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Flucht in die Rechtlosigkeit

Von Ferdinand Muggenthaler

Menschenrechte zwischen moralischer Phrase und Kompass für politische Praxis

Zwischen der Idee der Menschenrechte und dem Nationalstaat besteht eine unauflösliche Spannung. Der Nationalstaat ist die Instanz, die Menschenrechte verwirklichen soll. Aber er gewährt sie in Form von Bürgerrechten und verstößt damit gegen das Gleichheitsversprechen der allen – nicht nur den Bürgern – ›angeborenen Menschenrechte‹. In der Figur des Flüchtlings kommt diese Spannung am deutlichsten zum Ausdruck. Flüchtlinge sind abhängig von der Gnade ›fremder‹ Staaten, die für sie keinen demokratischen Einfluss vorsehen. Folgerichtig sind an der Situation von Geflüchteten oft die Paradoxien der Menschenrechte festgemacht worden. Bekanntestes Beispiel ist vermutlich Hannah Arendt, die, ausgehend von der Situation von Geflüchteten und Staatenlosen, vom »Recht, Rechte zu haben« als dem eigentlichen Menschenrecht spricht (Arendt 1986: 614). Giorgio Agamben (2001: 29) schreibt sogar, der Flüchtling hebe »die alte Dreieinigkeit von Staat, Nation und Territorium aus den Angeln« und sei deshalb »nichts weniger als ein Grenz-Begriff, der die Prinzipien des Nationalstaats in eine radikale Krise stürzt«.

Aktuell scheinen allerdings weniger der Nationalstaat als die Menschenrechte in eine radikale Krise zu stürzen. Während sich deutsche Staatsbürger vergleichsweise wirkungsvoll auf ihre Bürgerrechte berufen können, sind für Nichtbürger in Europa und an den EU-Außengrenzen Menschenrechte meist ein leeres Versprechen. Weder an die UN noch die EU können sich Flüchtlinge halten, um ihre Rechte durchzusetzen. Der europäische ›Raum des Rechts‹ löst sich für sie wieder in einzelne Nationalstaaten auf. Und die arbeiten an ihrer Abschottung.

Oft sind es nur ehrenamtliche AktivistInnen, die längs der Fluchtroute und in den Zielländern gewährleisten, dass Geflüchtete grundlegende Rechte – auf medizinische Versorgung, angemessene Unterbringung, Zugang zum Asylverfahren etc. – in Anspruch nehmen können. Viele von ihnen beziehen sich explizit auf die Menschenrechte. Sie begreifen damit Flüchtende und MigrantInnen nicht nur als Opfer oder Objekte von humanitärem Engagement, sondern als Handelnde, die Rechte einfordern. Inwieweit das für die Flüchtenden selbst gilt, wäre zu untersuchen.

Auf der anderen Seite der Barrikade stehen Pegida, die CSU und der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio. Sie sehen mit der gestiegene Zahl von Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, den deutschen Nationalstaat bedroht. Eine maßlose Übertreibung. Von einer materiellen Überforderung des deutschen Staats kann keine Rede sein. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Infrastruktur zusammenbricht, die Güter des täglichen Bedarfs knapp werden oder dem Staat das Geld ausgeht. Engpässe bei der menschenwürdigen Unterbringung sind selbstgemacht, und mit etwas politischem Willen ließen sich in überschaubarer Zeit für die bisher und die neu angekommenen Kinder genug Plätze und wieder bessere Bedingungen in den Schulen schaffen.

Trotzdem sieht Di Fabio in seinem Gutachten für die bayerische Staatsregierung die deutsche Staatlichkeit bedroht, vor allem durch die unkontrollierte Einreise. Zu Recht halten die Verfassungsrechtler Jürgen Bast und Christoph Möllers (2016) ihm entgegen, dass die »Durchführung von systematischen Personenkontrollen an befestigten Grenzanlagen keine notwendige Bedingung von Staatlichkeit ist«. Di Fabios Argumentation steht also auf wackligen Füßen. Aber er scheint genauso wie einfacher argumentierende Nationalisten zu spüren, dass ein konsequenter Schutz der Menschenrechte den Nationalstaat – zumindest in seiner jetzigen Form – infrage stellt.

