| GEIZ IST GAR NICHT GEIL. ÜBER KONSUMWEISEN, KLASSEN UND KRITIK

Oktober 2017  Druckansicht
Von Mario Candeias und Anne Steckner

Angesichts der Übernutzung natürlicher Ressourcen, immenser Abfallproduktion und fortschreitender Zerstörung der ökologischen Grundlagen des Planeten ist Konsumkritik en vogue. Allenthalben wird der Wahnsinn der Wachstumsgesellschaft und des Massenkonsums beklagt. Gehör verschaffen sich vor allem mahnende Stimmen aus dem wertkonservativen und dem grünbürgerlichen Lager. Jeweils exemplarisch hierfür stehen der Ökonom Meinhard Miegel und der Sozialpsychologe Harald Welzer. Beide Autoren treffen einen Nerv der Zeit. In ihrer Argumentation finden sich kulturpessimistische, neo- liberale und kapitalismuskritische Versatzstücke einer Kritik, die Probleme benennt, Bedrängnis anspricht und Sehnsüchte aufgreift. Zugleich bieten sie ein verkürztes Verständnis von Konsum und Bedürfnisbefriedigung, weil sie Klassenverhältnis- se nicht bedenken und häufig moralisch statt politisch argumentieren. Konsum aber ist eine Klassenfrage.1

Laut Meinhard Miegel liegt das Geheimnis eines erfüllten Lebens heutzutage statt im Konsum in Verzicht, Maß und Muße. Es gehe um die  verlorene Fähigkeit, gegenüber der entgrenzten »Verwirtschaftung« aller Lebensbereiche wie- der die  einfachen, alltäglichen Freuden genießen zu können. Statt das persönliche Glück im Besitz zu suchen, gelte es, einen neuen Wohlstandsbegriff zu definieren – Wohlstand freilich auf  immaterieller, also entstofflichter Basis: »Eigentlicher, menschenspezifischer Wohlstand – das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde […], das ist Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen.«2 Im Hintergrund seines romantischen Plädoyers klingt die zu- tiefst antisoziale Überzeugung an, die Eigenverantwortung der Individuen müsse die öffentlichen Sozialleistungen zunehmend ersetzen – Letztere seien nicht mehr finanzierbar: »Die große Sause ist vorüber, die Bar geschlossen.«3 Dieser Umstand erfordert in der Tat kreative Beschränkung.

Auch Harald Welzer plädiert für einen zurückgenommenen Lebensstil und lobt Tugenden wie Eigenverantwortung und Sparsamkeit. Anders als Miegel will er seine Leser*innen zum aktiven Widerstand anleiten – gegen die Grenzenlosigkeit der Wachstumsgesellschaft, wider den »Hyperkonsum«. Sein individualistischer Appell, «selbst zu denken» statt unkritisch bei der  »Kultur des alles immer« mitzumachen, ist mit einer Absage an die Organisationen der Subalternen (Gewerkschaften, linke Parteien) verbunden und offenbart eine elitäre Sicht auf gesellschaftliche Transformation: Es geht um das Wirtschafts- und Konsumverhalten einer Vorbildavantgarde, die verstanden hat, dass die ökologischen Probleme der  Gegenwart – so Welzer – nicht durch Technologie und Steuerung, sondern nur  durch eine grundlegende Abkehr von Wachstumszwang,

Schuldenspirale und Profitorientierung lösbar sind. Aus den vielfältigen Nischen alternativer (mittelklassespezifischer) Lebensweisen soll das Andere herauswachsen. Jedoch sei für viele eine Wirtschaft ohne Wachstum gänzlich undenkbar, da gleichbedeutend mit persönlichem Stillstand und Stillstand in der Wohlstandsentwicklung. Demgegenüber spitzt Welzer zu: »Das ist Wachstum: etwas, was paradoxerweise desto wichtiger wird, je weiter die materielle Sättigung vorangeschritten ist und je besser die vitalen Bedürfnisse abgedeckt sind.«4 Welche und vor allem wessen Bedürfnisse konkret be- friedigt werden, bleibt unausgesprochen.

