| Gute Arbeit in einer digitalen Arbeitswelt: Gestaltungsperspektiven im Dienstleistungssektor

Dezember 2015  Druckansicht
Von Martin Beckmann

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt wird in der Bundesrepublik hauptsächlich hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Industrie diskutiert. Aber auch hierzulande finden mittlerweile über 70 Prozent der Wertschöpfung und Beschäftigung im Dienstleistungssektor statt. Und in vielen Dienstleistungsbereichen ist die Digitalisierung bereits weit fortgeschritten und hat zu umfassenden Veränderungen geführt: Musik und Filme werden seit Jahren vornehmlich im Internet erworben und konsumiert, Bankgeschäfte zu weiten Teilen online abgewickelt, unterschiedlichste Waren vermehrt bei Online-Händlern gekauft.

Künftig dürften immer mehr Dienstleistungsbranchen durch Digitalisierung tiefgreifend verändert werden. Dies zeigt sich etwa im Gesundheitswesen. Eine elektronische Pflegedokumentation ist hier bereits verbreitet, und künftig werden sowohl Computersysteme, die die Diagnose und Therapie unterstützen, als auch Serviceroboter zur Unterstützung der Pflege vermehrt eingesetzt. Auch die Finanzbranche wird sehr viel umfassender verändert werden, als dies bereits durch Onlinebanking und Automatenfilialen geschehen ist. Insbesondere Nichtfinanzunternehmen entwickeln etwa sogenannte Fintechs, das heißt internetbasierte Technologien im Finanzbereich, zum Beispiel im E-Commerce. Auch Zahlungsmöglichkeiten mittels Smartphone, die in anderen Ländern schon heute sehr viel populärer sind als in Deutschland, dürften an Bedeutung gewinnen (vgl. Deutsche Bank Research 2014). Und im Handel wird nicht nur einfach das Online-Geschäft wichtiger werden. Vielmehr dürften Off- und Onlinehandel stärker verschmelzen, etwa indem zusätzliche Informationen über Produkte im Supermarkt auf dem Handy verfügbar sind (Roth 2015, 21f.).

Rationalisierung durch Digitalisierung

Die hier beispielhaft genannten möglichen Veränderungen dürften auch weitere Dienstleistungsbranchen betreffen. Mit ihnen verändert sich auch die Arbeit grundlegend. So stellt sich die Frage, ob aufgrund des technischen Fortschritts eine digital bedingte Massenarbeitslosigkeit zu befürchten ist (vgl. Krämer in LuXemburg 3/2015). Zu diesem Thema sind in der letzten Zeit verschiedene Studien veröffentlicht worden. Eine Studie im Auftrag der ING DiBa, welche die von den Oxford-Ökonomen Carl Benedict Frey und Michael Osbourne (2013) für den US-amerikanischen Arbeitsmarkt angestellten Modellrechnungen bezüglich der Auswirkungen der Digitalisierung auf Deutschland zu übertragen versucht, kommt zu folgendem Ergebnis: „Von den 30,9 Millionen berücksichtigten sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten sind 18,3 Millionen Arbeitsplätze bzw. 59 Prozent in ihrer jetzigen Form von der fortschreitenden Technologisierung bedroht.“ (ING DiBa 2015, 1) Auch wenn sich die Ergebnisse nur auf das Automatisierungspotenzial beziehen und nicht mit tatsächlichen Beschäftigungseffekten gleichgesetzt werden dürfen, scheint die Gefahr eines digitalisierungsbedingten Anstiegs von Arbeitslosigkeit gegeben.

Diese Tendenzen zeigen, dass die von Jean Fourastié (1954) in der Mitte des 20. Jahrhunderts geprägte Vorstellung, dass Dienstleistungsarbeit im Gegensatz zur Industriearbeit nicht rationalisiert werden könne, unter den Bedingungen der Digitalisierung nicht greift. Es werden sogar wissensbezogene Dienstleistungen wie zum Beispiel das Verfassen von Texten oder Übersetzungen automatisiert. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee (2014) führen als eine mögliche Ursache hierfür das exponenzielle Wachstum der Rechen- und Speicherleistungen von Computern, die umfassende Digitalisierung von Wissen sowie kombinatorische Innovationen an. Erfahrungen und Wissen können – so die Autoren – durch Software und Statistiken nachgebildet werden. Automatisierte Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen ersetzen zuweilen menschliche Entscheidungen, kurz gesagt, das Denken selbst unterliegt dem Versuch der Automatisierung.

Produktivitätsgewinne im Sinne der Beschäftigten nutzen

Wenn digitalisierungsbedingte Massenarbeitslosigkeit vermieden werden soll, muss politisch gehandelt werden. Allgemein formuliert müssen die durch die Digitalisierung erzielten Produktivitätsgewinne zumindest in Teilen umverteilt werden (vgl. Riexinger in LuXemburg 3/2015). Fließen müssen diese etwa in die Weiterbildung der Erwerbstätigen, um diese für die Herausforderungen einer digitalen Arbeitswelt zu qualifizieren. Ver.di plädiert dabei für die Einführung eines Anspruchs auf Bildungsteilzeit, wie er in Österreich bereits besteht. Beschäftigte könnten ihren Job unterbrechen, um ein weiterbildendes Studium aufzunehmen. Die Arbeitszeit würde in der Studienzeit halbiert. Eine öffentliche Förderung würde die Halbierung des Entgelts zumindest teilweise kompensieren, auch wenn diese für echte Umverteilungswirkungen mit einer veränderten Steuergesetzgebung einhergehen müsste. Neben der Förderung der Weiterbildung muss über eine steuerpolitische Umverteilung dafür gesorgt werden, dass gesellschaftliche Bedarfsfelder insbesondere im Bereich personenbezogener Dienstleistungen wie etwa Bildung, Pflege und Gesundheit ausgebaut und qualitativ verbessert werden. Diese leistet einen Beitrag für mehr Lebensqualität und soziale Gerechtigkeit, außerdem sind die Möglichkeiten der Automatisierung hier zwar nicht ausgeschlossen, aber doch begrenzter als zum Beispiel in Handel oder Logistik. Schließlich muss angesichts der großen Produktivitätsfortschritte dank digitaler Technologien endlich auch die Verkürzung der Arbeitszeit wieder zu einem gesellschaftlich diskutierten Thema und Gegenstand gewerkschaftlicher Tarifpolitik werden.

