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Freefight – Kämpfe ohne Regeln

Von Nils Baratella

Glaubt man den Boulevard-Medien, sind die Gladiatoren-Kämpfe in all ihrer Brutalität zurückgekehrt. In den Hallen werden Käfige aufgestellt, in denen muskulöse Sportler versuchen, ihre Gegner mit (nahezu) allen Mitteln körperlicher Gewalt in die Bewusstlosigkeit oder Bewegungsunfähigkeit zu befördern. Dabei scheint alles erlaubt zu sein, und je brutaler der Kampf, desto größer der Jubel im stetig wachsenden Publikum. Diverse Städte haben diese Kämpfe schon verboten und Eurosport hat sie mittlerweile aus dem Programm genommen. Die Rede ist vom Free-Fight, der neuesten (und zugleich vielleicht ältesten) Variante des Kampfsports, bei der es zugeht wie beim Wrestling, nur real, ohne große Showeffekte. Der größte Veranstalter dieser Kämpfe ist die US-amerikanische Organisation UFC (Ultimate Fighting Championship), die die Kämpfe weltweit vermarktet und ein eigenes Regelwerk hervorgebracht hat. Diese Sportveranstaltungen gelten als der Inbegriff der zunehmenden Brutalisierung der Sportwelt.

Meine These ist, dass Free-Fight eine Entsprechung in Gegenwartsphänomenen hat, die als Zeitgeist des Neoliberalismus bezeichnet werden können. Kampfsportarten sind besonders zeigekräftige, popular-kulturelle Phänomene, da Gesellschaften in ihnen ihr Verhältnis zu zwischenmenschlicher, körperlicher Gewalt verhandeln. In den Konflikten um Kampfsport wird sichtbar, wie die Grenzen öffentlich zugelassener, körperlicher Gewalt, in den reglementierten Formen des Sports, verhandelt werden. Popularität von Kampfsport und die Begründungen staatlicher Einschränkungen stehen sich hier häufig gegenüber – doch gerade in diesem Gegensatz zeigt eine Gesellschaft ihr ambivalentes Verhältnis zu Gewalt. Die spezifischen Ausprägungsformen können historisch und kulturell höchst unterschiedlich sein; gemeinsam ist ihnen, dass sie meist überdeckte Tiefenstrukturen in ihrer Widersprüchlichkeit auf sinnlich-körperliche Weise zur Aufführung zu bringen.

Sport stellt ein zentrales, allgegenwärtiges Kulturphänomen dar. In seiner vorgeblichen Einfachheit zeigt Sport wie unter einem Brennglas die Bezüge der Menschen in ihren jeweiligen Gesellschaften zu sich als körperlichem Wesen, zum Anderen als ebenso körperlichen Wesen und zu Werten, Normen und Mythen des Umgangs miteinander. Im Sport geht es immer um Grenzen: die Grenzen der eigenen Leistungskraft und der natürlichen Bedingungen, der Technik, die Grenzen des Erreichbaren, der begrenzte Spielraum und die Grenzen des Zulässigen bei der Durchsetzung einer Mannschaft oder eines Einzelnen. In ihm werden Grenzen erweitert, wie auch gesetzt. Sport hat gleichzeitig eine normierende, wie auch eine partiell befreiende (oder zumindest entlastende) Funktion. Der Sport bildet einen Sozialraum, dessen interindividueller Verkehr nicht von ökonomischen Interessen geregelt ist; wir probieren Sozialverhalten aus und studieren es ein. Sport bietet die Möglichkeit, ausschließlich mittels des Körpers Erfolge wie Enttäuschungen zu erleben. Kurz, Sport bildet und vermittelt einen eigenen Ethos, ein eigenes Werte- und Normen-Modell, das hier spielerisch erfahren und erlernt werden kann. Er darf somit nicht ausschließlich als Zugriffsort von Macht auf die Subjektivität der Individuen verstanden werden, sondern auch als ein Ort freiwilliger und spielerischer Vergesellschaftung.

