| Gesundheit für alle

Juli 2013  Druckansicht
von Thomas Gebauer

Gesundheit für alle: Das Ziel von Gesundheitsaktivisten in aller Welt könnte heute bereits verwirklicht sein. Längst ließen es der weltweit erzeugte Reichtum und das Wissen um die Zusammenhänge des Lebens zu, allen Menschen ein Leben in Würde und Wohlbefinden zu ermöglichen. Die Realität aber ist eine andere: in den Ländern des Südens ebenso wie im eigenen Land. Nach wie vor leiden große Teile der Weltbevölkerung unter armseligen Lebensumständen, die es ihnen nicht erlauben, die eigenen Gesundheitspotenziale zur Entfaltung zu bringen.

Im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung ist die Kluft zwischen Arm und Reich – und mit ihr die gesundheitliche Ungleichheit – nicht kleiner, sondern größer geworden. Das neoliberale Versprechen, dass mit der Liberalisierung des Waren- und Kapitaltransfers auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich als Trugschluss erwiesen. Statt zu einem »Trickle down«-Effekt kam es zu dessen Gegenteil, zur Umverteilung von unten nach oben. Mehr denn je macht es einen Unterschied, ob wir in einer der prosperierenden Regionen des »globalen Nordens« zur Welt kommen oder im »globalen Süden«

90 Prozent der weltweiten Gesundheitsausgaben entfallen auf die 20 reichsten Länder der Erde, in denen aber nur 20 Prozent der Weltbevölkerung leben. Knapp eine Milliarde Menschen leiden an Unterernährung (wobei die Zahl der Hungernden im Zuge der Finanzkrise sprunghaft um 200 Millionen angestiegen ist). 18 Millionen sterben alljährlich an Krankheiten, die eigentlich gut behandelbar wären. Dabei ist die gesundheitliche Ungleichheit längst kein Problem der südlichen Hemisphäre mehr allein. In Griechenland droht heute ein ganzes Gesundheitssystem zu kollabieren, und auch in Deutschland stehen Krankenhäuser vor dem finanziellen Aus. In Glasgow beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen ärmeren und wohlhabenden Stadtvierteln 28 Jahre.

Soziale Ungleichheit tötet im großen Maßstab, heißt es in dem 2008 vorgelegten Bericht der WHO-Kommission über die »sozialen Determinanten von Gesundheit« (CSDH 2008). Seit Ende des Ost-West Konflikts sind 300 Millionen Menschen an den Folgen aufgezwungener Armut gestorben; mehr als in allen Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen.

Das globale Elend aber ist nur die eine Seite der Wahrheit. Denn es mangelt nicht an den Ressourcen, die nötig wären, um allen Menschen ein Höchstmaß an physischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden zu ermöglichen. Beispielsweise ließen sich mit den vorhandenen landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten 12 Milliarden Menschen ernähren, nahezu das Doppelte der derzeitigen Weltbevölkerung (vgl. Ziegler 2012). Die jährlichen Aufwendungen für Gesundheit betrugen zuletzt 6,5 Billionen Dollar, das sind immerhin knapp 1000 Dollar pro Kopf und Jahr, deutlich mehr als die 12 Dollar, die beispielsweise den Menschen in Eritrea zur Verfügung stehen (vgl. WHO 2012). In Deutschland sind es zwar über 3 500 Dollar, aber nicht alles, was wir uns zumuten (bzw. was uns zugemutet wird), ist auch notwendig. Viele Milliarden könnten pro Jahr eingespart werden, wenn die Anwendung sinnloser Gerätediagnostik und unsinniger Medikamente gestoppt und auch dem notorischen Abrechnungsbetrug und der Korruption ein Riegel vorgeschoben würde.