Auch manch linke Konsumkritik moniert die »Konsumgeilheit« vieler Menschen in der Überflussgesellschaft. Sie mahnt, sich auf die Erfüllung »echter« Bedürfnisse zu beschränken, auf Teilen, Selbstmachen oder Instandsetzen – statt jedem neuen Hype hinterherzurennen. Weniger sei mehr, überhaupt wisse man ja, dass Kaufen nicht glücklich macht. Der Postwachstumsökonom  Niko Paech etwa beklagt mit psychologisierenden Suchtmetaphern: »Wir sind abhängig vom Konsum. Wir sind Junkies. Und Junkies tun nichts gegen den Dealer.«5 Linke Konsumkritik verweist häufig auch auf miserable Arbeitsbedingungen in besonders ausbeuterischen Unternehmen, macht aufmerksam auf die Produktion schädlicher Waren (ungesunde Nahrungsmittel, giftiges Spielzeug) und ruft zum bewussten Konsum mündiger BürgerInnen oder zum Boykott bestimmter Marken auf. Damit beschwört sie die Macht individueller Konsumentscheidungen. KritikerInnen dieser Position bemängeln daran den Gestus des moralischen Zeigefingers, der »wahre« gegen »falsche« Bedürfnisse ausspiele, die strukturellen Rahmenbedingungen im Kapitalismus auf individuelle Konsumentscheidungen reduziere und die umfassende Einbindung der Individuen über den Warenkonsum ausblende. Allerdings neigt die Kritik der Konsumkritik wiederum dazu, vor allem auf den gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhang zu verweisen, in welchem alle Katzen grau und jede Lebensweise entfremdet ist. Ausweg? Fehlanzeige. Die diversen Spielarten von Konsumkritik greifen drängende Probleme auf, zeigen mögliche Alternativen auf und wer- den doch der Problematik nicht gerecht. Denn was in den meisten Interventionen zu kurz kommt, sind die Fragen, was den Klassencharakter von Konsum auszeichnet und wie sich eine alltagstaugliche politische Praxis in den Widersprüchen der kapitalistischen Konsumwelt bewegen kann.

POLITISCHE ÖKONOMIE DES KONSUMS

Konsum ist nichts Individuelles, sondern eine «gesellschaftlich bestimmte Tätigkeit»6 , aufs Engste mit der Produktions- und Lebensweise einer bestimmten Gesellschaft verwoben. Seit der Verdrängung der Subsistenzproduktion muss in arbeitsteiligen Warengesellschaften ein Großteil der menschlichen Bedürfnisse über den geldvermittelten Konsum be- friedigt werden: Wir nehmen uns nicht, was wir brauchen, sondern wir kaufen ein, was wir bezahlen können. Im Kapitalismus ist die Reproduktion der Arbeitskraft – also die all- täglichen Ausgaben der Lohnabhängigen für Ernährung, Bekleidung, Bildung, Wohnen, Kinderaufzucht, Freizeit etc. – zugleich ein treibendes Moment der Verwertung des Kapitals. Warenkonsum und Kapitalkreislauf bilden einen strukturellen Zusammenhang von Produktion, Zirkulation und Konsumtion. In den »goldenen« Jahrzehnten des Fordismus wurde dieser Zusammenhang sinnfällig in den Massengütern Waschmaschine, Fernsehgerät und Volkswagen. Sie symbolisierten den Siegeszug der Marktwirtschaft durch die Befriedigung aller  erdenklichen Bedürfnisse. Im Zuge der sich durchsetzenden neoliberalen, informationstechnologischen Produktionsweise wurden die Möglichkeiten, die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in den Dienst der Kapitalakkumulation zu stellen, noch ausgeweitet: Neben den herkömmlichen Verkehrsformen – Ware gegen Geld – etablierten sich diverse Finanzprodukte, die die Beschäftigten verstärkt zu Kreditnehmern gemacht haben. Dies gelang durch die Einführung und Ausweitung von Ratenzahlungen, durch Konsumentenkredite, E-Commerce, staatlich geförderte Hypotheken- und Bausparkredite, die Erfindung der Kreditkarte oder die Privatisierung der Rentenversicherung. Im Zuge dieser forcierten Akkumulationsdynamik durch private Verschuldung konnte das Kapital sich neue profitable Anlagefelder erschließen. Eine Verringerung dieses Konsums auf Pump widerspräche den Verwertungsinteressen des Kapitals. Geiz ist also gar nicht geil. Vielmehr sind, das wusste schon Marx, Überfluss und Verschwendung eine »Geschäftsnotwendigkeit des ›unglücklichen‹ Kapitalisten«.7 Nicht zuletzt ist der größte, der »absolute Konsument«8 das Kapital selbst: von Arbeitskraft, Boden und Produktionsmitteln. Und ganz nebenbei ist das Kapital auch der größte Verschwender durch Überproduktion, Ausschuss von Waren und natürlichen Ressourcen. Es bringt eine Wegwerfgesellschaft hervor, in deren Produkte die geplante Verringerung der  Haltbarkeit von vornherein eingebaut ist.

