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Glasnost, Perestroika und das Eigentum

Von Petra Brangsch

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden Eigentumsverhältnisse in der Sowjetunion heftig diskutiert und umgearbeitet: Wie konnte das Eigentum an Produktionsmitteln im Sozialismus wieder zu »Eigentum des Volkes« (obščenarodnaja sobstvennost’) werden? Es ging um Fragen von Moral, Politik und Ethik, die rechtliche Stellung wirtschaftender Subjekte, wie auch um wirtschaftswissenschaftliche Debatten. Die begriffliche Verschiebung – nicht vom sozialistischen bzw. gesellschaftlichen Eigentum, sondern vom Eigentum des Volkes zu sprechen – markierte einen Umschwung. Es sollte sich ein im Wortsinn ökonomisches, von Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein geprägtes Verhältnis zum Eigentum des Volkes entwickeln. Die Menschen sollten sich als Chozjajn, als »fürsorglicher Wirtschaftler« (wörtlich: Hausherr) verhalten (können).

Die Überlegungen zur Veränderung der Eigentumsverhältnisse warfen die Frage nach Stellung und Rechten der Unternehmen, der Unternehmensleitungen und der Beschäftigten auf. Gorbačëv wollte den »Weg zur Erweiterung der Rechte der Betriebe, ihrer Selbständigkeit« beschreiten (Gotbatschow 1986, 16). Dies schloss aus damaliger Sicht die Vervollkommnung des Planungssystems notwendig ein.

Der Umbau sollte alle Ebenen erfassen: Hervorgehoben wurde die Einheit der Veränderung der Leitung »oben« mit der Entwicklung kollektiver Formen der Organisation (im Sinne von Selbstverwaltung) und der Stimulierung (Bezahlung) der Arbeit »unten«. Mit den Wirtschaftsreformen der folgenden Jahre sollten die Beschäftigten in ihren Kollektiven selbstständig entscheiden können, gleichzeitig sollten sich Wirtschaft und Gesellschaft weiter als »harmonisches Ganzes«, unter Bewahrung und Ausbau sozialer Errungenschaften, entwickeln.

Eine Reihe von neuen Gesetzen festigte die rechtliche Stellung der Betriebe und der Belegschaften (1987). Hinzu kamen Gesetze, die Genossenschaften neuen Typs (Mai 1988) und individuelle unternehmerische Tätigkeiten (1987) sowie die Verpachtung von Land und Unternehmen ermöglichten (November 1989). Es wurde zugelassen, dass ausländisches Kapital durch die Schaffung gemeinsamer Unternehmen einbezogen werden konnte.

In der 1987 beginnenden Umsetzung verbanden sich die Beschleunigung der sozial- ökonomischen Entwicklung (Uskorenie) und der Umbau der politischen und gesellschaftlichen Beziehungen (Perestrojka). Ökonomische, politische, soziale, kulturelle Probleme und Widersprüche sollten gleichzeitig von verschiedenen Seiten angegangen werden. Zentral war die »Entstaatlichung« (razgosudarstvlenie) des Eigentums. Die Selbstständigkeit der Unternehmen und die Stellung der Beschäftigten sollten gestärkt werden: Sie sollten die Möglichkeit haben, sich das betriebliche und gesellschaftliche Eigentum anzueignen – über die beschleunigte sozialökonomische Entwicklung und eine Verbesserung der Lebensbedingungen.

Das Gesetz zu Arbeitskollektiven wurde bereits 1983 erlassen, konnte aber erst unter diesen Bedingungen tatsächlich wirksam werden. Die Arbeitskollektive »erhielten das Recht, unmittelbar an der Leitung der Produktion teilzunehmen: Sie konnten den Rat des Betriebes wählen, aber auch die Führungskräfte (Direktoren), die Leiter der Betriebsteile und die Brigadiere (Belousov 2006, 140).1 Der Rat des Betriebes sollte die zentrale Schaltstelle zur Realisierung der unmittelbaren Teilnahme der Beschäftigten an der Leitung sein. Er wurde auf einer Vollversammlung oder Delegiertenkonferenz des jeweiligen Unternehmens gewählt und war in alle wesentlichen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Wahl bzw. Auswahl der Führungskräfte und Spezialisten.