Kein fester Grund

Im Treibsand der aktuellen Debatte ist die Anrufung der Menschenrechte als moralischer Fixpunkt, als zivilisatorischer Mindeststandard allgegenwärtig. Der naheliegende – und richtige – Impuls gegen die nationalistischen Angriffe ist es, die verbrieften Rechte zu verteidigen. Praktisch, juristisch und politisch Geflüchteten helfen. Den Nationalstaat anklagen, der seine Verpflichtungen nicht erfüllt, die er zum Beispiel in der Genfer Flüchtlingskonvention, der europäischen Menschenrechtskonvention oder dem Grundgesetz eingegangen ist.

Dabei wird aber ausgeblendet, dass die Menschenrechte weder moralisch noch politisch einen festen Boden bereitstellen. Das ist kein Grund, sich von ihnen abzuwenden, aber sich bewusst zu werden, dass ihr Gehalt selbst Produkt politischer Kämpfe ist und zu fragen: Wie kann eine Menschenrechtspolitik aussehen, die sich nicht in der Anklage staatlicher Doppelmoral erschöpft? Was wäre ein produktiver Umgang mit den Paradoxien der Menschenrechte? Im Folgenden einige Überlegungen, um einer Antwort näherzukommen.

Entstanden ist der Begriff Menschenrechte als Begründung für Bürgerrechte. Ausdruck findet dieser Zusammenhang schon in der Überschrift der französischen »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789. Dass Menschenrechte auch für Nicht-Bürger durchgesetzt werden, war nicht mitgedacht. Nichts anderes stellt der Philosoph Omir Böhm (2015) fest, wenn er im vergangenen Oktober in der Zeit schreibt, dass »die gegenwärtige Krise uns vor ein grundlegendes Dilemma des modernen politischen Denkens stellt – ja sogar des modernen Liberalismus. Wir stehen vor einem Problem, das wir erfolgreich verdrängt haben, nämlich unsere unzulängliche Verständigung darüber, was eigentlich Menschenrechte sind«.

Doch es wird keine abschließende theoretische Verständigung geben. Wer sollte sie herbeiführen? Der Inhalt der »natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen«, wie es in der Erklärung von 1789 heißt, ist und bleibt umstritten und wandelbar, ein Produkt von politischen Auseinandersetzungen. Die heutigen Menschenrechte sind längst nicht mehr die der Französischen Revolution. Zwar gibt es einen vergleichbaren Rahmen, wie ihn der Nationalstaat für die Bürgerrechte bietet, nach wie vor nicht. Aber immerhin gilt seit 1967 die Genfer Flüchtlingskonvention, die Flüchtlingen ein Minimum an Rechten garantieren soll, ohne Beschränkung. Und die völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsabkommen, insbesondere der Zivil- und Sozialpakt von 1966, geben theoretisch auch MigrantInnen, die nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, umfassende Rechte.

Menschenrechte nach 1945

Als Ausgangspunkt des heutigen Menschenrechtsaktivismus gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es scheint im Rückblick eine List der Geschichte, dass sich die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen auf einen solchen umfassenden Katalog politischer und sozialer Rechte einigen konnten.

Dass eine Menschenrechtskomponente in das neugeschaffene UN-System integriert wurde, war offenbar öffentlichem Druck geschuldet. Denn vielen Diplomaten der Großmächte schwante, dass die Verpflichtung auf Menschenrechte einmal eine unangenehme Sprengkraft entwickeln könnte. So warnte etwa das britische Colonial Office, würde die UN Menschenrechtseingaben zulassen, könne das »Kolonialreich als Ganzes einer äußerst schädlichen Kritik ausgesetzt werden« (zit. nach Eckel 2014: 106).1 Letztlich stimmten aber die meisten Staatenvertreter in dem Glauben zu, dass diese unverbindlichen schönen Worte wirkungslos bleiben würden. Trotzdem knüpften sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit einige Hoffnungen an das UN-Menschenrechtssystem. Einige, die daran mitgearbeitet hatten, sahen es als eine Konsequenz aus dem Völkermord an den europäischen Juden, auch wenn öffentlich eher allgemein von den »Grausamkeiten den 2. Weltkriegs« und der »Nazi-Aggression« gesprochen wurde.

Aber nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung verschwand der Begriff der Menschenrechte schnell wieder aus der internationalen Öffentlichkeit. Lediglich in Debatten der Vereinten Nationen warfen sich die beiden Blöcke im Kalten Krieg gegenseitig Menschenrechtsverletzungen vor. Die Sowjetunion prangerte vor allem die Verletzung sozialer Rechte im Westen und die »Rassendiskriminierung« in den USA an, der Westen die Zwangsarbeit in der Sowjetunion und die Ausreiseverbote. Auch antikoloniale Befreiungsbewegungen beriefen sich zum Teil auf die Menschenrechte, ohne dass dieser Diskurs einen breiteren Widerhall fand.

