| Für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts – vier Thesen

Dezember 2019  Druckansicht
Von Étienne Balibar

I Ausgehend von einigen Hinweisen von Marx charakterisierte Lenin den revolutionären Übergang als einen Staat-Nicht-Staat. Durch diese Einheit der Gegensätze konnte er einen paradoxen Vorgang skizzieren: nämlich den, die Staatsgewalt zu stärken, um die Positionen der Bourgeoisie zu zerschlagen und so den Übergang zu einer kommunistischen Assoziation der Produzent*innen einzuleiten. Jene Einheit verwies außerdem auf eine ­revolutionäre Institution: den damals in ganz Europa existierenden »Sowjet« oder ­Arbeiterrat. Auch wenn diese Überlegung Lenins nicht wirksam wurde, können wir annehmen, dass die Idee des Staat-Nicht-Staats nach wie vor das Wesentliche – und die Schwierigkeit – ­jedes Übergangs in ein Jenseits der Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft bezeichnet.

In allen späteren revolutionären Phasen, aber auch in den Sozialisierungsexperimenten des 20. Jahrhunderts, die den kapitalistischen Rahmen nicht als solchen infrage stellten, betrifft das Problem des »Übergangs« auch die widersprüchliche Einheit eines Markt-Nicht-Marktes. Also eine dauerhafte Einschränkung der Autonomie des Marktes zugunsten einer Politik, die den Kapitalismus zwar nicht verschwinden lässt, aber »zurückdrängt«. Im Kontext der gegenwärtigen Umweltkatastrophe schließlich müssen wir außerdem den Widerspruch von Industrie-Nicht-Industrie denken, den wir als »Degrowth« bezeichnen könnten. Die genannten Widersprüche sind jeweils asymmetrisch, sie konfrontieren die Macht mit einer Gegenmacht, die andersartig ist und auf andere Weise ausgeübt wird. Darin liegt die Chance und zugleich das Risiko revolutionärer Experimente.

II Die genannten revolutionären Widersprüche sind allerdings nicht unabhängig voneinander. So können wir annehmen, dass es einen Nicht-Markt beispielsweise nicht ohne staatliche Eingriffe und Unterstützung geben wird. Diese müsste qua Planung vollzogen werden, was wiederum eine Behörde und eine entsprechende Gesetzgebung voraussetzt. Eine solche Planung wird umso notwendiger, wenn die Regulierung nicht die industrielle Entwicklung beschleunigen, sondern eine rationale »De-Industrialisierung« vorantreiben soll, die nicht zum Zusammenbruch der Lebensbedingungen führt. Hinzu kommt, dass die Planungsexperimente des 20. Jahrhunderts die finanziellen Strukturen der Kredit- und Geldwirtschaft kaum betrafen. Auch verändert sich das Problem mit dem Übergang von einer nationalen zur globalen Ebene. Aber was wären die entsprechenden Formen demokratischer Partizipation oder Massenmobilisierung? Die Idee der »globalen Zivilgesellschaft« mit ihren Netzwerken und Solidaritätskampagnen verweist auf diese Frage.

III Politik ist nicht vorhersehbar. Sie hängt von Situationen ab, in denen sich ganz unterschiedliche Handlungen miteinander verbinden, die jeweils eine eigene Zeitlichkeit haben. Die Theorie kann die Akteure, die zur Veränderung beitragen, allenfalls beschreiben und bewerten. Dieses Problem wurde in der heutigen Theorie als eines der Verbindung unterschiedlicher Interessen gefasst und als Entscheidung zwischen verschiedenen »Hegemonien«, die diese Interessen jeweils hie­rarchisieren. Dies ausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Leider hat ihre Idee des ­»leeren Signifikanten« letztlich einen »Populismus« begünstigt, der sich vom Nationalismus vereinnahmen lässt. Die eigentliche Frage betrifft jedenfalls nicht nur die gesellschaftlichen Interessen, sondern auch die Modalitäten des politischen Handelns, in denen ein sozialistisches Projekt Gestalt annehmen muss. Durch den Hinweis auf die Elemente Programm, Regulation, Aufstand und Utopie möchte ich deutlich machen, dass sich diese Handlungsweisen qualitativ nach ihrer spezifischen Ebene, ihrer institutionellen Form sowie nach ihren »Subjekten« unterscheiden.

IV Mit der Feststellung, dass die ökologische Katastrophe bereits eingetreten ist – und zwar in einer Weise, die nicht umkehrbar ist, verabschieden wir uns von einer bestimmten Idee des Fortschritts, deren dynamischste Version der Sozialismus entwickelt hat. Einen »Niedergang« erlebt jedoch nicht die Idee, dass es Fortschritte zu machen gilt, sondern nur die Idee, dass sich diese Fortschritte in eine totalisierende Evolution einfügen, die letztlich mit dem Gang der Geschichte selbst zusammenfällt. Wir setzen an die Stelle dieser Ideologie aber auch nicht die eines Zusammenbruchs, der zum Ende der Geschichte führt – eine nihilistische Version dessen, was bei einigen aus der Vorstellung vom endgültigen Triumph des auf selbstregulierten Märkten beruhenden Liberalismus folgte. Wir stellen vielmehr die Frage nach den stets vorhandenen Alternativen in einem negativen Prozess, der sich zwar nicht abstellen lässt, der aber mehr oder auch weniger bedrohliche Gestalt annehmen kann. Die hier vertretene These ist, dass die Möglichkeit einer Alternative davon abhängt, ob die Weltpolitik in den kommenden Jahren zu der einen oder anderen Form eines Sozialismus tendieren wird, denn davon hängt sowohl die Reorganisation der Gesellschaften ab als auch die Chance, dem Kapitalismus andere Prioritäten als die der Profitmaximierung aufzuzwingen. Das bedeutet, dass eine Mäßigung der Veränderungen im Verhältnis von Mensch und Natur eine Beschleunigung des Wandels im Verhältnis der Menschen untereinander voraussetzt.

Dieser Text ist ein Auszug aus »Thèses pour un socialisme du 21éme siècle: régulations, insurrections, utopies«, in: Étienne Balibar, Histoire interminable. D’un siècle à l’autre, Paris 2020 (i. Vorb.).

Aus dem Französischen von Thomas Laugstien