| Für eine plurale Linke mit sozialistischem Kompass. Einspruch gegen Sahra Wagenknechts Projekt

Juni 2021  Druckansicht
Von Bernd Riexinger

Seit Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ erschienen ist, hat sich die Auseinandersetzung um ihre Person erneut zugespitzt. Wenige Monate vor der Bundestagswahl nötigt sie die LINKE, statt in einer schwierigen politischen Lage geschlossen für einen linken Richtungswechsel zu kämpfen, sich mit ihrem „Gegenprogramm“ zu beschäftigten, das in wichtigen Teilen nicht dem Bundestagswahlprogramm der LINKEN entspricht. Dieses „Gegenprogramm“ fußt auf drei zentralen Denkfiguren, mit denen ich mich kritisch auseinandersetzen möchte.

  1. Wagenknecht folgt einer kulturalistischen Gesellschaftserzählung. Diese verzichtet auf eine ernsthafte Klassenanalyse und verschiebt die zentrale gesellschaftliche Konfliktachse von der sozialen Klassenfrage und der Frage nach der Stärkung von Solidarität in einer fragmentierten Klassengesellschaft hin zu einem vermeintlichen Kulturkampf der Mittelschichten. Als Hauptgegner eines linken Projekts identifiziert sie den sogenannten Linksliberalismus der neuen Mittelschicht, der sich politisch in der „Lifestyle-Linken“ zusammenfindet.
  2. Als zentrale Ursache für die jahrzehntelange Prekarisierung der Arbeits- und Lebenswelten sieht sie nicht in erster Linie die neoliberale Agenda-Politik und die damit verbundene Kapitaloffensive gegen die Gewerkschaften. Politisch im Mittelpunkt steht bei ihr eine „ungeregelte Zuwanderung“, welche angeblich für einen mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt und fehlende Solidarität verantwortlich sei.
  3. Als Ausweg und Alternative präsentiert sie schließlich – wie schon in vorherigen Veröffentlichungen – ein letztlich ordoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Sie propagiert die Illusion einer „Marktwirtschaft ohne Konzerne“, die sich durch eine De-Globalisierung, die Stärkung von inhabergeführten Familienbetrieben sowie durch den Ausbau des nationalen Sozialstaats alten Typs auszeichne – selbstverständlich bei Wahrung strenger Grenzkontrollen und begrenzter Zuwanderung. Dieses Modell zielt auf eine Revitalisierung der Sozialdemokratie, die seit den 1970er Jahren in einer strukturellen Krise steckt, unter Bedingungen gestärkter nationaler Souveränität und letztlich exklusiver Solidarität.
  4. Vor diesem Hintergrund lässt sich zeigen, dass Wagenknechts Projekt, kein linkes, sondern eher ein retro-sozialdemokratisches ist, an vielen Punkten vergleichbar mit der dänischen Sozialdemokratie. In jedem Fall ist es ein Gegenprogramm, das den Gründungskompromiss der LINKEN als plurales Bündnis linker Sozialdemokrat*innen, demokratischer Sozialist*innen und libertärer Linker in Frage stellt.

Deshalb möchte ich am Ende kurz skizzieren, warum die LINKE nur eine Zukunft als starke Mitgliederpartei hat, die sich auf verbindende Klassenpolitik stützt und sich klar zu Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit und einer sozial-ökologischen Zukunftspolitik bekennt. Diese Pluralität, die von links-sozialdemokratischen, über gewerkschaftliche, bis hin zu klimaaktivistischen, antirassistischen, feministischen und sozialistischen Positionen reicht, könnte in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Polarisierung, unsere Stärke und nicht unsere Schwäche sein.