Auch Bedürfnisse sind weder individuell noch zeitlos. Folglich sind sie nicht an sich richtig oder falsch, sondern historisch bedingt, gesellschaftlich geprägt und normativ über- formt. So wurde etwa im »Wirtschaftswunder«-Deutschland unter Ludwig Erhard ausdrücklich zum Konsumieren ermuntert, Sparen war out. Im Zuge der permanenten Revolutionierung der kapitalistischen Produktion werden immer wie- der neue Bedürfnisse geschaffen, neue Maßstäbe gesetzt, neue Besitznormen erzwungen. Allerdings werden nicht al- le Neigungen, Wünsche und Begierden gleichermaßen be- friedigt, sondern vor allem die profitablen. Konsum ist also keine Tätigkeit Einzelner oder eines bestimmten Menschenschlags, sondern eine verallgemeinerte Lebensführung, eine Konsumweise. Gleichwohl verfügen nicht alle über dieselben Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse in der vorherrschenden Weise zu befriedigen, zumal sich das Konsumverhalten je nach Geldbeutel, Sozialisation und Status bedeutend unterscheidet. Obschon in der Figur des Konsumenten jeder Unterschied von Klasse, Race und Geschlecht ausgelöscht ist, verfolgt die Werbung zum Beispiel milieu- oder geschlechterspezifische Verkaufsstrategien und spricht Kundengruppen gezielt an. Das Konsumverhalten wird klassenförmig angeordnet: Dem Luxuskonsum stehen die Tafeln, dem Einkauf im Bio-Supermarkt der Besuch bei  Aldi und Lidl gegenüber. Das hat Folgen für die Konsumkritik.

»KAUF DICH GLÜCKLICH!« – DER KLASSENCHARAKTER VON KONSUM

Wie konsumieren Arme, wie Reiche, wie die Mittelklassen? Klassenspezifische Konsummuster wirken auf zahlreichen Feldern: Menschen mit dem nötigen Kleingeld, die über die Konsumgewohnheiten breiter Teile der Bevölkerung zuweilen  die Nase rümpfen, erreichen Distinktion über Preis, Qualität und Exklusivität. Wohlhabende und Angehörige der gehobenen Mittelklasse bewohnen größere Wohnungen oder Häuser mit entsprechendem Energie- und Wasserbedarf, besitzen eher eine Zweit- oder Drittwohnung, haben platzraubendere Hobbys (Golf, Reiten, Tennis, Segeln) und unternehmen häufiger und längere Reisen, oft Fernreisen im Flugzeug, ebenso wie ihre Kinder. Sie fahren das luxuriösere Auto, oder mehrere, frequentieren Restaurants mit ausgesuchter Speisekarte und erwerben mehr exotische Produkte aus edlem, seltenem Material – mit oder ohne Nachhaltigkeits-Gütesiegel. Ihr ökologischer Fußabdruck ist auch bei Einkauf auf dem Regionalmarkt und Verzicht auf Flugananas im Schnitt größer, ihr Ressourcenverbrauch höher als der der inkriminierten Massen.9 Ihr Konsumverhalten wirft nicht nur die ökologische Frage anders auf, sondern offenbart vor allem Verhältnisse sozialer Ungleichheit. Die mehr oder weniger friedliche Koexistenz von «‹Hyperkonsum› und Hungertod»10 auf dem Globus heißt für Deutschland: Suppenküchen, rationierte Einkaufsgutscheine, Mangelernährung und Krankheitsanfälligkeit neben wachsendem Reichtum, steigendem Energieverbrauch und mondänem Luxus.