Solidarität beginnt mit der Anerkennung des Anderen – Die ethische Dimension des Umverteilens

Solche Zustände sind skandalös. Und sie werden auch nicht erträglicher mit der von Medien und Politik gebetsmühlenartig vorgetragenen Behauptung, es mangele an Ressourcen. Wer sich durch das Gerede von Alternativlosigkeit und Sparzwängen den Blick für die Wirklichkeit nicht verstellen lässt, wer sich die Fähigkeit bewahrt hat, menschlich zu empfinden, und nicht dulden will, dass jemand nur deshalb Jahrzehnte früher stirbt, weil er oder sie das Pech hatte, an einem marginalisierten Ort zur Welt gekommen zu sein, wer in solchen Ungleichheiten schreiendes Unrecht sieht, kann gar nicht anders, als sich über Möglichkeiten eines Ausgleichs Gedanken zu machen. Es ist der Respekt vor der Würde des Anderen, aus dem der Impuls erwächst, füreinander solidarisch einzustehen. Die Bereitschaft, die Anderen mit ihren Bedürfnissen und Rechten ernst zu nehmen, sie als Menschen anzuerkennen, ist die Voraussetzung für solidarisches Umverteilen. Darin liegt die ethische Dimension des Umverteilens.

Ausbruch aus dem Teufelskreis – Die gesellschaftliche Dimension des Umverteilens

Bekanntlich haben ärmere Menschen häufiger mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen als reichere. Dass sie auch ein dreimal höheres Risiko für Herzinfarkte und Bluthochdruck haben, belegt, dass selbst noch der Stress, der oft als Problem der sogenannten Leistungsträger und Besserverdienenden betrachtet wird, in viel höherem Maße mit Armut korreliert.

Aber Armut macht nicht nur krank, sondern Krankheit auch arm. Nach Schätzungen der WHO werden alljährlich 100 Millionen Familien in die Armut getrieben, weil sie für notwendige Gesundheitsleistungen ohne jede finanzielle Absicherung aus eigener Tasche aufkommen müssen. Ausgerechnet diejenigen, die aufgrund ihrer sozialen Lage den größten Bedarf an gesundheitlicher Versorgung haben, können sich diese am wenigsten leisten.

Solange es das Armutsgefälle gibt, kann eine allgemeine Gesundheitsversorgung nur erreicht werden, wenn diejenigen, die mehr haben, auch für die Gesundheitsbedürfnisse der Ärmeren einstehen. Ohne Umverteilung ist der Ausbruch aus dem Teufelskreis von Armut und Krankheit nicht möglich. Gleiches gilt für die Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherung und all die anderen sozialen Rechte.

Menschenrechte und Rechtsansprüche – die rechtliche Dimension des Umverteilens

Das Prinzip solidarischer Umverteilung zählt zu den großen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Es prägt die Kulturen indigener Gesellschaften, gehört zum Kern der katholischen Soziallehre und bildet auch die Grundlage der Idee des Gesellschaftsvertrages, die mit der europäischen Aufklärung aufgekommen ist. In der Praxis kommt es in genossenschaftlich betriebenen Dorfapotheken ebenso zum Ausdruck wie in steuerfinanzierten kommunalen Wasserwerken, öffentlichen Bibliotheken oder gesetzlich geregelten Krankenversicherungen, die von progressiv gestaffelten Beitragszahlungen getragen werden. Umverteilen sorgt für soziale Kohäsion, ohne die weder Gesellschaftlichkeit noch menschliche Existenz auf Dauer denkbar sind.

Und so nimmt es nicht wunder, dass die Notwendigkeit eines Ausgleichs von den wenigsten bestritten wird. Selbst hartgesottene Liberale plädieren für eine Art Umverteilen, wenn sie sich, wie beispielsweise Bill Gates, in philanthropischen Stiftungen engagieren. Sie sehen darin aber einen freiwilligen Akt, für den es keine Verpflichtung geben darf. Sekundiert werden sie dabei z.B. von Peter Sloterdijk (Süddeutsche Zeitung, 17.5.2010), der allen Ernstes verlangte, das bestehende Steuersystem von einem bürokratisierten Ritual der Zwangsabgaben in eine Praxis freiwilliger Bürgerbeiträge umzuwandeln. Die zynische Konsequenz solcher Vorschläge zeigt sich z.B. im letzten Armutsbericht der Bundesregierung (2012), wo aus der ursprünglich vorgesehenen Formulierung, man prüfe, wie »privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung von öffentlichen Aufgaben herangezogen werden kann« (Version Sept. 2012, XLII), der Satz wurde, man prüfe, »wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann« (Nov. 2012, XLVIII).