1| Kulturkampf der Mittelschichten

Ein erheblicher Teil des Buches beschäftigt sich mit der Lebensart, dem vermeintlich intoleranten Verhalten und der widersprüchlichen Ideologie der sogenannten Lifestyle-Linken. Für sie stünden im „Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politikökonomische Probleme“ , sondern „Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten“ (25).[1] Dieser neue akademisch privilegierte Mittelstand schätze Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Symbolik und Sprache seien ihm wichtiger als Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherungen. „Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse, plädiert für eine Post-Wachstums-Ökonomie und achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung. Discounterfleisch-Esser, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigflugreisende sind ihm ein Graus.“ (27) Kein Klischee wird ausgelassen, um ihre Verachtung gegenüber dieser von ihr diagnostizierten neuen Mittelschicht zum Ausdruck zu bringen. Das eigentliche Übel der gegenwärtigen Situation bestehe, laut Wagenknecht, darin, dass die sogenannte Lifestyle-Linke hegemonial geworden sei; mit ihrem Lebens- und Politikstil die Gesellschaft präge und auch vor linken und sozialdemokratischen Parteien keinen Halt mache. Denn auch die Mehrzahl der sozialdemokratischen und linken Parteien habe sich „auf den Irrweg des Linksliberalismus eingelassen, der die Linke theoretisch entkernt und sie großen Teilen ihrer Wählerschaft entfremdet.“ Der Linksliberalismus habe dazu geführt, dass sich SPD und Linke von den sozialen Interessen der Arbeiterschaft und der (traditionellen) Mittelschichten abgewendet haben. Damit haben sie nicht nur ihre Klientel im Stich gelassen, sondern – so ein weiteres Argument – der AfD zu ihren Wahlsiegen verholfen und sie „zur führenden ‚Arbeiterpartei’ gemacht“.

Auf seltsame Weise vermengt Wagenknecht Ressentiment mit Versatzstücken richtiger Beobachtungen. Ja, die sozialdemokratischen Parteien haben in ganz Europa relevante Teile ihrer Basis verloren – aber nicht, weil sie den Linksliberalen in die Hände gefallen sind, sondern weil sie sich offen zum Neoliberalismus bekannt haben. Die SPD kommt bis heute nicht auf die Füße, weil sie durch die Agenda 2010 in bisher beispiellosem Umfang die Axt an die Säulen des Sozialstaates gelegt, die Kampfkraft der Gewerkschaften geschwächt und Lohnzurückhaltung propagiert hat. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder hat keineswegs auf die angebliche Lifestyle-Linke gesetzt, sondern gerade auf Facharbeiter und Mittelschichten; und zwar in harter Abgrenzung zu den damals fast fünf Millionen Erwerbslosen, die angeblich die Sozialkassen plündern und die sogenannten Lohnnebenkosten in die Höhe treiben würden. Mit dieser Politik konnten er und der britische Premierminister Tony Blair auch erhebliche Teile der neuen Mittelschichten im wachsenden Finanzgewerbe, in den modernen Dienstleistungsbranchen und den technischen Berufen als Wähler*innenbasis gewinnen, die empfänglich waren für die Versprechungen des freien Marktes und der Beschneidung des Sozialstaates. Also mitnichten waren es Gleichstellungsfragen und Ökopolitik, die die SPD geschwächt haben, sondern ihre radikale Abkehr von einer klassenorientierten Politik des sozialen Ausgleichs. Für die LINKE ist es auf Dauer schädlich, wenn eine ihrer bekanntesten Politikerinnen nicht müde wird, öffentlich zu behaupten, dass die Partei nur für Lifestyle und „Identitätspolitik“, nicht aber für die Belange der einfachen Arbeiter*innen stehe, obwohl das weder für die Praxis noch für die politischen Schwerpunkte zutrifft.  Wenn sie außerdem beständig in die Nähe der neoliberalen Ära der Sozialdemokratie gerückt wird, verstärkt sich dieser Effekt.