Die Linke, in ihren verschiedenen Facetten, entdeckte die Menschenrechte als Politikfeld im Großen und Ganzen recht spät. Und das, obwohl sich der Marx’sche kategorische Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, umstandslos als Menschenwürdegebot und damit als Begründung von Menschenrechten lesen lässt.

Bis in die 1960er Jahre hinein interessierten sich in Westeuropa fast nur Antikommunisten und Katholiken für die Menschenrechte als politisches Instrument. Die Linke scheint sie erst in einem Moment der Niederlage entdeckt zu haben, beim Militärputsch gegen Salvador Allende in Chile 1973. Jedenfalls war eine entscheidende Motivation die brutale Verfolgung in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Im Bündnis mit der Kirche beriefen sich jetzt verfolgte Revolutionäre auf die Menschenrechte.

In Westeuropa wiederum spielte die Solidarität mit den Opfern von Militärdiktaturen in Lateinamerika eine wichtige Rolle, um Menschenrechte im politischen Diskurs zu verankern. Aber auch eine Art verspätete Auseinandersetzung mit dem Stalinismus hat dazu beigetragen. Erst nach vielen bitteren Erfahrungen scheint die Zeit reif gewesen zu sein, die leeren Worte der Allgemeinen Erklärung zu einer politischen Waffe zu machen und zugleich zu einer Selbstbeschränkung in der Wahl der Mittel.

Elemente einer Menschenrechtspolitik

Zurück in die Gegenwart. In der sogenannten Flüchtlingskrise ist es für Linke selbstverständlich, auf den Menschenrechten der Geflüchteten zu bestehen, auch wenn die Erfolgsaussichten düster sind. Eine umfassende Verwirklichung der Menschenrechte, auch der sozialen, die auch Fluchtursachen beseitigen würde, scheint erst recht eine ferne Utopie. Dabei leben wir im ›Zeitalter der Menschenrechte‹. Sie finden sich in fast allen Verfassungen, in internationalen Abkommen und es gibt ein ausdifferenziertes UN-Menschenrechtssystem. Aber die Ausweitung der Menschenrechte, zumindest auf dem Papier, scheint zum Stillstand gekommen zu sein.

Mehr noch: Wir erleben gerade offene Angriffe auf Gleichheit und Freiheit, wie lange nicht. Diese Grundprinzipien der Menschenrechte werden offen negiert vom Dschihadismus und angegriffen von Rechtspopulisten in Europa, die einen radikalen Rückfall in einen Nationalismus propagieren, der Rechte nur für Bürger kennt. Aber sie werden auch von staatlichen Notstandsregimen attackiert, zum Beispiel in Form der französischen Pläne, Terrorverdächtigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie damit in die Rechtlosigkeit zu stoßen.

Gegenüber diesem Ansturm muss linke Politik den erreichten Stand des Menschenrechtsschutzes verteidigen. Im Moment scheint es nötig, überhaupt die Hegemonie der Idee von universellen Menschenrechten aufrechtzuerhalten, um an das überschießende emanzipatorische Potenzial des Konzepts anknüpfen zu können. Dafür gibt es kein fertiges Rezept. Es kann jedenfalls nicht darum gehen, jede politische Forderung in die Sprache der Menschenrechte zu kleiden. Um eine solche Politik zu entwickeln, könnte die Analyse von Kolja Möller und Francesca Raimondi (2015) hilfreich sein. Sie identifizieren drei Ebenen der Menschenrechtspolitik: eine Politik der Definition, eine Politik der Institution und eine Politik der Revolution.

Die Politik der Definition stellt die Natürlichkeit des angeblich universellen Menschen infrage, dem Rechte zugesprochen werden. Diese Definition ist politisch, nicht naturgegeben. Ein erster großer Akt dieser ›Politik der Definition‹ war die Forderung von Olympe de Gouges während der Französischen Revolution, Frauen als gleichberechtigte Trägerinnen der Menschenrechte anzuerkennen. Der nächste war der Aufstand der Sklaven in der französische Kolonie Saint-Domingue, der – unter Berufung auf die Menschenrechte – zur Sklavenbefreiung und Unabhängigkeit Haitis führte. Aber auch nachdem tatsächlich alle Menschen eingeschlossen sind, führt die Politik der Definition zu keinem abschließenden Ergebnis. Die Menschenrechte sollen universell sein, aber sie können nicht auf »der Figur eines leeren Menschen« (Möller/Raimondi: 41) gründen. Ihre Ausgestaltung wird sich notwendig an bestimmten Lebensformen orientieren. Ein unauflösliche Spannung, die es produktiv zu nutzen gilt.

