| FEENSTAUB UND HISTORISCHE BRÜCHE

März 2012  Druckansicht
Von The Free Association

Alles beginnt mit der Selbstverbrennung eines in die Arbeitslosigkeit Gedrückten, dem man auch noch das armselige Straßengeschäft verbieten will, das ihn am Leben hält, und den eine Polizistin ohrfeigt, damit er begreift, was in dieser Welt gilt. Sein Aufschrei schwillt an, über Tage und über Wochen, bis Millionen auf einem fernen Platz ihre Freude herausschreien und das Ende mächtiger Potentaten einleiten.
Alain Badiou2

Früher habe ich Fernsehen geschaut, jetzt schaut das Fernsehen auf mich.
Ein ägyptischer Rebell, 20113

In den 1980er Jahren beschrieben westliche Experten die Bedrohung, die sie in den sozialen Bewegungen Mittelamerikas sahen, als Domino-Effekt. El Salvador, Nicaragua, Guatemala, Honduras: Die US-Regierung befürchtete, ein Sieg »kommunistischer« Kräfte gefährde ihre eigenen strategischen Interessen. Dem lag die lächerliche Vorstellung zugrunde, dass Agitatoren von außerhalb auf irgend eine Weise (in diesem Fall von Moskau oder Kuba ausgebildete Revolutionäre) für das Anschwellen breiter nationaler Befreiungsbewegungen verantwortlich wären. Gleichzeitig ordnet sich die Domino-Theorie in eine ganze Anschauung, die sozialen Bewegungen mit mechanistischem und linearem Denken beizukommen versucht: An diesem Ereignis entzündet sich jene Bewegung, jene Bewegung führt zu diesem Aufstand.

30 Jahre ist es her, dass eine Serie von Unruhen durch alle großen Städte des Vereinigten Königreichs fegte. In einem Zeitraum von zehn Tagen im Juli 1981 fand der Aufruhr, der in London, Liverpool, Birmingham und Leeds losgebrochen war, seinen Widerhall in den Straßenkämpfen an weniger glanzvollen Schauplätzen wie Cirencester, Market Harborough und Dunstable. Die Heftigkeit der Ausbrüche war verblüffend. Schockierender – für den Staat – war die Geschwindigkeit, mit der sie sich verbreiteten. Zeitungen sprachen von Aufrührern, die von außen kamen und auf Motorrädern durchs Land fegten, ihre Warnungen vor dem »Nachahmereffekt« waren vielsagend. 30 Jahre später sahen wir im Arabischen Frühling Oppositionsbewegungen entstehen und sich mit überwältigender Geschwindigkeit verbreiten. Und ihre Wirkung blieb nicht auf Nordafrika beschränkt (am 26. März wurde in London gerufen: »Gehen wie ein Ägypter«, »Streiken wie ein Ägypter«, »Kämpfen wie ein Ägypter«). Eine Animation auf Youtube zeigt, wie sich die Proteste und Aufstände in den drei Monaten vom Dezember 2010 bis zum März 2011 über den Globus verbreiteten.4 Kommunikationsplattformen im Internet wie Twitter und Facebook spielten für die Ausbreitung dieser Bewegungen offensichtlich eine Rolle, und die Geschwindigkeit des gegenseitigen Austauschs war bedeutsam. Doch für sich genommen genügt das nicht, um die Wucht dieser Ereignisse zu erklären. Austausch über Kämpfe hat es in der einen oder anderen Form immer gegeben: In den 1790er Jahren konnten die aufständischen Schwarzen in Haiti und die Revolutionäre in Paris nicht auf Tweets zurückgreifen, dennoch überquerten Nachrichten in beide Richtungen auf Schiffen den Atlantik. Wieso werden also manche Ereignisse andernorts aufgenommen, reinterpretiert und neu aufgeführt? Was verbindet einen Selbstmord mit dem Freudenschrei von Millionen?