Ein zentrales Problem von Wagenknechts Erzählung ist folgendes: Ihre Diagnose einer neuen, die Gesellschaft dominierenden Mittelschicht basiert auf einer recht holzschnittartigen kulturellen Milieuanalyse, bei der sie sich u.a. auf die (kontrovers diskutierte) Soziologin Claudia Koppetsch beruft. Lebensstil und Verhaltensformen definieren die neue Mittelklasse, nicht ihre Position im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Diese kulturalistische Zeitdiagnose ersetzt eine Klassenanalyse und verschiebt die gesellschaftliche Konfliktachse: Nicht neoliberale Politiken, ein finanzialisierter Kapitalismus, der Leistungsanforderungen seit Jahrzehnten stetig erhöht und durch Standortkonkurrenz die materiellen Bedingungen der Lohnabhängigen durchlöchert, steht in dieser Erzählung im Mittelpunkt der Kritik, sondern vermeintlich privilegierte Mittelschichten und ihr Lebensstil.

Am Abstieg der alten Mittelschicht und der von der Mehrheit der Menschen geteilten Leitkultur der Leistungsgerechtigkeit sei diese neue Mittelschicht Schuld, die sich durch ihr Desinteresse gegenüber den sozialen Belangen der Arbeiterschaft auszeichne. Komplexe Umbrüche in den Qualifikationen und Arbeitsbedingungen, Generationenumbrüche und Ausdifferenzierung der vielgestaltigen Arbeiter*innenklasse, widersprüchliche Zusammenhänge von Bildung und Einkommen, Alltagskultur, Werten und politischen Einstellungen schrumpfen auf ein einfaches Zerrbild zusammen. Das Problem ist: So werden auch die (veränderten) Bedingungen für Solidarität in unserer vielfach gespaltenen (Klassen-)Gesellschaft völlig unsichtbar gemacht. Das Ergebnis ist eine Politik, die Spaltungen eher vertieft statt sie zu überbrücken (was zugegebenermaßen in der Praxis alles andere als leicht ist).

Wagenknecht stilisiert sich damit als Repräsentantin einer Politik, die fast ausschließlich die älteren, sozialdemokratischen und sozial-konservativen Teile der Mittelschichten im Blick behält. Die Teile der LINKEN wiederum, die neben einer Politik gegen die soziale Kälte auch für konsequenten Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit und für Klimaschutz stehen, fallen – folgt man ihrer Erzählung – auf die Weltoffenheitserzählung einer Gruppe herein, die es eigentlich mit dem Teufel treibt.

Wer in dieser Erzählung kaum vorkommt, sind die Beschäftigten in weniger gut abgesicherten Branchen und die prekär lebenden Unterschichten. Wagenknechts Äußerungen zum Rückgang der Beschäftigten in der Industrie und der Zunahme der Dienstleistungsberufe sind auffällig oberflächlich. Dass die Geschichte jedoch nicht in erster Linie durch „Kulturkämpfe“, sondern durch Kämpfe und Organisierungen, Streiks der Beschäftigten und Widerstände der Kapitalbesitzer*innen gestaltet wird, scheint sie nicht für relevant zu halten. Im Gegenteil, für die Klassenauseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte zeigt sie kaum Interesse. Die erfolgreichen Streiks und Tarifkämpfe im Dienstleistungsbereich spielen für sie keine Rolle. Dass im Gesundheitswesen oder bei den Sozial- und Erziehungsdiensten inzwischen wichtige gewerkschaftliche Akteure entstanden sind, die um ihre Interessen kämpfen und substanzielle Erfolge erzielen konnten, passt nicht ins Bild. Ebenso wenig, dass diese Kämpfe weiblicher und migrantischer geworden sind. „Arbeiter“ sind bei ihr offensichtlich männliche Industriearbeiter, die in Kolonne und Blaumann in die Fabrik einziehen. Selbstermächtigung, emanzipatorische Kämpfe und neue Klassenauseinandersetzungen kommen nicht vor.