Sport wird zum Raum, in »dem Leidenschaften, die im modernen Erwerbsleben keinen Platz haben, in sozial lizenzierter Form erzeugt, kanalisiert und ›ausgelebt‹ werden (dürfen). […] Emotionen werden [auf Sportveranstaltungen] hervorgerufen, verstärkt und synchronisiert. Die Routinen und Konventionen des Alltags, Sitte und Anstand können hier zeitweilig außer Kraft gesetzt werden. Vorhandene Emotionsregeln werden umdefiniert […] – der institutionell begrenzte Exzess als Intensivierung eines ›verflachten‹ Lebens.« (Alkemeyer 2003, 16)

Auch wenn das moderne Erwerbsleben davon geprägt ist, Leidenschaften und »sportlichen« Einsatz der Einzelnen zu fordern, bleiben sie dem Druck der Effektivität unterworfen. Sportliches Engagement ist »Selbstzweck« und erzeugt so ein Gefühl vermeintlicher Authentizität. Praktiken des Sports haben so über ihren Gegenstand hinausreichende Relevanz für Subjektivierung, die sich in die Körper einschreibt und sich in Praktiken äußert. Ein Hinweis sind die Begriffe »Kampf«, »Gerechtigkeit« und »Arbeit an sich selbst«. Gerade in Zeiten der Propagierung von Teamarbeit und Durchsetzungsbereitschaft, von Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität, wird ein in Sport und Spiel trainiertes Wissen und die Fähigkeit, Strategien am Handeln der Anderen anzupassen und zu verändern von Bedeutung – ebenso wie die Fähigkeit, Konflikte auf eine angemessene Art zu führen und Enttäuschungen zu ertragen. Der Umgang mit der eigenen Niederlage, alles geben und doch scheitern, Schmerzen und Demütigungen erleben und doch an den Regeln des Spiels festhalten, dies sind die utopischen Momente des Sports. Im Sport kann gleichzeitig für das Bestehen in einer als feindlich empfundenen Welt und Gesellschaft trainiert, wie sich von ihr erholt werden.

In Kampfsportarten ist die Thematisierung von Gewalt offenkundig. Immer wenn spektakuläre Gewalttaten Jugendlicher medial thematisiert werden, sind Sozialarbeiter nicht weit, die Kampfsportprojekte anbieten, in denen es darum gehen soll, Aggressionen auszuleben und gleichzeitig Fairness und Respekt vor dem Gegner zu lernen. Aber Kampfsport hat nicht nur die Funktion der Disziplinierung seiner Anhänger. Auch in seiner öffentlichen Wahrnehmung werden gesellschaftlich relevante Fragen der Gewalt und der mit ihr verbundenen Normen verhandelt. Clifford Geertz zeigte dies anhand der relativ friedfertigen balinesischen Gesellschaft, in der regelmäßig Hahnenkämpfe aufgeführt werden: »Das Gemetzel im Hahnenkampfring ist kein Abbild dessen, wie sich die Menschen tatsächlich zueinander verhalten, sondern (was beinahe schlimmer ist) davon, wie sie ihr Verhalten unter einem gewissen Blickwinkel wahrnehmen.«1 In den modernen westlichen Gesellschaften käme diese Rolle wohl eher den Kampfsportarten zu.