Aber was ist mit den mittleren und Mitte-unten-Einkommensgruppen, deren Konsum die Masse der gekauften Güter ausmacht? Sie erwerben jedes Jahr ein neues Handy, tragen die gerade angesagten Markenklamotten, stellen sich einen riesigen Flachbildschirm in ihr 14 m²-Zimmer und düsen mit easyJet übers verlängerte Wochenende in eine andere Stadt. Das mag vielfach zutreffen. Die Folgen dieses Konsumverhaltens sind problematisch. Und der Alltagsverstand weiß, dass das ökologisch nicht tragbar ist. Doch in der Warengesellschaft ist Konsum neben Bedürfnisbefriedigung auch ein Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe und Mobilität. So dienen etwa Laptops und Smartphones keineswegs nur der technischen Ausrüstung in der »Wissensgesellschaft«, sondern sind die Eintrittskarte in soziale Netzwerke, dort, wo Kontakte geknüpft und gepflegt, Neuigkeiten ausgetauscht werden, auch Hierarchie und Konkurrenz regieren, kurz: wo Gesellschaft stattfindet. An dieser Gesellschaft teilhaben zu können ist für all jene besonders wichtig, die  nicht über andere Mittel von Macht und Einfluss verfügen – eine Klassenfrage.

In entfremdeten Verhältnissen ist Konsum auch Kompensation. Er bietet kurzfristige Sinnstiftung und ermöglicht Beteiligung an den Glücksversprechen der Gesellschaft. Erich Fromm hat die identitätsstiftende Wirkung von Besitz für das eigene Selbstwertgefühl auf den Punkt gebracht: »Man ist, was man hat.« Neben dem allgegenwärtigen Anreiz zum Konsumieren – ausgelöst durch aggressive Werbung vor allem im Netz – kann Konsumfähigkeit zum Ein- und Ausschlusskriterium für gesellschaftliches Ansehen, für Status, Kultur, Prestige und Geschmack werden. Mit Pierre Bourdieu ließe sich fragen: Wer ist wie und warum auf diese Formen der Anerkennung besonders angewiesen, wer distinguiert sich auf welche Weise? Eine Klassenfrage.

Angesichts fehlender Möglichkeiten von zahlreichen abhängig Beschäftigten, ihre Arbeit sinnstiftend und selbst- bestimmt zu gestalten, bietet Konsum eine vorübergehen- de Flucht aus der Fremdbestimmung: als Ventil gegenüber Druck, Frust oder Erschöpfung in der Erwerbsarbeit, als Ablenkung von perspektivloser Erwerbslosigkeit, als kurzzeitiger Ausstieg aus Langeweile, Isolation oder Stress in der häuslichen Reproduktionsarbeit. Konsum erlaubt die »effektivste Erholung von physischer und nervlicher Anstrengung«.11   Viele kennen das Gefühl des Stressabbaus beim Shopping, obwohl jeder weiß, dass man sich nicht glücklich kaufen kann, oft ein hohles Gefühl der Leere zurückbleibt, weil Sinn dadurch nicht produziert wird. Doch nicht alle Arbeit im Kapitalismus ist schlecht bezahlt, sterbenslangweilig oder wenig anerkannt. Ein erfülltes und selbst bestimmtes Leben braucht weniger über Konsumgüter vermittelte Erfüllung und über Statussymbole vermittelte Anerkennung. Kompensatorischer Konsum ist – eine Klassenfrage.

Konsum hat auch eine integrativ-disziplinierende Wirkung. Wer einen Bankkredit bedienen muss, der ist auf die erfolgreiche Bewältigung der dazugehörigen Lebensweise angewiesen: ein geregeltes Einkommen über Erwerbsarbeit, Fügsamkeit im Falle drohenden Jobverlustes, keine längeren Krankheitsausfälle, eine verlässliche Selbstführung (z. B. kein Eintrag bei der Schufa, pünktliche Mietzahlungen). Wo echte politische Beteiligung an der Gestaltung von Ökonomie und Gesellschaft versagt bleibt, gibt privater Konsum ein Stück Kontrolle über persönliche Entscheidungen und Präferenzen zurück. Das damit verbundene Freiheitsversprechen bietet vorübergehende Selbstbestimmung zum Preis der dauerhaften, noch härteren Unterwerfung unter Schuldendienst und Erwerbszwang. Sich dieser Logik entziehen können nur diejenigen, die nicht darauf angewiesen sind, Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft zu beziehen, sondern andere für sich arbeiten lassen – selbstredend eine Klassenfrage.