2| Migrant*innen als Sündenböcke

Die Erzählung vom Kulturkampf wird um ein weiteres Narrativ ergänzt, das ihre Gesellschaftsanalyse ins Reaktionäre kippen lässt. Schuld an dem Zerfall der (traditionellen) Mittelschicht, an Langzeitarbeitslosigkeit und Niedriglohn ist ihrer Theorie nach neben Lifestyle-Linke und Neoliberalismus vor allem die Zuwanderung in den Jahren 2015 bis 2019. Deswegen fordert sie eine Migrationsquote, wohlgemerkt nicht in den vornehmen Wohnvierteln – das wäre ja noch originell. Wagenknecht macht fälschlicherweise die Arbeitsmigration für die Senkung des Lohnniveaus verantwortlich. Dabei lassen sich diese Thesen empirisch widerlegen. Michael Wendl zeigt beispielsweise, dass die Löhne in den unteren Einkommensgruppen am stärksten in den Jahren 2000 bis 2007 gefallen sind, was unmittelbar „mit den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder und der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften bzw. dem Rückgang der Tarifbindung zu erklären ist. Der Druck der EU-Arbeitsmigration beginnt erst 2011, als die Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Folge der EU-Osterweiterung ausgelaufen waren. In dieser Zeit stabilisiert sich die Lohnentwicklung wieder, und ab 2015 steigen in der Folge des Mindestlohnes auch die Löhne in den untersten Dezilen wieder real“ (OXI Blog, 27.4.2021 ). Die Gewerkschaften in Deutschland haben es eben nicht zugelassen, dass es unterschiedliche Tarifgruppen für Migranten*innen und deutsche Beschäftigte gibt. Wagenknecht verwischt (gezielt) Ursache, politische Verantwortlichkeit und Wirkung von Lohnkonkurrenz, die es in bestimmten Bereichen tatsächlich zunehmend gibt. Wir haben es mit einer tiefen Spaltung des Arbeitsmarktes zu tun: In schlecht bezahlten und prekären Bereichen arbeiten überdurchschnittlich Migrant*innen, Frauen und Beschäftigte mit niedriger formeller Qualifikation. Hier ist die Lohnkonkurrenz stark, betroffen sind nicht ausschließlich aber besonders Migrant*innen.

Wagenknecht behauptet weiter, „dass hohe Zuwanderung auch die Unterstützung für eine umverteilende Besteuerung verhindert. Das Gefühl der Verpflichtung gegenüber ärmeren Mitbürgern schwindet in dem Maße, wie der Kreis der Hilfsbedürftigen auf Nichtstaatsangehörige erweitert wird“ (217), zitiert sie den Ökonomen Paul Collier. Das Gegenteil ist der Fall: Migranten*innen haben seit den 1960er Jahren nicht nur in der Industrie, auch in den Dienstleistungsbereichen die gewerkschaftliche Kampfkraft gestärkt und nicht geschwächt. Viele wichtige Streiks wären ohne sie nicht möglich gewesen. Und es sind diese Streiks, in denen ein übergreifendes Klassenbewusstsein entsteht, das auch einen klassenpolitischen Antirassismus selbstverständlich erscheinen lässt. Die DGB-Kampagne der 1980er Jahre „Mach meinen Kumpel nicht an“ steht hierfür exemplarisch. Die Löhne – und die Wähler*innenstimmen für die SPD – sind in Folge der Politik der Agenda 2010 in den Keller gefallen, nicht wegen der Migration und auch nicht wegen der vermeintlichen Dominanz von sogenannten Lifestylelinken.

Es wundert nicht, dass Wagenknecht vor diesem Hintergrund auch die Ursachen für den Aufstieg der Rechten allein in der sozialen Polarisierung und Ausgrenzung und dem fehlenden Angebot der linken und sozialdemokratischen Parteien sieht. Die Tatsache, dass zumindest ein erheblicher Teil der AfD-Wähler*innen, diese jedoch wählt, weil sie mit den rassistischen und rechten Positionen übereinstimmen oder sie bewusst in Kauf nehmen, spielt bei ihr keine Rolle. Auch schließen sich Enttäuschung zum Beispiel über die Sozialpolitik der SPD und rechte Einstellungen nicht aus.

