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»Wir dürfen übrigens auch gewinnen«

Gespräch mit Alexandria Ocasio-Cortez

Alexandria Ocasio-Cortez ist Fürsprecherin eines demokratischen Sozialismus und Mitglied  der Organisation Democratic Socialists of America [1] (DSA), die in den letzten drei Jahren fast 10.000 neue Mitglieder gewonnen hat. Im Gespräch geht es um ihren Zugang zu sozialistischer Politik, ihre strategischen Prioritäten und darüber, was es braucht, um als Linke zu gewinnen.

Wieso hast du dich bei den Democratic Socialists of America organisiert?

Ich liebe diese Frage! Ich glaube nämlich, dass mein Weg zur DSA großen Einfluss auf meine politische Organizing-Strategie gehabt hat. Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, der nicht ideologisch geprägt war. Viele Freund*innen von mir kommen aus Gewerkschafter*innen- und Professor*innen-Familien, die seit Generationen mit der Arbeiterbewegung verbunden sind. Bei mir ist das nicht so. Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt, meine Mutter hat geputzt, mein Vater hatte ein Kleingewerbe. Meine Eltern sind in extremer Armut aufgewachsen.

Auf die DSA bin ich gekommen, weil sie überall dort war, wo auch ich war. Ich habe als Community-Organizerin gearbeitet und mich für Bildungsgerechtigkeit eingesetzt. Irgendwann lud mich eine Freundin zur DSA-Ortsgruppe Bronx/Upper Manhattan ein. Erstmal dachte ich „Gut, das ist halt eine weitere Gruppe, die Reden hält und diskutiert.“ Die DSA organisierte aber damals Mahnwachen vor einem der größten Kamerahersteller in New York, um auf die Situation der Beschäftigten in deren Lagern aufmerksam zu machen. Sie hatten einige der illegalisierten Arbeiter*innen zu ihrem Treffen eingeladen, hörten zu und übersetzten die Berichte. Es gab sogar eine kostenlose Kinderbetreuung für das Treffen. Und ja, am Ende dachte ich, „Okay, die meinen es ernst“.

Es gibt viele Leute, die von Klassenfragen sprechen, die tief in diesem kämpferischen Diskurs stecken. Für mich, die ich in diesem Umfeld aufgewachsen bin, ist entscheidend, wie wir all dies in die Praxis übertragen. Und das hat die DSA für mich einzigartig gemacht, zu etwas, wo es lohnt, dranzubleiben.

Zu dieser Zeit engagierte sich die DSA auch für einen Kandidaten für die Wahlen zum Stadtrat. Ich hatte damals noch große Zweifel an der Orientierung auf Wahlen. Ich war tief in der Welt des Community Organizing und dachte, „Durch Wahlen lässt sich nichts erreichen“. Im New Yorker Kontext gab es zudem alte Spannungen zwischen den verschiedenen nicht-weißen Community Organizing-Traditionen und der DSA, die mehrheitlich weiß war.

Aber dann gab es einen Moment, in dem wir alle zusammenkamen. Als ich sah, wie die DSA bei den Black Lives Matter Protesten vor Ort war und Unterstützung leistete, wie sie die Abschaffung der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE forderte. Da habe ich verstanden, dass es ihnen nicht um das Primat einer rigorosen traditionellen Klassenpolitik geht, sondern um einen multiethnischen Klassenkampf, in dem Menschenrechte nicht nachrangig sind. Das hat mich beeindruckt und davon wollte ich Teil sein.

Deine Prioritäten sind aktuell der Green New Deal und Medicare For All. Beides kann nur durch ein Gesetz im Kongress verwirklicht werde. Was bedeutet das für die politische Strategie einer sozialistischen Organisation?

Ich bin großer Fan einer doppelten Herangehensweise. Ja, es wird kein Medicare For All ohne ein Kongressgesetz geben. Am Ende zählt die Gesetzgebung. Ich glaube aber, dass Menschen sich durch Umfrageergebnisse in falscher Sicherheit wiegen. Sie blicken auf die Meinungsumfragen und glauben, dass die Unterstützung für ein Gesetzesvorhaben gesichert sei. Dabei unterschätzen sie völlig die Anfälligkeit für die Propaganda der Konzernlobby und der Gesundheitsbranche. Wir müssen ehrlich sein und sehen, wieviel Weg noch vor uns liegt. Es gibt Anliegen, für die die Zustimmungswerte in Umfragen tatsächlich hoch sind. Bei anderen Themen schlagen die Zahlen mal nach oben, mal nach unten aus und können im Laufe einer Kampagne stark variieren.