Zur Politik der Institution gehört die Verankerung des Menschenrechtsschutzes über Verfahren, Gesetze und Gerichtshöfe. Es lässt sich aber auch die Nutzung bestehender Institutionen darunter fassen. Ein Beispiel ist das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Hirsi gegen Italien von 2012. Es stellte klar, dass die hohe See kein rechtsfreier Raum ist und die sogenannten Push-backs illegal sind (vgl. Kasparek in diesem Heft). Ein anderes Beispiel sind strategische Klagen gegen Konzerne, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, wie sie das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) anstrengt.

Von einer möglichen Politik der Revolution sprechen Möller und Raimondi, weil »jede Form der exkludierenden Festschreibung vom Standpunkt der Menschenrechte aus befragt werden« (ebd.: 43) kann. Es lässt sich streiten, ob Revolution für diese permanente Befragung ein zu pathetisches Wort ist. Ein aktuelles Beispiel wäre jedenfalls ein Angriff auf die Rede vom »Kontrollverlust« des Staates: Ja, Menschenrechte ernst nehmen, heißt Kontrollverlust. Es heißt, mit dem Eigensinn und der Selbstorganisation der Flüchtenden zu leben. Rechte gewähren Freiheit und entziehen dem Staat, der sie respektiert, Kontrolle. Es heißt aber nicht, jede staatliche Handlungsfähigkeit aufzugeben. Im Gegenteil: Der Staat muss handeln, um Menschenrechte nicht nur zu respektieren, sondern auch zu schützen, etwa indem die Polizei gegen GewaltäterInnen vorgeht, und zu gewährleisten, etwa mit sozialen Dienstleistungen oder durch ein funktionierendes Justizsystem. Diese Pflichtentrias (respect, protect, fulfill) ist Teil der schon institutionalisierten Menschenrechtspolitik.

Eine Hierarchie unter den drei Dimensionen der Menschenrechtspolitik herzustellen, führt nicht weiter. Vielmehr sind alle drei »notwendige Momente einer jeden emanzipatorischen Politik« (ebd.: 45). Wie die Politiken zusammenspielen, wie das Nutzen etablierter Institutionen und Selbstermächtigung zusammenspielen können, ist ein Frage der Praxis. Wenn das Alarm Phone (vgl. Alarm Phone Chat in diesem Heft) die Küstenwache ruft, um das Leben von Flüchtenden zu retten, ist das eine Politik im institutionalisierten Rahmen. Wenn die Initiative – begründet aus der konkreten Erfahrung des tödlichen Grenzregimes – mittelfristig offene Grenzen für alle fordert, dann ist das Politik der Revolution: aus der Logik der anerkannten Menschenrechte, insbesondere dem Recht auf Leben, ein Recht zu fordern, das noch nicht etabliert ist. Eine Politik der Menschenrechte in diesem Sinn ist ein notwendiger, aber selbstverständlich kein hinreichender Teil linker Politik. Sie stützt sich auf eine anerkannte Zielvorstellung, inklusive sozialer Menschenrechte. Einer internationalistischen Bewegung stellt sie ›globale soziale Rechte‹ bereits zur Verfügung. Dies vor Augen, müsste der Streit darum geführt werden, unter welchen weltweiten Produktions- und Verteilungsverhältnissen sie gewährleistet werden können und wie der Übergang zu einer weltweiten solidarischen Ordnung bewerkstelligt werden kann. Denn Aussagen über den Weg, wie sie zu verwirklichen sind, machen die Menschenrechte nicht.

 

Literatur

Agamben, Giorgio, 2001: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin
Arendt, Hannah, 1986 (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
Bast, Jürgen und Christoph Möllers, 2016: Dem Freistaat zum Gefallen [1]
Boehm, Omri, 2015: Unsere Bürger [2], in: Die Zeit, 4.10.2015
Eckel, Jan, 2014: Die Ambivalenz des Guten – Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen
Möller, Kolja und Francesca Raimondi, 2015: Mensch, Institution, Revolution, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 4/2015, 38–46

Anmerkungen

1 Ich stütze mich im Folgenden vor allem auf die Darstellung von Jan Eckel (2014).