Wir wissen inzwischen, dass die AfD ihre Stimmen nicht hauptsächlich aus prekären und ärmeren Schichten bekommt. Viele AfD-Wähler*innen haben eine akademische Ausbildung, viele gehören dem unteren Mittelstand an. Dass Abstiegsängste ein Grund sind, die Rechte zu wählen, ist unbestritten. Auch die von ihr häufig erwähnte Arbeiterschaft gehört allerdings, zumindest in der Industrie, eher zu den einkommensstärkeren Teilen der Lohnabhängigen.

Dennoch gilt: Die soziale Frage besonders zu betonen, ist richtig. Diese gezielt gegen antirassistische und feministische Kämpfe auszuspielen, ist jedoch falsch und kurzsichtig. Eine Linke darf den Mechanismen der Spaltung und einer bestimmte Teile der Bevölkerung ausschließenden, exklusiven Solidarität nicht auf den Leim gehen. Dass Wagenknecht für genau solche Modelle Sympathie zeigt, ist bezeichnend: „Die dänischen Sozialisten erzielten nach Jahren des Siechtums ihren ersten Wahlsieg 2019 unter ihrer Chefin Frederiksen mit einer Botschaft, die knapp zusammengefasst ‚Mehr Sozialstaat, weniger Einwanderung‘ lautet“ (48). Auch die Sozialpolitik der polnischen PIS wird von ihr positiv erwähnt, obwohl diese an einem straff konservativen Familienbild ausrichtet ist und dies mit einer konsequent flüchtlingsfeindlichen, nationalistischen und autoritären Orientierung verbindet (vgl. 184).

All das ist nicht links. Die offensichtlichen Herausforderungen eines globalisierten Kapitalismus lassen sich nicht durch nationalistische Abschottungspolitik bewältigen.

3| Ein ordoliberales Wirtschaftskonzept ist keine Perspektive für die Linke

Das Gegenkonzept von Wagenknecht stützt sich wesentlich auf ein ordoliberales Verständnis von Ökonomie. Der immerwährende Traum der Ordoliberalen von einer leistungsorientierten Marktwirtschaft ohne Konzerne, verbunden mit einer vernünftigen De-Globalisierung unserer Wirtschaft und einer radikalen De-Globalisierung der Finanzmärkte. „Das Konzept einer Marktwirtschaft ohne Konzerne beschreibt den Weg einer Lösung“ (265). Letzten Endes wären die großen Konzerne innovationsfaul im Unterschied zu den Klein-, Mittel -und Familienbetrieben. Sie würden zwar auch gewinnorientiert arbeiten, „aber nicht in Quartalshorizonten, und in ihnen treffen Leute Entscheidungen, die einen persönlichen Bezug zum Betrieb und seinen Produkten haben. […] Sie sind auch produktiver, innovativer und ausbildungsfreudiger“ (282).

Der permanente Drang und Zwang zu Extraprofiten befördert im Kapitalismus die Konzentration und im Übrigen auch die Steigerung der Produktivität. Einen Kapitalismus ohne Kapitalkonzentration, ohne Konzerne kann es nicht geben. Auch inhabergeführte Familienbetriebe sind bei Strafe ihres Untergangs davon nicht ausgenommen. Um im immerwährenden Konkurrenzkampf um Marktanteile mithalten zu können, beuten sie ihre Arbeitskräfte oftmals sogar mehr aus als die großen Konzerne, zahlen geringere Löhne und Sozialleistungen und sind weitaus weniger tarifgebunden. Die Unterscheidung zwischen „echten Unternehmern“ und Kapitalist*innen ist Unsinn.