Das haben wir in positiver Hinsicht beim Green New Deal (GND) erleben können. Er wurde von der Öl- und Gaslobby massiv torpediert und schneidet trotzdem in Umfragen gar nicht so schlecht ab. Wir sehen auch, dass wir die Zustimmung durch Aufklärungs- und Kampagnenarbeit schnell steigern können, dort, wo Menschen ihm noch eher ablehnend gegenüberstehen. Sobald wir vor Ort sind, Organizer*innen entsenden oder eine andere Unterstützungskampagne für den Green New Deal anstoßen, steigen die Zustimmungswerte deutlich. Unsere strategische Priorität muss es deshalb sein, die Organizing-Aktivitäten beizubehalten, Und wir müssen verschiedene Gesetzesinitiativen im Gesundheitsbereich auf bundesstaatlicher Ebene, etwa eine allgemeine staatliche Krankenversicherung im Bundesstaat New York unterstützen.

Immer wieder hören wir von konservativen Demokrat*innen, dass der Stil und die Politik von AOC in Queens oder der Bronx gut ankommen mag, dass sie aber in stärker umkämpften Wahlkreisen draußen im ländlichen Amerika keine Chance hätte.

Ich denke das stimmt nicht einmal ansatzweise. Ich denke ihre Kritik ist eher ästhetischer Natur. Schließlich bin ich in der Bronx geboren und aufgewachsen. Es ist meine Community. Wenn ich aber nun in einen anderen Staat gehe, z.B. nach Nebraska, dann werden die Leute wohl recht schnell bemerken, dass ich gar nicht aus Nebraska bin. Ich denke das hat weniger mit den tatsächlichen politischen Inhalten zu tun, als damit, dass ich New Yorkerin bin und mich wie eine New Yorkerin verhalte. Und weißt Du was? Ich muss mich doch auch wie eine New Yorkerin verhalten, wenn ich den 14. Kongresswahlbezirk von New York vertrete. Dasselbe gilt ja auch umgekehrt: Menschen aus einer anderen Community könnten auch nicht einfach in unseren Wahlkreis kommen und hier Erfolg erwarten. Es ist wichtig, dass wir vermitteln, dass all unsere Communities gleichwertig sind. Aber inhaltlich, in Bezug auf die Politik, die wir vorschlagen, ist die Kritik glaube ich nicht stichhaltig.

Natürlich kann der Stil, wie wir für diese Inhalte eintreten, auch ausschlaggebend sein. Aber genau da wird doch die Bedeutung einer multiethnischen, multi-identitären, geschlechtlich und geografisch vielfältigen Bewegung deutlich. Das ist doch auch das Tolle an unserer Zusammenarbeit mit Bernie. Es gibt Communities, in denen es mir gelingt, Gehör zu finden und wo ich erfolgreiches Organizing machen kann, es gibt Communities, in denen es Bernie und mir gelingt, und es gibt Communities, in denen es nur Bernie gelingt. Wenn wir uns zusammentun, vergrößern wir das Vertrauen und unsere kollektive Macht.

Manche auf der Linken meinen, dass die Biden-Administration keinerlei Fortschritt bringt angesichts der bisherigen Bilanz  und Bidens Abgrenzung gegenüber dem linken Parteiflügel. Wie siehst Du das?

Ich denke diese Kritik kommt aus einer ziemlich privilegierten Perspektive. Wir müssen uns auf unsere Solidarität untereinander besinnen und lernen, zwischen konstruktiver und destruktiver Kritik zu unterscheiden. Für destruktive Kritik hat unsere Bewegung weder die Zeit noch den Luxus. Wenn jemand behauptet „Nichts hat sich geändert“, dann müssen wir sehr genau hinschauen, welche Botschaft das an die nicht-weißen oder illegalisierten Mitglieder unserer Community sendet.

Es geht hier nicht um Wortklaubereien. Mit der Sprache, die wir verwenden, vermitteln wir auch, wer anerkannt und einbezogen wird. Natürlich, es mag sein, dass sich noch nicht genug verändert hat. Aber gerade vor ein paar Tagen haben wir gemeinsam einige Abschiebungen verhindert, was unter einer Trump-Administration wohl kaum gelungen wäre. Wenn man sagt „nichts hat sich verändert“, dann bezeichnet man die Leute, die heute besser vor Abschiebung geschützt sind, als „niemand“. Das können wir nicht zulassen. Das wäre keine Bewegung, an der ich teilhaben wollen würde. Leider sind wir oft so anfällig für Zynismus. Dieser Zynismus droht immer wieder alles einzureißen, was wir über Jahre aufgebaut haben. Dabei dürfen wir übrigens auch gewinnen! (lacht)

Du erfährst viel Zustimmung, aber auch heftigen Gegenwind. Kaum jemand wird so häufig bei Fox News attackiert. Warum wird so viel Energie investiert, um Dich zu einem Schreckgespenst aufzubauen? Und wie fühlt es sich an, das abzubekommen?