Am häufigsten übernommen wurde das »Brigadevertragssystem«, die Einrichtung von Genossenschaften und von privaten KleinstUnternehmungen. Das spiegelte sich in vielen Artikeln in Tageszeitungen und wissenschaftlichen Publikationen wider (vgl. Chozrasčët i rynok 1990, 127ff). Damit veränderte sich die Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen. In der Form des Brigadevertragssystems wurden zwischen dem Betrieb und einzelnen Arbeitskollektiven Verträge über die zu erbringenden Leistungen und die Vergütung abgeschlossen. Die Organisation der Arbeit und z.T. auch die Verteilung der Zahlung war weitgehend dem Kollektiv überlassen. Darauf baute (ab 1988, endgültig kodifiziert im November 1989) der »Pachtvertrag« (arendny podrjad) auf. Die Arbeitskollektive wurden zu Unternehmen innerhalb der Betriebe. In einem Reader der Pravda im Jahr 1988 wird diese Form als Ende der Gleichmacherei, als Ende aller Probleme mit Löhnen, Normen und Plänen beschrieben. Die Arbeitskollektive brauchten nun nur einen langfristigen Vertrag, ein Verrechnungskonto und ein Scheckbuch.2 In der Landwirtschaft hatte das Pachtsystem zunächst auf regionaler Ebene Erfolge. Volkswirtschaftlich betrachtet leitete es eine Welle der Desintegration ein. Es war ein Faktor, der die Schocktherapie der 1990er Jahre vorbereitete und in der ersten Zeit legitimierte. Mit der Verbreitung des Brigadevertragssystems und der Pacht beginnt das Sprechen von »überflüssigen Leuten« (lišnye ljudi), die das Arbeitskollektiv für die Erfüllung der Leistungen nicht braucht. Die soziale Funktion der Unternehmen als Form der Realisierung sozialistischer Eigentumsverhältnisse schwindet. Soziale Sicherheit verliert gegenüber ökonomischer Effizienz an Gewicht. Im Oktober 1988 wurde in einem Beschluss des Ministerrates die Möglichkeit geschaffen, Aktien für Unternehmen an die Beschäftigten und an andere Betriebe auszugeben. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die in der Privatisierung der sowjetischen bzw. der Wirtschaft der entstehenden selbstständigen Staaten Anfang der 90er Jahre auslief. Mit den Gesetzen über das Eigentum (1990) und über die »unternehmerische Tätigkeit« (1991) wurde die Wende vollendet. Allerdings hatten diese Gesetze in der Union kaum noch praktische Bedeutung, da der politische Zerfall der UdSSR rapide voranschritt. Die Folgen sind bekannt. Der Sozialismus sollte mit den Reformen von 1985–1989 eine neue Grundlage erhalten. Das scheiterte, weil eine Entwicklung in Richtung auf »Schocktherapie« und einen rohen, mitunter kriminellen Kapitalismus »von oben« eingeleitet wurde. Trotz der politischen Reformen (glasnost’ und perestroika) waren die Massen von diesen Entscheidungen ausgeschlossen.

 

Literatur

Belousov, R., 2006: Ekonomičeskaja istorija Rossii: XX. vek. Kniga 5, Mockva
Gorbatschow, Michael, 1986: Ausgewählte Reden und Schriften, Berlin

Anmerkungen

1 Dt. in: Über die grundlegende Umgestaltung der Leitung der Volkswirtschaft in der UdSSR. Gesetze und Beschlüsse, Berlin 1987. Brigadiere waren LeiterInnen von Teams, Arbeitsgruppen auf der untersten Ebene der Arbeitsorganisation.
2 Arenda – Archimedov ryčag, Moskva 1988, 4f