Kapital und Staat behandeln Bewegungen von unten meist als eine Art Erreger, von dem das System gereinigt werden muss. Auch wir haben viel zu oft von dieser Metaphorik Gebrauch gemacht: Aufstände sind ansteckend, und im kollektiven Nein, in der Weigerung, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist, steckt eine Freude, die auch andere infiziert. Bleiben wir bei den Bildern aus der Medizin, können wir von einem Virusmodell sprechen: Eine Praxis, die sich an einem Ort entwickelt hat, kann auf der ganzen Welt reproduziert werden. Protest kann als ein Mem angesehen werden, das sich in verschiedensten Umgebungen vervielfältigt. In Ägypten, Tunesien, Bahrain und anderswo war die Besetzung eines öffentlichen Platzes von zentraler Bedeutung für die Bildung einer Opposition gegen diese Regime. Von hier lässt sich eine Verbindung zu anderen schlichten Verweigerungs- oder Widerstandshandlungen ziehen, die schnell um sich griffen – wie Rosa Parks’ Weigerung, in den hinteren Teil des Busses zu gehen, oder die Massenweigerung, Wahlgebühren zu zahlen. Solche Handlungen sind häufig niedrigschwellige Eintrittspunkte in eine Bewegung: Leute können die Handlung ohne Umstände kopieren und ohne allzu großes Risiko Teil einer »Bewegung« werden (um der Bewegung gegen Wahlgebühren beizutreten, genügte es, einfach nicht zu zahlen, was sich viele von uns ohnehin nicht leisten konnten).

Doch die Rede von Memen und Viren führt nicht weit genug. Als Menschen, die sich in soziale Bewegungen einbringen, sind wir keine neutralen Übermittler von Informationen und Praktiken. Solche Praktiken müssen uns sinnvoll erscheinen. Statt sich die Ausbreitung von Bewegungen als Ansteckung zu denken, ist es nützlicher, sie als Resonanz zu denken.

»Ein Aufstand breitet sich nicht aus wie eine Seuche oder ein Waldbrand – wie ein linearer Prozess, der sich vom ersten Funken an Stück um Stück ausdehnt. Er nimmt eher wie Musik Gestalt an, vergleichbar mit etwas, dessen Ausstrahlungszentren, obschon in Zeit und Raum zerstreut, den Rhythmus ihres eigenen Pulses durchsetzen können. Um immer mehr an Dichte zu gewinnen.«5

Wie findet ein Aufstand Resonanz? Wie verdichtet sich eine Erhebung? Unmittelbar nachdem sich Mohamed Bouaziz in Sidi Bouzid in Brand gesteckt hatte, kam es in Tunesien zu Krawallen. Wenige Tage später stieg Hussein Nagi Felhi auf einen Hochspannungsmast und schrie »Nein zum Elend, Nein zur Arbeitslosigkeit« und nahm sich mit einem Griff in die Leitung das Leben. Dieser Aufschrei ergriff die tunesische Arbeiterklasse – er ergab für sie Sinn, wie er nie Sinn für das Regime Ben Alis ergeben konnte. In derselben Weise ergriff eine wütende, entfremdete und junge Arbeiterklasse die Gelegenheit des Bruchs, der durch den Aufruhr im Juli 1981 entstand, weil sie seine Bedeutung spürte: In Luton beispielsweise begann die Menge mit einem Angriff auf einen Pub, in dem häufig Rassisten verkehrten, und wandte sich dann der Polizei und der lokalen Parteizentrale der Konservativen zu. Ein Beteiligter an den Randalen in Brixton erklärte später: »Das musste einfach getan werden.« Über die Reaktion italienischer Arbeiter auf die Nachricht von der Russischen Revolution im Februar 1917 schreibt Wu Ming: »Jene Proletarier fragten sich: »Wie ist dieses weit entfernte Ereignis? Wie fühlt es sich an?« Und ihre Antwort war: »Es fühlt sich an wie etwas, das ich gerne selbst machen würde!««6