Und was passiert mit den Nichtkonsumfähigen? Sie haben in der Warengesellschaft keine Alternative zum geldvermittelten Konsum für ihre Bedürfnisbefriedigung. Abgesehen vom Rückzug in den Schrebergarten, in solidarische Auffangnetze des nahen Umfeldes (so vorhanden) oder in die finanzielle Abhängigkeit vom Ehepartner gibt es keine Exit- Option. Damit »wird der Verlust der Kreditwürdigkeit zum größten anzunehmenden Unfall«.12 Wer seine Kreditwürdigkeit und damit Konsumfähigkeit verliert, ist ausgeschlossen von den etablierten Formen der Geselligkeit und von einem Großteil sozialer Kontakte.

UND JETZT? KONSUM IM »INFRASTRUKTURSOZIALISMUS«

Die allgemeine Forderung «weniger wachsen, weniger konsumieren» ist klassenblind. Eine Antwort darauf, wie die mit Konsum, Wachstum und Verschwendung behafteten Probleme angegangen werden können, muss differenzierter ausfallen. Das bedeutet zum Beispiel, für die unteren Klassen – so absurd es klingen mag – zunächst mehr Konsummöglichkeiten einzufordern. Die damit verbundene politisch-gesellschaftliche (nicht moralisch-individuelle) Frage ist: Was für ein Konsum?

Eine sozialökologische Transformationsperspektive muss sich mit dem Dilemma herumschlagen, dass eine radikale Reduzierung von Ressourcenverbrauch und Schadstoffausstoß entweder mit deutlichen Preisanstiegen infolge konsequenter Ökosteuern verbunden ist oder mit gesetzlich ein- geschränkter Nutzung bestimmter Güter. Die erste Variante führt zu einer unverhältnismäßigen Belastung ärmerer Haus- halte, die zweite zu einer Einschränkung der individuellen Freiheit. Dieses Dilemma offenbart die Widersprüche, inner- halb derer die Wege zu einer sozial gerechten und ökologischen Konsumweise auszuloten sind.

Ulrich Schachtschneider fragt: »Von welchem Standpunkt aus kann welcher Lebensstil untersagt oder gestattet werden? In welchen auch nur halbwegs demokratischen Verfahren sollte dies geschehen? […] Wenn wir nicht alles im Detail regeln können und wollen, kann der Preis von Umweltnutzungen den Individuen eine Grenze ihres jeweiligen Gesamt-Umweltverbrauchs setzen, die aber gleichzeitig eine der Moderne an- gemessene Freiheit des eigenen Lebensplans ermöglicht.«13

Warum aber soll der Weg nur  über den Preis führen? Schachtschneider spricht von der »Begrenztheit ordnungsrechtlicher Ansätze der Umweltpolitik«. Doch sind es eben jene Ge- und Verbote, die oft den effektivsten ökologischen Nutzen gebracht haben: etwa das Verbot von FCKW, die Grenzwerte für Schadstoffe oder eine gesetzliche Beschränkung von Zucker im Schokoriegel. Oder das japanische Prinzip, jeweils die energieeffizienteste Variante eines Produkts als Standard zu setzen. Warum sollten wir nicht versuchen, sozialökologische Mindeststandards in der Produktion durchzusetzen, ob in Textilfabriken in Bangladesch oder Hühnerfarmen in Deutschland? Oder ein Verbot von Gigalinern und übergroßen Geländewagen oder von Genprodukten in der Nahrung von Mensch und Tier? Dies schränkt die individuelle Wahlfreiheit in keiner Weise ein und ist insofern demokratisch, als es alle betrifft und nicht nur jene, die sich bestimmte Dinge dann nicht (mehr) leisten können. Vielfältige gesellschaftliche Diskurse und Bewegungen drängen in Richtung verantwortungsbewusster Produktions- und Konsumweisen. Ge- und Verbote lassen sich mit Ökosteuern und einem ökologischen Grundeinkommen – wie von Schachtschneider vorgeschlagen – auch problemlos kombinieren. Daneben könnten weitere Steuerungsinstrumente treten, wie Mengenlimits und Kontingentierung, Anreize über die Preisgestaltung, staatliche Förderung alternativer Produkte und Produktionsformen wie Genossenschaften oder nicht kommerzielle Anbieter.