Im klassischen Boxen wird Gewalt in einer ästhetisierten Form zugelassen: durch Regeln, die von den Kontrahenten inkorporiert werden müssen und von einer dritten Instanz, dem Ringrichter, gewährleistet werden. Es ist kein Zufall, dass das Regelwerk des Boxens zeitgleich mit dem Anbeginn der Aufklärung erfunden wurde; es entsteht als Alternativ-Modell zu den meist tödlich verlaufenden Duellen mit Waffen. Die körperliche Unversehrtheit und die Gewährleistung gleicher Voraussetzungen im Wettstreit gewannen mit der Durchsetzung (der englischen Form) des Kapitalismus an Bedeutung. Boxen kann als spielerischer Versuch gelesen werden, den Wert der Gleichheit in den Kämpfen zwischen Menschen zu etablieren, bevor dieser Wert in Institutionen Eingang fand. In der Phase seiner höchsten Popularität (in den 1920er bis zu den 1990er Jahren) ist das Boxen (in all den Veränderungen, die es in dieser Zeit durchgemacht hat) geprägt von der Idee des Hocharbeitens (dies endet zwischenzeitlich mit der Karriere Mike Tysons, kehrt in den selbstunternehmerischen »Gentleman«-Boxern wie Henry Maske oder den Klitschkos der 1990er Jahre wieder). Boxer trainieren die immergleichen Bewegungsabläufe, um sie irgendwann wie automatisch zu beherrschen und die dem Boxen eigene körperliche Ästhetik zu realisieren. Der Apparat der boxerischen Techniken ist nicht allzu umfangreich (es sind nur acht Schlagtechniken). Kurz, das Boxen entspricht einem fordistischen Prinzip: Füge Dich ein in die Maschinerie und halte Dich an die Regeln und Du kannst es durch genügend Einsatz schaffen!

Heute verliert das Boxen an Popularität. Zu undurchdringlich wirkt das Netz der verschiedenen Verbände. Sich hier durchzusetzen, scheint nicht mehr nur eine Frage der körperlichen Leistungskraft zu sein, sondern eine der Selbstvermarktungsstrategien. Das Boxen bietet so nicht mehr das, was es in der Vergangenheit attraktiv zu machen schien für die ›hungrigen, jungen Männer‹: wirtschaftlichen Erfolg durch (eigene) Anstrengung.

Dennoch scheint die Illusion nicht an ihr Ende gelangt zu sein. In den USA, dem Mutterland der kulturindustriellen Vermarktung großer Sportereignisse, aber auch in England, dem home of sports, sind die UFC- (Ultimate Fighting Championship) oder Free-FightKampfsportarten dabei, dem traditionellen »klassischen« Boxen den Rang abzulaufen. Die Einschaltquoten von UFC-Kämpfen übertreffen die der Boxkämpfe mittlerweile bei weitem. UFC ist in den 1990er und 2000er Jahren relevant geworden – als die »neoliberale Utopie« auf dem Höhepunkt war. Pierre Bourdieu charakterisierte die Durchsetzung eines »reinen und vollkommenen Marktes« (Bourdieu 1998, 110), einer ökonomischen und gesellschaftlichen Situation also, die v.a. von der Auflösung kollektiver Strukturen gekennzeichnet war.2 Konkurrenzkämpfe charakterisieren die Alltagserfahrungen der zunehmend Vereinzelten. Die Bedrohung durch Arbeits- und Prestige-Verlust ist allgegenwärtig, und es wächst der Zwang, alle Ressourcen der Selbstsorge am ökonomischen Selbstverkaufswert auszurichten. Die traditionellen Sportarten verändern sich: Im Fußball wird es für den Spieler wichtiger, sich in jeder Saison in eine neue Mannschaft einfinden zu können, und Sportler im Allgemeinen müssen zu »Unternehmern ihrer selbst« werden (inkl. Werbeverträgen und Marketingstrategien). Der Breitensport wird zum Trainingsport für die Steigerung des eigenen Marktwerts auf dem umkämpften Praktikums- und Bewerbungsmarkt. Die Körper werden zwar von physischer Arbeit entlastet, psychischer und sozialer Druck nehmen jedoch gewaltig zu. Der Körper wird zum sozialen Kampf-Feld, auf dem das neoliberale Gesellschaftsspiel des »Aussiebens« immer härter ausgetragen wird. Der »Kult des winner […setzt] den Kampf eines jeden gegen jeden ins Recht […] und den normativen Zynismus all seiner Praktiken« (ebd., 116).

