und vom Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika nach Europa. Sie hat wegen ihres Umfangs und ihres spektakulären Charakters zu sozialen, mentalen und politischen Erschütterungen geführt, die die Ausgangs- und die Zuwanderungsländer noch lange in Atem halten werden. Dies zeigt sich besonders am Beispiel Europas. Der Exodus der aktivsten gesellschaftlichen Gruppen aus dem Vorderen Orient und Afrika wurde von Tausenden Aktivist*innen der europäischen sozialen Bewegungen unterstützt. Er fand in breiten Teilen der solidarischen Bevölkerung einen positiven Widerhall, während sich gefährdet fühlende Gruppen aus der etablierten Mitte oder dem Kleinbürgertum – überwiegend Männer – und mittlerweile auch ein relevanter Teil von Arbeiter*innen und Arbeitslosen ihm reserviert bis ablehnend gegenüberstehen. Der Ausgang der Auseinandersetzung um Migration und Integration (vgl. LuXemburg 1/2017) ist offen. Aber es bleibt festzuhalten, dass seit 2015 eine historisch einmalige Interaktion zwischen wesentlichen Teilen der metropolitanen sozialen Bewegungen und der Massenmigration der Peripherie stattfindet, die sich in den vergangenen Jahren zwar mikroskopisch angebahnt hatte, nun aber eine in diesem Ausmaß unerwartete Wirkungsmächtigkeit entfaltete.

Die Perspektiven der Großen Stagnation …

Vieles spricht dafür, dass die Große Stagnation am Ende ihrer ersten Dekade an einem Wendepunkt angelangt ist. Zwar hat sich an der Grundtendenz der Krisenüberwindung nichts geändert – aber es kam zu einem folgenreichen Kurswechsel in der Vorgehensweise: Die Koordinationsinstrumente zur Integration des Weltsystems – Welthandelsorganisation, Weltbank, Internationale Arbeitsorganisation, G20-Gruppe – sind stumpf geworden. Stattdessen konzentrieren sich die zentralen Akteure zunehmend auf die Konsolidierung und wechselseitige Abschottung ihrer Machtblöcke durch Handelskriege, Protektionismus, wechselseitige Sanktionen, forciertes Wettrüsten, verdeckte Stellvertreterkriege, die Erweiterung ihrer Einflusssphären und den neokolonialistischen Wettlauf um Grund und Boden sowie Rohstoffe. Das alles wird überlagert durch das gigantische Aufgebot der führenden Konzernkonglomerate im Ringen um Spitzenpositionen (und Spitzenprofite) bei der technologischen Weiterentwicklung der Produktions- und Reproduktionsprozesse. Roboter, digitalisierte Produktionsketten, verfeinerte Umwelttechnologien, erneuerbare Energieträger, die Künstliche Intelligenz und Elektroautos halten Einzug. Zu Beginn der Großen Stagnation wurde der erste leistungsfähige mobile Personalcomputer – das iPhone – eingeführt. Gegen Ende der zweiten Dekade wird die gesamte Kapitalstruktur einmal mehr technologisch umgewälzt sein – und weitere Dutzende Millionen Menschen werden ihre Arbeitsplätze in den Fabriken, im Transportsektor und im Dienstleistungsgewerbe verlieren. Die durch die Rahmenbedingungen der Großen Stagnation vorgegebene Strategie der Spaltung der Klasse durch Unterbeschäftigung wird durch eine gigantische technologisch bedingte Erwerbslosigkeit überlagert.

Die hier skizzierten Entwicklungstendenzen erinnern auf frappierende Weise an die strukturellen Umbrüche, die das kapitalistische System in der Langen Depression der 1870er bis 1890er Jahre durchlief. Auch hier wurden erst nach vielen erfolglosen Anläufen endogene Faktoren wirksam, die in Gestalt der Elektrotechnik, des Verbrennungsmotors und der industriellen Nutzung der fossilen Energieträger eine neue lange Welle der kapitalistischen Dynamik in Gang brachten. Aber auch diese gewaltigen Innovationsschübe wurden durch wachsende imperialistische Gegensätze überlagert, die Karl Kautskys Hoffnung auf einen »ultra-imperialistischen« Ausgleich zunichtemachten. So mündete der aus der Langen Depression hervorgegangene Zyklus in den Ersten Weltkrieg mit seinen industrialisierten »Materialschlachten«. Auch heute sind größere zwischenstaatliche militärische Aggressionen wieder denkbar geworden. Sie überschatten die asymmetrischen Nord-Süd-Kriege der beiden letzten Jahrzehnte und könnten sich bald zu großen Regionalkriegen ausweiten – bis hin zu einem neuen Weltkrieg.

… und die Perspektivprobleme des sozialen Widerstands

Das sind eher düstere Aussichten für das globale Multiversum der arbeitenden und ausgebeuteten Klassen. Die Rahmenbedingungen für die Vermittlung kollektiver Erfahrungen und Lernprozesse verschlechtern sich derzeit auf allen Ebenen der sozialen Räume – nur Zweckoptimist*innen können diesen Befund noch abstreiten. Gleichzeitig nehmen die Probleme, die für eine nachhaltige Gegenperspektive von unten zu lösen wären, exponentiell zu, und parallel dazu wächst ihre Tragweite. Ich kann nur ein besonders signifikantes Beispiel herausgreifen und einige weitere Problemfelder auflisten, deren Bedeutung unstreitig sein dürfte.