Dienstleistungsarbeit erfolgt zunehmend an Computern, digital vernetzt und mit Hilfe von Smartphones, Notebooks und Tablets auch vermehrt mobil und flexibel. So sind etwa 92 Prozent der Arbeitsplätze in der Medien- und Kulturbranche, 82 Prozent in Energieunternehmen und 71 Prozent im Handel digital ausgestattet (Brandl/Bsirske 2015, 17). Mobiles und flexibles Arbeiten könnte den Erwerbstätigen grundsätzlich neue Freiräume eröffnen, ihre Arbeit selbstbestimmter zu gestalten. Angesichts des von Arbeitgeberseite erzeugten Leistungsdrucks, Konsequenz aus rationalisierungsbedingtem Personalabbau und einer über Finanzkennziffern getriebenen Marktsteuerung, der sich die meisten Beschäftigten seit den 1990er Jahren unterwerfen müssen, führen die neuen Freiräume häufig aber eher zu neuen Belastungen, insbesondere psychischer Art. Verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig zu betreuen und starker Termin- und Leistungsdruck sind die laut Beschäftigtenangaben wichtigsten Gründe für psychische Belastung bei der Arbeit, so der Befund des von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erstellten Stressreports (2012, 35). Die permanente Erreichbarkeit durch Smartphone und Tablet schafft hierfür keine Abhilfe sondern kann im Gegenteil verstärkend wirken.

Politisch intervenieren für gute digitale Arbeit

Mit der Digitalisierung ebenfalls verbunden ist ein verstärktes Outsourcing, in diesem Fall über die Ausschreibung von Aufträgen über Online-Plattformen mittels Crowdsourcing. Die Bandbreite der soloselbständigen Auftragnehmerinnen und Auftragnehmer reicht von Hochqualifizierten, zum Beispiel SoftwareentwicklerInnen bis zu KleinstauftragnehmerInnen. Letztere erledigen als sogenannte Clickworker einfache Tätigkeiten wie Korrekturlesen, die (noch) nicht von Computern übernommen werden können und die über Plattformen wie zum Beispiel das von Amazon angebotene Mechanical Turk ausgeschrieben werden (vgl. Altenried in LuXemburg 3/2015).

Um gute digitale Arbeit zu schaffen, muss auch hier politisch interveniert und der Prozess bewusst gestaltet werden (vgl. Ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit 2015). Benötigt werden unter anderem ein Recht auf Nichterreichbarkeit, die Anpassung von Arbeitsschutzregelungen an mobile und digitale Arbeit, ein Recht auf Telearbeit und die soziale Absicherung von Solo-Selbständigen. Generell gilt, dass auch die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien sich nicht einfach am Prinzip technischer Möglichkeiten bzw. den sich auf ihrer Grundlage entfaltenden Profitinteressen orientieren darf. Vielmehr müssen die Technologieentwicklung und das Innovationsgeschehen auf die Interessen der NutzerInnen ausgerichtet und diese – VerbraucherInnen wie Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen – in die Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse eingebunden werden. Schließlich muss auch der Schutz von Daten und Persönlichkeitsrechten, von KonsumentInnen und Beschäftigten, gewährleistet sein. Neben einem eigenständigen Beschäftigtendatenschutzgesetz, welches etwa die gezielte Beobachtung und Überwachung am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld untersagen muss, zählt hierzu auch demokratische Technikfolgenabschätzung, die sich an Prinzipien wie Datensparsamkeit und Zweckbindung orientiert und den Datenschutz in das Entwickeln von Netzwerken, Soft- und Hardware von Anfang an integriert.

Literatur

Brandl, Monika und Frank Bsirske, 2015: Digitalisierung braucht ein menschliches Maß – Perspektiven gewerkschaftlichen Handelns; in: Ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit (Hg.), Gute Arbeit und Digitalisierung – Prozessanalysen und Gestaltungsperspektiven für eine humane digitale Arbeitswelt, Berlin, 12–29

Brynjolfsson, Erik und Andrew McAfee, 2014: The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird, Kulmbach

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2012: Stressreport Deutschland 2012, Dortmund/Berlin/Dresden

Deutsche Bank Research, 2014: Fintech – die digitale (R)evolution im Finanzsektor, 23. September, Frankfurt/M

Fourastié, Jean, 1954: Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, Köln

Frey, Carl Benedict und Michael A. Osborne, 2013: The Future of Employment: How susceptible are jobs to computerisation?, www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf

ING DiBa, 2015: Die Roboter kommen, 30. April, Frankfurt/M

Roth, Ines, 2015: Digitale Innovationen im Dienstleistungssektor – Bedeutung und Folgen, Ver.di-Innovationsbarometer 2015, Berlin

Ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit (Hg.), 2015: Gute Arbeit und Digitalisierung – Prozessanalysen und Gestaltungsperspektiven für eine humane digitale Arbeitswelt, Berlin