In der Idee der Menschenrechte aber steckt mehr als nur das Programm für ein würdiges Leben. Sie umfasst auch gesellschaftliche Verpflichtungen. Denn Rechte begründen Rechtsansprüche, die nichts wert wären, wenn sie nicht mit entsprechenden Garantien der Gemeinwesen einhergingen. Nur als Mitglieder einer rechtlich verfassten Gemeinschaft sichern sich die Menschen ihre Rechte. Nur dort, wo ein öffentlich getragenes Gesundheitssystem existiert, kann das Recht auf Gesundheit auch geltend gemacht werden. Wenn öffentliche Institutionen fehlen oder bis zur Unkenntlichkeit finanziell ausgehöhlt werden, läuft das Recht sozusagen ins Leere. Bei einem privaten Krankenhausträger, bei philanthropischen Vereinen können Hilfsbedürftige vielleicht noch Unterstützung beantragen, nicht aber mehr einklagen. Wer verpflichtende Umverteilungsmechanismen ablehnt oder abschafft, sorgt für eine rückwärtsgewandte Re-Feudalisierung der Verhältnisse – und in letzter Konsequenz für die Rückkehr in den »Naturzustand« eines Krieges aller gegen alle

Gemeingut Gesundheit – Die politische Dimension des Umverteilens

Verwirklichung und Schutz des Rechts auf Gesundheit verlangen Institutionen, die nur den Bedürfnissen und Rechten der Menschen verpflichtet sein dürfen. Die Sorge um Lebensmittelsicherheit, die Erforschung essenzieller Arzneimittel, die Sicherstellung nachhaltiger Müllbeseitigung oder einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung – all das sind öffentliche Aufgaben, die sich nur bedingt mit partikularen Geschäftsinteressen vertragen. Gesundheit für alle ist nur dann zu verwirklichen, wenn der Zugang zu den notwendigen Fürsorgemitteln so reguliert wird, dass niemand ausgeschlossen bleibt und die vorhandenen Mittel weder unter- noch übergenutzt werden. Letztlich verlangt Gesundheit – verstanden als Gemeingut – die Schaffung einer gesellschaftlichen Sphäre, die von den Beschränkungen, die aus dem Eigentumsrecht rühren, frei ist. Die Privatisierung des Gemeingutes Gesundheit, seine Auslieferung an den Markt mag Kapitalanlegern ein renditeträchtiges Geschäftsmodell eröffnen, führt aber gesundheitspolitisch in die Irre. Denn die Kopplung sozialer Rechte an Profit und private Kaufkraft bedeutet zwangsläufig den Ausschluss derjenigen, denen die Mittel zur Realisierung ihrer Rechte fehlen.

Gute Versorgung erfordert ausreichende Budgets. Und zwar Budgets, die auf der Grundlage bestehender Gesundheitsbedürfnisse öffentlich bereitgestellt werden und nicht erst durch effiziente Bettenauslastung, unsinnige Diagnostik und medizinisch nicht indizierte operative Eingriffe erwirtschaftet müssen, um am Ende auch noch Überschüsse abzuwerfen. Die Grundlage angemessener Versorgungssysteme sind solidarische Finanzierungen. Dabei ist es nicht eigentlich von Bedeutung, ob sie steuerbasiert sind oder über die Pflichtbeiträge ihrer Mitglieder, wie im Falle gesetzlicher Krankenversicherungen, zustande kommen. Entscheidend ist, dass alle, die es können, zur Finanzierung beitragen und die Beiträge progressiv gestaffelt sind. Neben der Besteuerung von Vermögen und Unternehmensgewinnen sorgt die Progression in der Einkommenssteuer bzw. in den Pflichtbeiträgen für eine permanente Umverteilung, die schließlich allen – nicht nur den Vermögenden – den Zugang zu notwendigen Gesundheitsressourcen sowie die finanzielle Absicherung im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit, in der Kindheit, im Alter oder während der Ausbildung garantiert.

Kern von Umverteilung ist somit die Umwandlung von privatem Eigentum in ein soziales Eigentum, auf das diejenigen zurückgreifen können, die über kein privates Vermögen verfügen. Soziales Eigentum erfordert keine komplizierten auf Rendite zielenden Anlagefonds, die lediglich erwirtschaftete Gewinne ausschütten, sondern Finanzierungsmechanismen, die das, was sie einnehmen, unmittelbar zur Befriedigung konkreter Bedürfnisse wieder ausgeben.