Das gravierendste Problem drängt sich von selbst auf: Wie sollen wir auf die unwiderruflich gewordene Deregulierung und Destabilisierung der Arbeitsverhältnisse antworten? Für die Mehrheit der metropolitanen Linken erscheint die Antwort eindeutig: Wir müssen alles daran setzen, um »gute Arbeit« und ein auskömmliches und existenzsicherndes Einkommen durchzusetzen. Diese Forderung negiert jedoch nicht nur den Niedergang der Gewerkschaften und ihrer politischen Repräsentationen, sondern auch die proletarischen Alltagserfahrungen von heute. Was aber stattdessen? Viele plädieren für die Ausweitung des Mindestlohnsystems. Andere – so etwa die schweizerische Gewerkschaft UNIA – fordern die Einführung einer allgemeinen Einkommensversicherung, durch die auch längere Perioden des selbstgewählten Ausstiegs aus dem Arbeitsverhältnis abgesichert werden sollen. Andere Initiativen machen sich für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens stark, und wieder andere denken über eine Kombination dieser Verfahren nach, an deren Ende ein öffentlich garantiertes »soziales Salariat« stehen soll. All diesen Verfahren gemein ist die relative Entkopplung des Einkommens vom jeweiligen Arbeitsverhältnis; sie tragen somit der Tatsache Rechnung, dass die Arbeitsverhältnisse inzwischen flüchtig, »flexibel«, befristet und mit intransparenten Entgeltmechanismen behaftet sind. Der Pferdefuß besteht meines Erachtens in der Anbindung dieser Verfahren an einen zentralen öffentlichen Träger, der sich ebenfalls zunehmend verflüchtigt: an den sozial regulierten Nationalstaat als allmächtigem Garanten eines mehr oder minder arbeitslos werdenden Einkommens für all diejenigen, die mit der Identitätskarte des jeweiligen Nationalstaats oder Machtblocks ausgestattet sind. Damit liegen die wunden Punkte dieser Konzepte offen zutage. Sie klammern erstens die Frage nach der Verfügung über die Produktionsmittel aus, und damit akzeptieren sie stillschweigend die Fortdauer von kommandierter und entfremdeter Arbeit. Sie lassen zweitens die demokratische Legitimationsbasis eines solchen sozialen Salariats außer Betracht: den föderativen Neubau einer egalitären Gesellschaft jenseits der Nationalstaaten und imperialistischen Machtblöcke. Und sie vergessen drittens, dass das durch das Sozialeinkommen materiell fundierte Existenzrecht universell zu gelten hat: In den Bezug dieser Sozialeinkommen müssen selbstverständlich auch die Straßenhändler*innen der Slum Cities, die Mülllkippensammler*innen Manilas, die Subsistenzfamilien der afrikanischen und südasiatischen Dorfgemeinden, die chinesischen Wanderarbeiter*innen, die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die Invaliden der Ukraine und die durch das deutsche Austeritätsdiktat ins Elend gestürzten Proletarier*innen der europäischen Peripherieländer einbezogen werden. Nur dann ist die Suche nach neuartigen existenzsichernden Einkommen gerechtfertigt. Die um sich greifende Massenerwerbslosigkeit und die damit einhergehende Deregulierung der Arbeitsverhältnisse hat die materielle Fundierung des Existenzrechts zur dringlichsten Frage des sozialen Widerstands gemacht.

Es gibt weitere Problemfelder, von denen ich hier nur drei aufliste:

1 | Ist es nicht an der Zeit, ergänzend zu unserer – unverzichtbaren und außer Frage stehenden – Solidarität mit den Subjekten der neuesten Massenmigration in eine Debatte über die Dringlichkeit und die Zielstellungen einer sozialrevolutionären Selbstorganisation in ihren Herkunftsländern einzutreten?

2 | Müssen wir nicht mehr über die Ursachen und Folgen der Instrumentalisierung der »Arabellion« durch den islamischen Fundamentalismus diskutieren? Wir sollten generell nach Antworten auf das Phänomen der zunehmenden sozial-religiösen Verkleidung des anti-imperialistischen Widerstands suchen.

3 | Weshalb sind alle Versuche gescheitert, das europäische Haus zu verteidigen, das infolge der Austeritätsdiktate dem Ruin zutreibt? Und warum versuchen wir nicht, den europäischen Integrationsprozess durch eine föderative Initiative von unten zu erneuern, um unseren Beitrag zur föderativ-demokratischen Transformation des Weltsystems zu leisten, statt uns auf das Terrain des Nationalstaates begrenzen zu lassen?

Bei allem Respekt vor den Anstrengungen und Errungenschaften des sozialen Widerstands ist klar geworden, dass er zu einer anti-systemischen Bündelung seiner Bestrebungen nicht in der Lage ist. Zwar wird wieder offen über Kapitalismus, Ausbeutung und Lohnsklaverei geforscht und geschrieben – selbst der Begriff »Weltarbeiterklasse« wird wieder verwendet. Doch ist sie eben vielfältig gespalten. Liegt es da nicht nahe, trotz aller bitteren Erfahrungen mit den bisherigen Internationalen der Arbeiterbewegung über einen organisatorischen Vorgriff nachzudenken, der die derzeitige Große Stagnation des sozialen Widerstands überwinden könnte? Die Neubegründung einer Internationalen Assoziation der Arbeiter*innen (vgl. Musto in diesem Heft) ist dringlich geworden – eine neue Internationale als Voraussetzung für erfolgreichen Widerstand vor Ort. Es scheint utopisch, doch weniger wäre unangemessen, zu wenig, um den gegnerischen Kräften etwas entgegenzusetzen.