Die Forderung nach mehr Konsum mag sich merkwürdig ausnehmen. Doch Jahrzehnte neoliberaler Politik haben in vielen Bereichen soziale Infrastrukturen und Dienstleistungen ausgedünnt, die Grundbedürfnisse abdeckten. Diese bleiben nun vielfach unbefriedigt, was zu Überlastung, Stress, Krankheit und Armut führt. Entsprechend treten Kämpfe um Reproduktion und Lebensweisen wieder in den Vordergrund. An sie lässt sich anknüpfen: für bessere Kinderbetreuung und Schulen, für Mobilität, Bildung und Gesundheit für alle, für bezahlbares Wohnen oder Kämpfe um Zeit. Sie alle drehen sich um moderne menschliche Grundbedürfnisse, die nicht in jedem Fall über den Preis zu regeln sind. Sie sollten jedem Einzelnen, unabhängig von sonstigen Konsumentscheidungen, zur Verfügung stehen, entgeltfrei oder zu sehr geringen Kosten.

Eine verbindende Perspektive dieser Kämpfe wäre die Forderung nach einer entgeltfreien sozialen Infrastruktur. Sie umfasst eine bedingungslose sozialökologische Grundversorgung, etwa in den Bereichen Energie, Trinkwasser, Mobilität, Internet etc., sowie kostenlose Gesundheitsversorgung, Bildung und Weiterbildung und ein Recht auf bezahlbares Wohnen. Auch hier könnte – wie bei der Energie – zur Kasse gebeten werden, wer viel verbraucht: also ein entgeltfrei- es Trinkwasserkontingent pro Kopf, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen, entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers etc. Notwendige Gesundheitsversorgung, Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle  kostenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, sozialem Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.14

Eine solche Orientierung auf kollektiven Konsum moderner Lebensmittel im Sinne eines (kommunalen) »Infrastruktursozialismus« wäre die Grundlage für individuelle Freiheit jenseits von Existenzängsten – und somit für eine sozialöko- logische Lebensweise. Die entgeltfreien, öffentlichen und kollektiven Konsumformen radikal auszuweiten hieße auch, das Geld als »Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand«15 und damit die individuelle Geldbörse weniger relevant werden zu lassen, die Kultur des Marktes zurückzudrängen, das Öffentliche und Gemeinsame in den Vordergrund zu rücken. Über die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse hinausgehende individuelle Konsumentscheidungen wären so in eine angstfreie Lebensgestaltung mit weniger (Konsum-)Druck eingebettet.

Die Voraussetzung für diese substanzielle Ausweitung sozialer Infrastruktur und eine entsprechende Ausstattung des Öffentlichen wäre eine radikale Politik der Umverteilung von oben nach unten – notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung aller linken Politik. Die Ausweitung finanzieller Gestaltungsspielräume ist unverzichtbar im Kampf für eine bedingungslose Grundversorgung als selbstverständliche Konsumweise.

Neben der Etablierung des öffentlichen Sektors als eigener Ökonomie macht der »Infrastruktursozialismus« auch einen tiefgreifenden sozialökologischen Umbau der Produktion notwendig, ebenso wie eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitswelt. Eine Initiative zur Humanisierung der Arbeit im Sinne von Arbeitsverhältnissen jenseits der Prekarität würde sich etwa für eine finanzielle wie soziale Aufwertung schlecht bezahlter, unsichtbarer, typisch weiblicher Berufe (z. B. Pflege, Erziehung, Wellness, Reinigung) stark machen, für einen existenzsichernden (!), nicht kosmetischen Mindestlohn, für einen umfassenden betrieblichen Gesundheitsschutz und eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Zugleich gelte es, alle unbezahlten Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsökonomie als gesellschaftlich unabdingbare Reproduktionsarbeit anzuerkennen und ins Zentrum des kollektiven Konsums zu stellen: Die Pflege Alter und Kranker, die Kinderbetreuung, die  Gesundheit etc. wären nicht länger eine Frage individueller Kaufkraft oder persönlicher Zeitbudgets, sondern eine nicht warenförmige, nicht geldvermittelte Leistung, für die  es entsprechende Infrastruktur gibt.