Ich denke sie tun das, weil sie wissen, dass wir eine Bedrohung darstellen. Vor allem weil ich eben keine Einzelkämpferin bin, sondern eine Bewegungskandidatin. Ein erheblicher Teil der organisierten Machteliten und des Kapitals hat erkannt, dass meine Kandidatur nicht das Projekt einer Einzelperson ist, sondern für eine tatsächliche klassenkämpferische Bewegung steht. Sie beeilen sich, dem Land ein Bild von mir zu vermitteln, ehe ich selbst Gelegenheit habe, mich zu präsentieren. Wenn man genügend Leute dazu bringen kann, sich von mir—oder auch jedem oder jeder anderen—abzuwenden, ohne dass überhaupt ein einziges politisches Argument gehört wurde, ist es natürlich einfacher, die Machtstrukturen zu bewahren. Allerdings glaube ich, dass diese Strategie auf Dauer nicht funktionieren kann. Doch wird sie nach wie vor verfolgt. Sie sagen sich: Überhäufen wir diese Art von Kandidat*innen mit Anschuldigungen! Statuieren wir ein Exempel! In den Vorwahlen der Demokraten wurde eine 3-Millonen-Dollar-Kampagne gegen mich geführt, um zu verhindern, dass ich wiedergewählt werde. Gesponsert von der Wall Street. Sie  haben eine andere Latina, die sogar ebenfalls einen Doppelnachnamen trägt, gegen mich ins Rennen geschickt [A.d.R.: AOC wurde bei den Vorwahlen der Demokraten 2020 von Michelle Caruso-Cabrera herausgefordert.] Das war nicht nur zynisch – es war der Versuch, uns als schädlich und als Belastung für die Partei darzustellen. Doch das hatte keinen Erfolg. Wir haben sie am Ende regelrecht zerlegt, einfach komplett besiegt. Ich wurde mit einem sehr guten Ergebnis wiedergewählt.

Von den 435 Abgeordneten im Repräsentantenhaus bezeichnen sich vier offen als Sozialist*innen. Eine Pessimistin könnte sich von dieser Ausgangslage abschrecken lassen. Du hast kürzlich ein Twitter-Video veröffentlicht, in dem du all die Dinge aufzählst, die du in zwei Jahren erreichen konntest. Du wolltest es in zwei Minuten tun, hast aber vier gebraucht. Welche Erfolge sind für Dich am prägendsten?

Mir fallen zwei wichtige Erfolge ein, einer davon außerhalb der politischen Arena und des Wahlkampfs: Wir konnten die Beschäftigten beim Gemüsegroßmarkt Hunts Point Produce unterstützen, ihre Forderungen nach Lohnerhöhungen und der Beibehaltung ihrer Krankenversicherung mit einem Streik durchzusetzen. [A.d.R.: Beim landesweit größten Gemüsegroßmarkt, der in der Bronx liegt, streikte die Gewerkschaft der Teamsters zum ersten Mal seit 35 Jahren. AOC schwänzte die Amtseinführung von Präsident Biden, um sich den Beschäftigten am Streikposten anzuschließen. Nach einem einwöchigen Streik erreichten die Beschäftigten Lohnerhöhungen von 1,85 Dollar pro Stunde.]. Ich glaube nicht, dass sie diese Art Unterstützung aus der Community erhalten hätten, wenn wir nicht durch andere Erfolge eine solche Dynamik erzeugt hätten. Und auch wenn Joe Biden nicht die Wahl gewonnen hätte, wäre es ein viel schwierigerer Streik gewesen. Die Beschäftigten haben jeden Abend aufs Neue ihr ungläubiges Staunen zum Ausdruck gebracht, dass so viele junge Leute zum Streikposten kamen. Sie wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah. Aber sie waren begeistert. Das stärkte bei den Beschäftigten das Bewusstsein, dass sie nicht allein waren und ihr Kampf Teil eines größeren, kollektiven Kampfes ist.

Der andere Erfolg ist die Einrichtung eines Fonds zur Entschädigung für Bestattungskosten für die Opfer von Covid-19 durch die Bundesagentur für Katastrophenschutz FEMA, in Höhe von 2 Milliarden Dollar. Das war ein selbstorganisierter Erfolg. Der 14. Kongresswahlbezirk von New York war der von der Pandemie der am stärksten betroffene Bezirk. Gemeinsam mit der NGO Elmcor haben die Menschen Solidarität und Unterstützung organisiert. Sie machten deutlich, dass COVID überdurchschnittlich viele People of Color, Hispanics und Geringverdiener*innen trifft und dort die höchsten Todesraten liegen. Auf die Angehörigen kommen Bestattungskosten über 5.000 bis 10.000 Dollar zu. Für eine Familie aus der Arbeiterklasse ist das eine einschneidende Summe, inmitten einer Pandemie. Ganze Familien verschulden sich über viele Jahre. Der Fond hilft den Familien also aus einer realen Notsituation.