Systemfrage – Die transformierende Dimension des Umverteilens

War Umverteilung zu Zeiten eines unbegrenzt scheinenden Wirtschaftswachstums und hoher Profitraten noch möglich, ohne die privaten Gewinne und Vermögen substanziell anzugreifen, stellt Umverteilung heute unmittelbar die Systemfrage. Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus ist keine der üblichen zyklischen Krisen mehr, die das Marktgeschehen schon immer begleitet haben, sondern eine, in denen die Grenzen des Wachstums auf doppelte Weise sichtbar werden. Die Ökonomisierung von Mensch und Gesellschaft ist nahezu abgeschlossen, die ökologischen Grenzen erreicht. Rendite versprechen tendenziell nur noch der Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie die Erosion öffentlicher Institutionen (Privatisierung von Gesundheitseinrichtungen, Kapitalisierung der häuslichen Pflege, von genossenschaftlichen Wohnformen, der Wasserversorgung, Enteignung bestehenden sozialen Eigentums etc.).

Wer heute Umverteilen fordert, fordert mehr als Fairness, nämlich zugleich ein Eigentumsmodell jenseits von Privateigentum. Es geht um die Durchsetzung einer gesellschaftlichen Strategie, die der kapitalistischen Dynamik, die systematisch auf die Zerstörung von Gemeingütern und die letzten noch verbliebenen Umverteilungsformen hinausläuft, diametral zuwiderläuft. Ziel von Umverteilen ist eine alternative Ökonomie, die sich nicht nach den Regeln des Marktes richtet, sondern das Gemeinwohl der Gesellschaft sichert.

Es ist gut, dass die öffentliche Akzeptanz einer gemeinwohlorientieren Ökonomie noch immer hoch ist. 77 Prozent der deutschen Bevölkerung unterstützen die Prinzipien einer solidarischen Krankenversicherung. 80 Prozent der Gesunden stehen zur Unterstützung von Kranken durch Gesunde. 73 Prozent der jungen Menschen sind für einen Solidarausgleich mit den Älteren. 82 Prozent derjenigen, die über ein Nettoeinkommen von über 1 500 Euro verfügen, sind für Beihilfen für Ärmere (Deutscher Bundestag 2003). Es sind nicht die Leute, die auf eine Privatisierung der Gesundheitsdienste drängen, sondern die am Profit ausgerichtete Gesundheitswirtschaft.

Internationalisierung des Solidaritätsprinzips – Die universelle Dimension der Umverteilung

Umverteilung wird nur dann ihrer ethischen Dimension gerecht, wenn sie mit dem Verbot jeglicher Diskriminierung einhergeht. Öffentlich finanzierte Gesundheitswesen werden zur Farce, wenn ihre Leistungen beispielsweise RentnerInnen, Arbeitslosen oder MigrantInnen nur reduziert oder gar nicht zugutekommen.

Letztlich erfordert Umverteilen ein inklusives Handeln, was mit Blick auf die globalisierten Verhältnisse heute nur noch im internationalen Rahmen und durch Schaffung neuer globaler Institutionen gelingt, die schließlich auch zwischen den Ländern für einen Ausgleich sorgen. Der Naturzustand solle nicht nur innerhalb des Staates, sondern auch zwischen den Staaten aufhören und in einen universalen Rechtszustand übergehen, forderte schon Immanuel Kant. Tatsächlich wären heute finanzielle Ausgleichfinanzierungsmechanismen im internationalen Rahmen umsetzbar, die wie der Länderfinanzausgleich zwischen den Bundesländern für eine Balancierung der fiskalischen Möglichkeiten von Ländern sorgen. An den organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen jedenfalls mangelt nicht.

Vieles spricht dafür, dass das Solidarprinzip mitsamt der ihm innewohnenden Idee des Umverteilens heute nur verteidigt und ausgebaut werden kann, wenn es über den nationalen Rahmen hinaus um seine internationale Dimension erweitert wird.

 

Literatur

BMAS, 2012a: 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Entwurf Sept. 2012
dass., 2012b: 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Endversion Nov. 2012
Commission on Social Determinants of Health – CSDH, 2008: Closing the gap in a generation: Health equity through action on the social determinants of health, WHO, Genf
Deutscher Bundestag, 2003: Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen
World Health Organization – WHO, 2012: Global Health Expenditure Atlas, Genf
Ziegler, Jean, 2012: Wir lassen sie verhungern, München