Mit dem hieraus gewonnenen Wohlstand an Zeit – raus aus dem Hamsterrad – öffnen sich dann auch Perspektiven, die Konsumverzicht in anderen Bereichen attraktiv machen. Denn «ein genügsamerer Lebensstil, eine ‹Eleganz der Einfachheit› kann sich nur auf der Basis eines freiheitlichen Lebensalltags entwickeln. […] Eine massenweise Hinwendung zum Weniger hat nur dann eine Chance, wenn sie nicht als mühsame, aber unvermeidbare Veränderung daherkommt, sondern in einer Befreiung aus beengenden, stressigen, sozial isolierenden Verhältnissen ihre Attraktivität entfaltet.»16 Statt pauschaler Konsumschelte wären die Bedürfnisse der subalternen Gruppen und Klassen genauer zu eruieren und ernst zu nehmen: Woran fehlt es, was wird gebraucht, gewünscht? Was drückt bisheriges Konsumverhalten aus? Welche Sehnsüchte bleiben unerfüllt? Wie wollen wir leben? So ließe sich der  Zusammenhang zwischen dem Preis bisherigen Konsumverhaltens – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – und den eigenen Bedürfnissen herstellen. Es ließe sich aufzeigen, wie sie in einer bedürfnisorientierten Reproduktionsökonomie anders gestillt werden könnten. Denn »erst wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet sind, dass selbst bestimmte Tätigkeit zur Regel geworden und ›die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis‹ (Marx)« ist, »wird es mit der Pathologie des ›kompensatorischen Konsums‹ (Haug) vorbei sein«.17 Dann ergibt auch ein nicht stofflicher, nicht warenförmiger Wohlstand für mehr Menschen Sinn, dann ist weniger wirklich mehr.

Dieser Beitrag wurde als RLS Standpunkte 11/2014 veröffentlicht. Die Pdf-Version ist hier verfügbar.

Anmerkungen

1 Für hilfreiche Hinweise danken wir Claudia Bechstein.

2 Miegel, Meinhard: Exit. Wohl- stand ohne Wachstum, Berlin 2010, 247.

3 Ebd.,  165.

4 Welzer, Harald: Ohne jede Bodenhaftung , i n : S Z – Magazin 50/2011 . 5 w w w. d w. de/wirhaben-genug-junge-konsumkritik/a-17221414.

6 Michel Aglietta, zit. nach: Thomas Sablowski: Art. Konsum- norm/Konsumweise, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus [HKWM], hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 7/II, Hamburg 2010, 1646.

7 Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band, MEW 23, S. 620.

8 Wolfgang Fritz Haug: Art. Konsument, in: HKWM, Bd. 7/II, 1621.

9 Zu empirischen Zahlen vgl. Schachtschneider, Ulrich: Nachhaltig-emanzipatorisch Umverteilen, in: LuXemburg 2/2013, 61.

10 Franz Hochstrasser/Peter Jehle: Art. Konsumismus, in: HKWM, Bd. 7/II,  1639.

11 Michel Aglietta, zit. nach: Sablowski: Konsumnorm/Konsumweise, 1648.

12 Hochstrasser/Jehle: Konsumismus, 1634.

13 Schachtschneider: Umverteilen, 62.

14 Insofern staatliche Politiken nicht losgelöst von kapitalistischer Herrschaft zu denken sind, geht es nicht um ein irgendwie gegebenes, demokratisches Gemeinwohl. Es geht um ein linkes ›Staatsprojekt‹, das ausgehend von zivilgesellschaftlichen (Klassen-)Auseinandersetzungen Bedingungen für die Verallgemeinerung einer sozialökologischen Lebensweise absichert. Zugleich bedeutet dies, beim Ausbau insbesondere kommunaler öffentlicher Infrastrukturen den Staat selbst zu demokratisieren.

15 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, 563.

16 Schachtschneider: Umverteilen, 63 f.

17 Hochstrasser/Jehle: Konsumismus, 1642.