Leicht lässt sich Geschichte in dieser Weise rückwärts lesen, als ob Handlung X unvermeidlich zum Resultat Y führen müsste. Doch zu jedem Zeitpunkt gibt es unendlich viele mögliche Fortgänge, und nicht in allen Fällen treffen Ereignisse so deutlich oder schnell auf Resonanz. Wir erinnern uns an Rosa Parks, aber nicht an Claudette Colvin. Die Geschichte ist voller weggeworfener Flugblätter, versandeter Kampagnen, ins Leere gelaufener Aktionen. Mit Samuel Beckett: »Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.«7

Wenn Aufstände mit Musik zu vergleichen sind, kann uns Musik vielleicht lehren, besser zu scheitern. 1960 geriet die Band The Troggs bei einem Streit im Studio ins Fluchen. Der Toningenieur stoppte die Aufnahme nicht und hielt dadurch den Versuch der Band fest, zu fassen zu kriegen, wodurch ein Lied zu einem Hit wird. Das Ergebnis: »Du musst ein bisschen beschissenen Feenstaub über den Mist streuen.« Wenn wir über das hinauswollen, was möglich scheint, dann kommen wir mit der Analyse gerade bis zu diesem Punkt. Die Idee des Feenstaubs steht für das Zufallselement im politischen Handeln. Vielleicht haben The Troggs etwas Allgemeines an Schaffensprozessen erfasst und das Problem des schwer zu greifenden Musikhits lässt sich so von der Popmusik in die revolutionäre politische Analyse übersetzen: Wie verdichten sich isolierte Widerstandshandlungen zu Massenaufständen? Welche Bedingungen erhöhen ihre Erfolgschancen, und wenn auch nur für kurze Zeit?

Ereignisse wie die Krawalle von 1981 und der Arabische Frühling von 2011 sind so machtvoll, weil sie die Normalität aufreißen. Die Grenzen unserer Vorstellung, was möglich ist, werden durch die »Wirklichkeit« unseres alltäglichen Lebens bestimmt. Manchmal bedarf es eines Akts der Fantasie (sogar Fantasterei), um zu enthüllen, was wirklich möglich ist. Die 2007 ausgebrochene Wirtschaftskrise hat tiefe Dellen in die »Natürlichkeit« der neoliberalen Weltsicht geschlagen. Durch die Serie von Revolten, von Athen bis London und von Tunis bis Kairo, konnten wir einen Blick auf eine andere, mit neuen Möglichkeiten erfüllte Welt erhaschen.

Der Neoliberalismus ist nicht tot; er ist ein beharrlicher Zombie. Unsere Eliten aus Politik und Medien verbreiten weiter ihre alte Weltsicht, als ob es diese Ereignisse nie gegeben hätte. »Politiker im parlamentarisch-demokratischen System (oder verwandten Systemen) sind völlig verfangen in der mit Kapitalismus verbundenen Logik, die Politik zu ersticken. Diese Logik zielt auf eine »Naturalisierung« – und damit Automatisierung und Entpolitisierung – politischer Entscheidungen.«Diese Naturalisierungslogik wird benutzt, um Kürzungspolitik zu rechtfertigen. Die in der Krise freigelegten politischen Möglichkeiten verschwinden hinter einem Schleier angeblicher Notwendigkeiten. Das neoliberale Mantra bleibt dasselbe: Es gibt keine Alternative.

Diese Maske der Natürlichkeit zu zerbrechen ist alles andere als einfach. Politiker (und alle anderen) sind nicht frei wählende Akteure, wie die liberale Ideologie unterstellt. Sie sind in der Logik verfangen, die Politik zu ersticken, und selbst wenn sie ihr entkommen wollten, wüssten sie nicht, wie: »Die moderne bürgerliche Gesellschaft […] gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.« (MEW 4, 467) Kapitalismus ist nicht einfach habgierig oder auf schändliche Pläne einzelner Kapitalisten oder Politiker zurückzuführen. Er ist ein System von Logiken, in denen wir alle verfangen sind, der Fortgang eines abstrakten Kräftespiels, das heraufbeschworen worden ist, aber in seinem Wirken als natürlich und ewig erscheint. Lässt sich das nicht als kapitalistische Hexerei verstehen?

Wir sind Kräften unterworfen, die wir nie ganz zu fassen kriegen. Wenn Politiker Markt- und Konkurrenzverhältnisse in immer weiteren Bereichen unseres Lebens durchsetzen, wenn uns Situationen aufgezwungen werden, in denen wir andere als Konkurrenten betrachten müssen, wenn wir Handlungen endlos wiederholen, dann ist immer schwieriger auszumachen, wo Kapital aufhört und wir anfangen. Die Band Gang of Four hat formuliert: »Jeder Tag sieht aus wie eine Naturtatsache.« Das Paradoxon ist, dass die Wirkungen des Kapitals unsichtbar und ungreifbar werden und doch ganz konkret unser Leben beschränken.

In antikapitalistischer Politik geht es darum, diese Schranken einzureißen, die Welt wieder mit ihren Möglichkeiten aufzuladen. Doch für die meisten Leute ergibt antikapitalistische Politik meistens keinen Sinn. Ihre Elemente mögen im Einzelnen nachvollziehbar sein, doch als Ganzes genommen scheint sie schlicht nicht gangbar. Es ist schließlich doch eine »unnatürliche« Position, die man damit einnimmt, angesichts all der Einsprüche, die unser alltägliches Leben dagegen hervorbringt. Ereignisse und Krisen aber stellen den Fortgang unseres vorherigen Alltags in Frage. Wenn die »Natürlichkeit« der Verhältnisse an Haftung verliert, dann öffnet sich der Raum für »übernatürliche« Lösungen.

Obwohl die Krise hinter dem Schleier der Notwendigkeit verborgen wird, spüren wir, dass sich 2008 etwas verändert hat. Es ist schwer zu fassen, worin dieses Etwas besteht; ist es doch bislang weitgehend stumm geblieben. (Dennoch berichten Meinungsumfragen selbst in Ländern wie den USA weiterhin von beträchtlichen Bevölkerungsteilen, die die freie Marktwirtschaft nicht für »das beste System« halten.) Wir können die Konturen erahnen: Der »natürliche« Lauf der Dinge schien einst das Versprechen auf ein besseres Leben zu enthalten, wenn nicht für uns, so wenigstens für unsere Kinder. Heute erscheint dieses Versprechen als hohl und der »natürliche« Lauf der Dinge wie eine Falle. Wenn der Weg versperrt ist zu dem, was wir heute unter »gutem Leben« verstehen, dann können wir auch zu der Frage gelangen, ob das überhaupt ein so »gutes Leben« wäre. Deshalb ist, was sich verändert hat, so schwer zu erfassen: Es ist eine Veränderung in der untergründigen Begehrensstruktur. Was wir uns einst wünschten, die Mechanismen, die diese Wünsche hervorbrachten, haben ihren inneren Zusammenhalt verloren.

Neues Begehren entsteht und damit neue politische Möglichkeiten. Dies lässt sich an den Veränderungen der jüngsten Kämpfe erkennen. Wir konnten beobachten, wie frühere marginalisierte Ideen unerwartet große Resonanz fanden. Wir konnten Ereigniskaskaden beobachten, die einen vierzigjährigen Stillstand aufbrachen. Noch wissen wir nicht, wie weit die neuen Möglichkeiten reichen, denn sie sind noch nicht voll zum Ausdruck gekommen. Nur kollektives politisches Handeln kann das vollbringen, und unsere Aufgabe, wenn wir eine haben, besteht darin zu versuchen, ein solches Handeln anzustoßen. Auch wir sind mehr oder weniger im gegenwärtigen Sinnzusammenhang verfangen. Somit sind auch wir als antikapitalistische Aktivisten Zauberer: Wir versuchen etwas heraufzubeschwören, das uns übersteigt, etwas, das wir in seiner Gänze nicht kennen können, etwas jenseits der »natürlichen« Grenzen der bestehenden Gesellschaft; etwas »Übernatürliches«.

Unter solchen Bedingungen füllen sich Begriffe wie Feenstaub mit Sinn. Feenstaub verlangt, sich auf ein Spiel, auf einen Würfelwurf, ein Experiment einzulassen. Wir müssen dafür den sicheren Bereich verlassen. »»Wir wissen es nicht« lässt uns aus der Sicherheit des Reichs der festen Urteile heraustreten und in das des Risikos eintreten, des Risikos zu scheitern, das jeden schöpferischen Vorgang begleitet.«Doch sich auf ein gewisses Zufallselement einzulassen, heißt nicht, auf sein Glück zu vertrauen. »Ein bisschen beschissenen Feenstaub über den Mist« zu streuen, können wir uns als eine Art Beschwörung denken, die vergangene Erfahrungen heranzieht, um über sie hinauszugelangen. Selbst The Troggs wussten, dass der Pfad zum Feenstaub zwischen Wissen und Klischee liegt: »Ich weiß, dass man Streicher braucht, soviel weiß ich.«

So können wir die Besetzung der Millbank Towers während der Demonstration gegen Studiengebühren als Beschwörung sehen. In der jubilierenden Zurschaustellung von Trotz kristallisierte sich eine neue Stimmung von Militanz. Dadurch wurde eine Bewegung heraufbeschworen, mit der niemand gerechnet hatte. Dennoch ist diese Bewegung ins Stocken geraten, weil sie nicht verallgemeinert werden konnte. Ein anderes Beispiel für feenbestäubte Aktionen lässt sich bei UK Uncut entdecken. Wer hätte voraussehen können, dass die Besetzungen von Vodafone-Läden so breite Resonanz finden und sich so schnell verbreiten würden? Lag es an glücklichen Umständen? Oder haben besondere Formulierungen in ihren Beschwörungsformeln ihre Verbreitung befördert?

Bei UK Uncut sehen wir einige der Elemente, die für eine zeitgemäße Beschwö- rung politischen Handelns notwendig sind. Zunächst gelingt es der Bewegung, den zunehmenden Wunsch nach Beteiligung an direkten Aktionen aufzugreifen. Es gibt ein tief empfundenes Bedürfnis nach einer neuen kollektiven und partizipatorischen Politik, die sich dem Ersticken der Politik im parlamentarisch-demokratischen System widersetzt. Doch die Aktionen von UK Uncut verbreiten sich auch deshalb, weil sie leicht zu kopieren sind. Die Teilnahme ist niedrigschwellig. Die Risiken sind nicht sonderlich hoch. Zweitens ergeben die Aktionen, obwohl sie ein »übernatürliches« Element enthalten, unmittelbar Sinn: Sparen ist eine politische Entscheidung und nicht das Ergebnis eines »Naturgesetzes«. Es ist die politische Entscheidung, Unternehmen und Reiche nicht so stark zu besteuern wie uns andere und die Kosten der Krise den Ärmsten der Gesellschaft und denen, die am wenigsten dafür verantwortlich sind, aufzubürden. Die Aktionen von UK Uncut und die dadurch provozierten Reaktionen der Polizei lassen einige der kapitalistischen Dynamiken sichtbar werden, die der Neoliberalismus zu leugnen versucht. Sie machen zum Beispiel sichtbar, dass Kapital verschiedene und gegensätzliche Interessen enthält und dass Politiker, Polizei und die gegenwärtigen Machtstrukturen sich hinter die einen und gegen die anderen Interessen stellen. Das ist ihre politische Entscheidung.

Eine Gefahr liegt darin, dass weil Aktionen unmittelbar verständlich sein müssen, sie viele der verborgenen Denkvoraussetzungen unserer Gesellschaft mitschleppen. Wenn die Aktionen keine Dynamik entfalten, die immer ein Stück weiter treibt und weiter verallgemeinert, dann läuft die Bewegung Gefahr, in das alte Sinngefüge zurückzufallen. Wir kennen das nur zu gut. »Natürlich würden wir gern die Banker besteuern«, sagt die Regierung, »aber wenn wir das täten, würden sie einfach nach Genf ziehen«. Jede Bloßstellung einer politischen Entscheidung soll mit einer neuen »Naturalisierung« verdeckt werden.

Jetzt können wir das dritte notwendige Element unserer Beschwörungen ausmachen. Unsere Aktionsformen müssen Mechanismen oder Momente einschließen, die die Bedingungen für eine kollektive Analyse herstellen. Vielleicht müssen sie Räume und Zeiträume einbauen, in denen die Kollektivität erhalten bleibt und gleichzeitig die Intensität nachlassen kann. Wir brauchen diesen bekannten Rhythmus zwischen der hohen Intensität von Aktionen und der gemächlicheren Gangart von Diskussionen und Analysen. Nur wenn wir diesen Rhythmus aufrechterhalten, können wir die kapitalistischen Dynamiken, die unser Leben einschränken, immer weiter durchbrechen. In der Studierendenbewegung spielten die Besetzungen eine ähnliche Rolle, aber sie allein reichten nicht aus. Damit eine Bewegung vorankommt, muss sie die Bedingungen ihrer eigenen Entstehung hinter sich lassen. Wenn auch eine kleine Gruppe eine funktionierende Formel entdecken mag, so muss sie doch Kräfte heraufbeschwören, durch die sie selbst überflüssig wird. Das Ziel muss sein, die Masse zu ihrem eigenen Analytiker zu machen und Führungsfähigkeit über das ganze Kollektiv zu verbreiten. Wenn ein Flaschengeist dir drei Wünsche gewährt, sollte dein letzter Wunsch immer der sein, drei weitere gewährt zu bekommen.

NACHTRAG

Der arabische Frühling war zum Zeitpunkt der ersten Textfassung noch jung und die Bewegung der Empörten beschritt in Spanien und Griechenland neue Wege. Es schien, als gäbe es überall, wohin unser Blick fiel, Brüche oder wenigstens Ansätze dazu. Der Text braucht kaum Aktualisierung: Protest hat sich seitdem verstärkt: Im Sommer 2011 war England mit heftigen Krawallen und Plünderungen in ungekanntem Ausmaß konfrontiert; Ende November streikten über 2 Millionen Angestellte des öffentlichen Dienstes, sie schlossen Schulen, Krankenhäuser, Gerichte, Passstellen und Häfen; und zwischen diesen beiden Ereignissen brach sich nach Aktionen an der Wall Street die Occupy-Bewegung überall auf der Welt Bahn.

Gleichzeitig zeigen die drei Beispiele die Schwierigkeiten, mit denen soziale Bewegungen konfrontiert sind, also wie schnell unsere Handlungen in die bestehenden »natürlichen« Grenzen der Gesellschaft zurückfallen können. Paul Mason beschreibt die soziale Zusammensetzung der Proteste und findet hauptsächlich die Armen der Städte, die organisierten Arbeiter und die »Hochschulabsolventen ohne Zukunft«.10 Was dem Arabischen Frühling seine besondere Schlagkraft verlieh, war die Weise, wie diese Kräfte ineinander griffen, sich verbanden und dann etwas Neues hervorbrachten, das über sie selbst hinausreichte. In den Monaten danach fehlten solche magischen Momente des Bruchs und des Feenstaubs. Die Streiks des öffentlichen Sektors folgten einem bekannten Muster: symbolische eintägige Streiks, geordnete Zurschaustellung der Unzufriedenheit und dann Rückkehr an den Arbeitsplatz. Die Krawalle im Sommer flammten kurz auf, konnten aber schnell durch Repression und von den Medien aufgepeitschte Empörung marginalisiert werden: Die so genannten EMA-Jugendlichen, die in den Studierendenprotesten eine entscheidende Rolle gespielt hatten, fanden sich plötzlich isoliert und dämonisiert.11

Vielleicht kam die Occupy-Bewegung dem glitzernden Feenstaub am nächsten. Sie bot eine innovative Form, die sich leicht kopieren ließ; sie brachte einen Slogan hervor – »Wir sind die 99%!« –, der unmittelbar verständlich war und doch gleichzeitig auf die Klassenmacht als möglichen Weg, aus dieser Welt herauszukommen, hindeutete. Dies mag die außerordentliche Verbreitung der Bewegung im Herbst 2011 erklären und wieso sie für die Menschen »Sinn ergab«. Doch es erwies sich als wesentlich schwieriger, mit nachlassender Intensität die Kollektivität aufrecht zu erhalten, zumal in Anbetracht der Schwierigkeiten, einen Platz für lange Zeit besetzt zu halten. Statt einen Raum für Strategiefindung und Entwicklung einer gemeinsamen Analyse zu schaffen, engte sich die Bewegung vielfach mit dem Konsensprinzip für Entscheidungen und ihrem zur dominanten Ausdrucksform gewordenen Assamblea-Modell ein. Im Kern ist die Occupy-Bewegung nicht in der Lage gewesen, den Bedingungen zu entkommen, die sie hervorgebracht haben. Sie hat noch nichts heraufbeschwören können, das über sie hinausgeht – noch nicht.

Aus dem Englischen von Daniel Fastner

 

Anmerkungen

1 The Free Association ist ein fortlaufendes Experiment mit Mittelpunkt in Leeds im Norden Englands, auch wenn wir eigentlich nirgendwo (und überall) zu Hause sind. Wir sind eine Lesegruppe, eine Schreib-Maschine, eine Bezugsgruppe … Moments of Excess: Movements, protest and everyday life, eine Auswahl unserer Texte aus den letzten zehn Jahren, ist bei PM Press erschienen. www.freelyassociating.org.
2 Badiou, Alain, 2011: »Tunisie, Egypte: quand un vent d’est balaie l’arrogance de l’Occident«, Le Monde, 18.2.2011, www.lemonde.fr/idees/article/2011/02/18/tunisie-egypte-quand-un-vent-d-est-balaie-l-arrogancede-l-occident_1481712_3232.html, deutsche Übersetzung in Grundrisse 37 (2011), 7ff, www.grundrisse.net/ grundrisse37/alain_badiou__tunesien.htm.
3 Zitiert nach Badiou, ebd.
4 Vgl. www.youtube.com/user/SwampPost.
5 Das unsichtbare Komitee, Mise au point, 2009, www.bloom0101.org/miseaupointcireduit.pdf.
6 Vgl. Harman, Mike, 2007: Like a Summer with a Thousand Julys, libcom.org/library/summerthousand-julys-other-seasons, (22.7.2007) und Wu Ming 2011: »We’re all February of 1917« (8.4.2011).
7 Beckett, Samuel, 1989: Westward Ho. Aufs Schlimmste zu, Frankfurt/M, 7.
8 Pignarre, Philippe und Isabelle Stengers, 2011: Capitalist Sorcery: Breaking the Spell, London.
9 Ebd.
10 Mason, Paul, 2012: Why It’s Kicking Off Everywhere: The New Global Revolutions, London.
11 Bei der Educational Maintenance Allowance (EMA) handelt es sich um eine wöchentlich gezahlte staatliche Unterstützung für 16- bis 19-Jährige aus Familien mit niedrigem Einkommen, die weiterhin Vollzeit zur Schule gehen. Im Oktober 2010 kündigte die Regierung an, dass sie dieses Programm im Zuge ihrer allgemeineren Sparpolitik beenden würde.