Die von ihr hervorgehobenen Stiftungen, wie Bosch oder ZF-Friedrichshafen, haben während der Corona-Krise genauso Stellen abgebaut oder Standorte geschlossen wie andere Betriebe. Das von ihr eingeforderte „Leistungseigentum“, bei dem es keine externen Eigentümer gibt, sondern nur unterschiedliche Kapitalgeber mit unterschiedlichem Verlustrisiko, die entsprechend eine unterschiedliche Verzinsung erhalten würden, ist ebenfalls ein Konstrukt, das die Gesetzmäßigkeiten im Kapitalismus ausblendet und das Märchen einer funktionierenden Markwirtschaft weitererzählt. So meint sie, dass bei den von ihr ins Spiel gebrachten Kontrollorganen, bei dem die „Mitarbeiter – vom Hilfs- über den Facharbeiter bis zum leitenden Angestellten – gewählte Vertreter in die Kontrollgremien entsenden, gewährleistet ist, dass sich die Interessen der gesamten Belegschaft dort wiederfinden“. Abgesehen davon, dass das bei den Unternehmen, in denen eine betriebliche Mitbestimmung existiert, Realität ist, ohne dass dabei die Belegschaften besonders viel zu melden hätten, hinken diese Vorschläge meilenweit hinter den wirtschaftsdemokratischen Debatten und den Konzepten der LINKEN um die Ausdehnung der betrieblichen Mitbestimmung hinterher.

Das von ihr vorgestellte „Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ lebt von der Illusion einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft, verbunden mit dem Ausbau eines national abgeschotteten Sozialstaates, der Begrenzung der Einwanderung und Momenten der De-Globalisierung. Unter Bedingungen eines transnationalen Kapitalismus ist diese Strategie aber zum Scheitern verurteilt. Da Wagenknecht kaum Wert auf eine Analyse von Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen legt, bleibt auch völlig unklar, wie die Kräfte für ein linkes Reformprojekt unter heutigen Bedingungen gebildet werden können. Eine Orientierung auf charismatische Personen, Wahlen und parlamentarische Arbeit reicht nicht aus, um eine erfolgsversprechende linke oder gar sozialistische Reformpolitik zu machen.

Was klar wird ist, dass ihr Vorschlag das Programm für eine Partei ist, die es so nicht gibt. Mit der Perspektive einer pluralen, linken, antirassistischen und feministischen Partei, die für eine sozial- und klimagerechte Gesellschaft streitet und über Einstiege in eine sozialistische Gesellschaft diskutiert, ist ihr „Gegenprogramm“ nicht vereinbar. Offenbar setzt sie – nach „Aufstehen“ erneut – auf ein Projekt, das jenseits der Partei DIE LINKE liegt.  Es wird jedoch nicht gelingen, unterschiedliche Teile unserer per Definition auf Pluralismus und verbindende Politiken gegründeten Partei so gegeneinander zu hetzen, dass sich – innerhalb wie außerhalb der Partei – der Eindruck aufdrängt, der eigentliche Gegner stehe im eigenen Lager. Die deutliche Mehrheit in der Partei weiß, das ist falsch und schwächt uns für in die anstehenden Auseinandersetzungen. Wagenknechts Thesen sind hoch gefährlich. Sie sendet die Botschaft an die einkommensarmen Schichten aus, Die LINKE würde nichts für sie tun. Und an die akademischen Gruppen und jungen Aktiven, sie wären nicht willkommen. Beides ist falsch.

Ebenso verheerend ist ihre Einordnung der Bewegungen gegen Rassismus, für eine humane Politik gegenüber Geflüchteten und der Klimaschutzbewegung. Die neuen Bewegungen, kritisiert Wagenknecht, rekrutierten sich überwiegend aus der wohlhabenden Mittelschicht in den Städten, die behütet aufgewachsen, fern von existenziellen Problemen lebten und wenig Interessen an den sozialen Fragen der Arbeiterschaft und Mittelschicht hätten. Vielmehr würden sie auf Arbeiter*innen, die Aldi-Schnitzel essen, nach Mallorca reisen oder Auto fahren, herabsehen. Das ist nicht nur eine holzschnittartige Einordnung der verschiedenen Bewegungen (und der Beschäftigten und ihrer Lebensführung), sondern eine falsche Einschätzung.

4| Quo vadis, LINKE?

Die LINKE ist Partei in Bewegung, Sprachrohr und verbindendes Element verschiedener Bewegungen mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Die LINKE ist die erste „neue“ plurale Linkspartei in Europa, die langfristig Erfolg hat. Die LINKE ist Ausdruck – auch manchmal im schmerzhaften Sinn – der gesellschaftlichen Linken. Der Versuch, einen Gegensatz zwischen Bewegungen und der Partei DIE LINKE aufzumachen, stößt die vielen Mitglieder und Aktivist*innen vor den Kopf, die in beiden Feldern, in Bewegungen und Partei, aktiv sind.

Unsere Partei ist gut beraten, den Weg der vergangenen Jahre fortzusetzen und gemeinsam weiterzuentwickeln. Das heißt: klare Position für die Lohnabhängigen beziehen und im Sinne verbindender Klassenpolitik gemeinsame Interessen der Beschäftigten herausarbeiten. Dazu gehören auch die Migranten*innen und Geflüchteten. Es gilt, der politisch herbeigeführten Spaltung, Prekarisierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken. Linke Politik verbindet die Frage der Ausgrenzung sogenannter Minderheiten mit den sozialen Fragen und hebt die gemeinsamen Interessen hervor. Sie antwortet auf die im Kapitalismus ständig vorhandene Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Lebenschancen nicht durch Begrenzung der Einwanderung, sondern mit Mindestlöhnen, flächendeckenden Tarifverträgen, mit dem Einsatz für bezahlbaren Wohnraum und für ein inklusives, die soziale Benachteiligung ausgleichendes Bildungssystem. Gleichzeitig ist die LINKE aktiver Teil der fortschrittlichen sozialen, ökologischen und demokratischen Bewegungen.

Die große Herausforderung besteht darin, die verschiedenen Bewegungsansätze zu einem gesellschaftlichen Zukunftsprojekt eines sozial-ökologischen Systemwechsels zu verbinden. Wir müssen weiter ein linkes Profil in der Klimapolitik stark machen und eine ökologische Klassenpolitik, die sich an Prekarisierte ebenso richtet wie an Beschäftigte in der Industrie, an Menschen in Großstädten ebenso wie in ländlichen Regionen. Die LINKE darf ihren klaren Kompass im Kampf gegen Rassismus und rechtsradikale Positionen niemals aufgeben. Dafür gibt es eine soziale Basis bei vielen Gewerkschafter*innen und Beschäftigten, bei den vielen jungen Menschen, die sich heute politisieren. Hier liegt die Zukunft der Linken und der LINKEN.

Anhänger*innen von Wagenknechts Thesen verweisen zurecht darauf, dass es für soziale Mehrheiten neben den jüngeren und Dienstleistungsmilieus auch starken Rückhalt in älteren und im besseren Sinne „sozialkonservativen“, sozialdemokratischen Milieus braucht. Umgekehrt werden diese, zum Teil durch wirtschaftliche und sozialstrukturelle Entwicklungen kleiner werdenden Teile der lohnabhängigen Klasse, als Basis eines linken Projekts nicht ausreichen. In der Situation einer tiefen politischen Vertrauens- und Repräsentationskrise kann es nur durch eine – in den nächsten Jahren weiter auszubauende – breite Verankerung gelingen, Teile älterer, traditionell sozial-demokratischer und „sozial-konservativer“ Milieus zu gewinnen und in einem Projekt der gesellschaftlichen Gegenhegemonie zusammenzuführen.

Marx schrieb im achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft“ (MEW 8, 117). Dieser Grundsatz gilt umso mehr für die Linke des 21. Jahrhunderts.

Eine Langfassung des Beitrags findet sich unter: www.bernd-riexinger.de/fileadmin/lcmsbriexinger/Dokumente/Kritik_an_Sahra_Wagenknechts_Buch_Pdf_1_.pdf

Anmerkung

[1] Sofern nicht anders angegeben beziehen sich alle Angaben auf Sahra Wagenknecht, 2021: Die Selbstgerechten, Frankfurt a. M.