Im Kampfsport halten die brutalen und zugleich hoch-technischen Stile der Mixed Martial Arts (MMA) Einzug. Die Wettkämpfe des MMA haben nur ein minimales Regelwerk, sie passen als Kampfsport-Aufführungen in den »neoliberalen Zeitgeist«. Die Kämpfe sind nicht völlig regellos (Schläge in die Genitalien, von oben auf den Kopf und weiteres ist verboten), aber es wird versucht, den Eingriff des Regelwerks in das Kampfgeschehen möglichst gering zu halten, um die Auseinandersetzung einer Schlägerei so originalgetreu wie möglich nachempfinden zu können. Die Kämpfe beinhalten eine Vielzahl von Schlag-, Tritt-, Griff- und Wurftechniken, die traditionellen Kampfsportarten entliehen, variiert und mit ihnen verbunden werden. Die Athleten des MMA (momentan sind es noch überproportional viele Männer, doch auch hier drängen Frauen nach) sind flexibel: Sie müssen eine Vielzahl an verschiedenen Techniken beherrschen und schnell – und v.a. effektiv – einzusetzen wissen. Es genügt nicht, eine Sportart zu beherrschen, sondern aus einer Vielzahl von Kampfsportsystemen müssen die effektivsten Techniken destilliert werden. Es gibt kein eingeschränktes Bewegungsrepertoire: Anything goes, solange es zum Ziel führt.

Im Boxen wurde das grappling (die Techniken des Werfens und Würgens) abgeschafft. Die Sportler sollen sich aufrecht gegenüber stehen, und ihre Schläge dürfen nur auf eine begrenzte Fläche treffen. Damit mussten sie mit ihren Körpern erfinderisch werden, Bewegungs- und Schlagtechniken entwickeln, die zugleich effektiv und kreativ waren. So wurde es möglich, in der Interaktion zweier kämpfender Männer eine eigene Ästhetik entstehen zu lassen. In den Kämpfen der UFC wurden diese Techniken wieder eingeführt – die Kontrahenten schlagen und treten meist aufeinander ein, um sich dann gegenseitig zu Boden zu werfen und dann in Hebel- und Würgegriffen verschlungen so lange zu verharren, bis einer aufgibt. Darin ist vielleicht eine technische Leistung zu sehen, aber mit Sicherheit keine Ästhetik.

Die Reduktion des Regelwerks und der Ästhetik führt zu dem, was man den ethisch-moralischen Gehalt des MMAs oder seine Philosophie nennen könnte. Anders als im Boxen geht es nicht darum, den Gegner durch einen gelungenen Schlag zu treffen. Es geht nicht um eine spezifische Interaktion der Kämpfer, sondern allein um das Besiegen. Die Ethik des MMA ist keine der Interaktion, sondern eine der Aktion. Nur im möglichst effektiven Handeln, im Beherrschen möglichst vieler Techniken liegt die Chance auf den Sieg. Erst hier wird der sportliche Wettkampf zum Survival oft the fittest (Haug 1987). Free-Fight verspricht seinen Anhängern die Authentizität des Kampfes – und er ist authentisch, weil er in den Zeitgeist neoliberaler Konkurrenzkämpfe nahezu perfekt eingepasst ist. Als solche sind sie Gegenstand von linker Kulturkritik, die sich nicht die heile Welt vergangener Sportarten zurückwünschen kann.

 

Literatur

Alkemeyer, Thomas, 2003: Der Sport, die Sorge um den Körper und die Suche nach Erlebnissen, in: Berliner Debatte Initial 4–5/2010, Berlin, 16–30
Boltanski, Luc, und Ève Chiapello, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz
Bourdieu, Pierre, 1998: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion
Caysa, Volker, 1997: Sportphilosophie, Leipzig
Gebauer, Gunter, 2002: Sport in der Gesellschaft des Spektakels, Sankt Augustin
Haug, Wolfgang Fritz, 1987: Entfremdete Handlungsfähigkeit. Fitneß und Selbstpsychiatrisierung im Spannungsverhältnis von Produktions- und Lebensweise, in: ders., und Hans Pfefferer-Wolf (Hg.): Fremde Nähe. Festschrift für Erich Wulff, Berlin/Hamburg

Anmerkungen

1 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Hier zitiert nach: Gebauer, Gunter (2002, 193).
2 Siehe dazu auch die umfassende Analyse der Auflösung kollektiver Strukturen in Boltanski/Chiapello (2003).