In deinen Anfangstagen im Kongress hast du mit einigen Konventionen gebrochen. Du hast die Einführungsveranstaltung für die neuen Mandatsträger*innen angeprangert, auf der es vor Lobbyist*innen wimmelt. Und du hast den Sitzstreik der Klimaaktivist*innen des Sunrise Movement in Nancy Pelosis Büro unterstützt. Hat sich Deine Strategie seither verändert?

Ich glaube nicht. Die Pandemie macht natürlich einiges schwieriger, weil viele Dinge tatsächlich hinter verschlossenen Türen stattfinden und weniger Raum für (Stör-)Aktionen ist. Ich glaube aber, dass wir uns in der Zwischenzeit methodisch weiterentwickelt haben. Ich stelle mir all unsere Taktiken als Werkzeuge in einem Werkzeugkasten vor. Und als ich anfing, hatte ich einen Hammer. Und mit einem Hammer sieht jedes Problem bekanntlich wie ein Nagel aus. Doch wenn man noch weitere Methoden erlernt, kann man auch einen Schraubenschlüssel oder Schraubenzieher zur Hand nehmen, und so kann man seinem Werkzeugkasten immer neue Werkzeuge hinzufügen. Und eines davon sind Wahlen und Wahlkämpfe, um andere dazu zu ermutigen, selbst aktiv zu werden.

Es gab diesen einen Moment, den ich nie vergessen werde. Wir befassten uns gerade mit der Bewilligungsvorlage für die Budgetierung der Regierung, ich glaube es war 2019. Da stehen die Mittelzuweisungen für Ämter und Behörden, 1.000-Seiten starken Aufstellungen. Manchmal kann man nur mit der Suchfunktion einzelne Begriffe ansteuern, wenn man solche Dokumente 48 Stunden vor der Gesetzeslesung erhält. Und plötzlich fanden wir diese sehr ungewöhnliche Zuwendung für fossile Kraftwerke in Höhe von mehreren Milliarden Dollar. Wir fragten: „Wo kommt das her? Hat das irgendwer eingefügt?“ Doch niemand wollte zugeben, dass er oder sie verantwortlich war und so wurde der Posten ohne jede Diskussion gestrichen. Wir haben nie herausbekommen, wer dahintersteckte, ohne Frage hatten es Lobbyist*innen veranlasst. Solche Erfolge, die nicht unbedingt öffentlich werden, gibt es viele. Diese Arbeit läuft im Stillen ab, ist aber ebenso bedeutsam wie öffentliche Kämpfe und Organizing-Aktivitäten. Ich würde sagen beides ergänzt sich.

Du bist dafür bekannt, dass du gegen „hater“ auch mal resolut zurückschlägst, aber eine grundsätzlich positive Haltung transportierst. Wie gelingt das, positiv zu bleiben?

Positivität ist ein ganz wichtiges Werkzeug für politisches Organizing. Und das meine ich ganz ernst. Es gibt einen Grund dafür, dass Jabari [Brisport] gewonnen hat, dass Zohran [Mamdani] gewonnen hat, dass Marcela [Mitaynes] und Phara [Souffrant Forrest] — dass all diese progressiven Kandidat*innen in den verschiedenen Bundesstaaten gewonnen haben. Schau sie dir an: Sie sind einfach unablässig positiv und optimistisch. Es sind Leute, die man um sich haben möchte. Sie sind weder zynisch noch lassen sie sich auf einen Wettkampf um die reinste sozialistische Lehre ein. Sie sind einfach nur unentwegt positiv und konstruktiv.

Wenn wir gewinnen wollen, ist es das Wichtigste, dass wir Leute und Orte haben, mit denen sich Menschen gern umgeben, wo sie sich wohlfühlen. Das ist der Schwerpunkt unseres Organizing-Ansatzes. Wir müssen Medicare For All zu etwas machen, wo alle mitmachen wollen. Dasselbe gilt für den Green New Deal. Manche Leute tun das ab und sagen, dass ist nicht ernsthaft genug und nicht so wichtig wie theoretische Bildung. Aber wer kommt zu deinem Lesekreis, wenn er oder sie sich dort unwohl fühlt, bewertet fühlt? Wir müssen etwas erschaffen, das verdammt nochmal Spaß macht – das ist das Allerwichtigste.

Dieses Interview erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel „Talking Socialism“ [1] bei Democratic Socialists of America. Wir veröffentlichen eine gekürzte Version.

Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann