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FAKTOR 37

Von Uwe Witt

DIE MÄR VOM NACHHALTIGEN WACHSTUM

Am 21. August 2010, das hat das Global Footprint Network ermittelt, war die Menge an regenerativen Ressourcen, die der Planet jährlich bereitstellen kann, verbraucht – von da an folgte Substanzverzehr bis Silvester. Jede Firma ginge bei dieser Bilanz pleite. Dass es auch im wirklichen Leben eng wird, zeigen die Nachrichten von den Rohstoffbörsen. Seltene Erden sind in diesem Jahr besonders knapp, der Preis für Cer ist seit 2007 um 1 600 Prozent gestiegen, für Neodym um 400 Prozent. Der Kupferpreis hat sich seit 2002 verfünffacht. Im letzten Frühjahr war Eisen besonders teuer. Die Bundesregierung richtet derzeit eine Rohstoffagentur ein, um über »strategische Partnerschaften« den Bezug von Erzen, Gas oder Kupfer für die deutsche Wirtschaft zu sichern. Überdies sind weite Teile der Weltmeere leergefischt, der Tropenwälder abgeholzt. Trotz bald 20 Jahren UN-Klimaverhandlungen stiegen 2010 die weltweiten Treibhausgasemissionen wieder auf Rekordhöhe.

In den 1970ern machte der praktische Umweltschutz, vornehmlich der nachsorgende, rasante Fortschritte. Schlote von Kraftwerken und Industrieanlagen rauchten mit deutlich weniger giftigen Abgasen, weniger Staub und schädliche Abwässer gelangten in die Umwelt. Recycelt wurde nicht mehr nur Papier oder Metall, sondern auch Kunststoff. Möglich machte all dies eine Umweltgesetzgebung, die erstmals über den klassischen Naturschutz hinausging. Das Umweltrecht hat sich seitdem weiter entwickelt – beinah unüberschaubar detailreich. Gesetze wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) greifen erstmals in Erzeugungsstrukturen ein und gehen über die End-of-pipe-Technologien der Luft- oder Abwasserreinigung mit ihrer vorrangig nachsorgenden Funktion hinaus. Die drei Säulen des EEG – Einspeisevorrang für Ökostrom, garantierte Einspeisevergütung und Degression der Vergütungssätze – jagen den fossil-atomaren Energieversorgern stetig Marktanteile ab. Sie machen gleichzeitig Energie aus Sonne, Wind, Biomasse und Wasser billiger. Die Beschäftigung in den Branchen der Erneuerbaren stieg deutlich schneller an, als Arbeitsplätze in den überkommenen Erzeugungsstrukturen abgebaut wurden. Eine Win-Win-Situation für Umwelt und Beschäftigung, die mit Recht zu den größten Erfolgen der Ökologiebewegung gezählt werden kann.

In dieser Entwicklung sehen viele in Umweltverbänden, bei Grünen und Linken sowie der Wissenschaft Chancen für eine zumindest ökologisch nachhaltige Umgestaltung der ka pitalistischen Gesellschaft. Wenngleich Defizite stets offenbar waren, schienen sie doch mit einer klugen Mischung aus Ordnungspolitik und marktorientierten Ansätzen händelbar – sofern genügend außerparlamentarischer Druck entstünde.

Vielleicht wären die Grenzen sogar überwindbar. Und zwar durch qualitatives Wachstum. Wachstum, welches dauerhaft umweltverträglich gesteigert werden könnte. Nicht nur über die Mehrfachnutzung von Materialien und einen Übergang zur Nutzung erneuerbarer statt fossiler und mineralischer Ressourcen, sondern auch durch einen steigenden Anteil ressourcenärmerer Dienstleistungen am Sozialprodukt.

In Deutschland stehen vor allem die Arbeiten Faktor Vier (1995) bzw. Faktor Fünf (2009) von Ernst Ulrich von Weizsäcker und seinen Koautoren für diesen Weg, den Einsatz von Rohstoffen und Energie radikal zu senken, dabei aber den »Wohlstand« zu vermehren. Dem Untertitel des zweiten Buches, »Die Formel für nachhaltiges Wachstum«, ist zu entnehmen, dass sie Wirtschaftswachstum nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern künftig nur anders ausrichten wollen. Weizsäckers detailreich ausgearbeitete Grundidee: Die Menschen wollten nicht Treibstoffe oder Autos, nicht Kilowattstunden, Glühbirnen oder Kohlekraftwerke. Sie wollten »Dienstleistungen« wie Mobilität, Wärme oder Licht. Würde die Wirtschaft auf diese Bedürfnisse ausgerichtet, ließen sie sich mit weit weniger Durchsatz von Rohstoffen, Energie und Abfall befriedigen als bei einer produktorientierten Wirtschaftsweise. Das Geschäftsmodell eines Energiedienstleisters wäre zwar weiterhin gewinnorientiert. Es bestände aber darin, mit möglichst wenig Aufwand 21 Grad Celsius Raumtemperatur und ausreichend Helligkeit zu garantieren, anstatt möglichst viel Heizöl oder Elektrizität an schlecht gedämmte Häuser mit 100-Watt-Glühbirnen zu verkaufen.

In Faktor Fünf skizzieren die Autoren zugleich, welche politisch-institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für eine solche Wende notwendig wären, etwa eine Langfrist-Ökosteuer und ein internationaler CO2-Handel. Neben der Effizienzrevolution sollte sich die Gesellschaft zudem stärker der unbequemen Frage der »Suffizienz« zuwenden. Es reiche nicht aus, bestimmte Waren und Dienstleistungen weniger ressourcenschwer herzustellen. Einige müssten auch eingeschränkt genutzt werden, von anderen müsse man sich verabschieden. Nur so ließen sich die ökologischen Grenzen einhalten und der Verbrauch von Rohstoffen sowie der Ausstoß von Treibhausgasemissionen auf 80 bis 90 Prozent vermindern. In der Politik ist dies bis heute kaum angekommen.

Weizsäcker und Co. haben unschätzbare Verdienste, wenn es darum geht, praktische Schritte des ökologischen Umbaus einzuleiten. Eine naheliegende Frage gehen sie jedoch zurückhaltend an: die Kritik des Wachstums als Grundbewegung kapitalistischen Wirtschaftens selbst. Ihnen ist bewusst, dass ihr Modell auf längere Zeit nur dann ökologisch verträglich ist, wenn der Umweltverbrauch auf ein Fünftel des gegenwärtigen zurückgefahren und auf diesem Niveau eingefroren werden kann. Die Konsequenz dessen ist jedoch erst auf einer der letzten Seiten von Faktor Fünf zu finden. Dort wird konstatiert: »dass ein Weiterwachsen selbst bei einer aggressiven Erhöhung der Ressourcenproduktivität in den ökologischen Abgrund führt« (2003, 372).

Und tatsächlich: Gelänge es, den Verbrauch um vier Fünftel zurückzufahren, wäre man nach vielen Mühen zwar bei einem Niveau angelangt, das seitens der Wissenschaft für die Erde als umweltverträglich angesehen wird und dem globalen Süden Wachstum für Armutsbekämpfung und Entwicklung zu gesteht. Würde aber gleichzeitig die Wirtschaft auch im Norden weiter wachsen, würden die ökologischen Grenzen erneut überschritten. Denn zumindest ein Teil des Wachstums wird mit zusätzlichem Ressourcenverbrauch verbunden sein. Demnach wäre dauerhaft umweltverträgliches oder qualitatives Wirtschaftswachstum, von dem auch die Anhänger der keynesianischen Schule träumen, wenn sie durch eine Stärkung der Nachfrage und zusätzliche öffentliche Investitionen die Herstellung wirtschaftlicher Gleichgewichte und mehr Gerechtigkeit einfordern – darunter viele Linke, Gewerkschafter und Sozialdemokraten – schlichtweg unmöglich. Dieser Schluss lässt sich nicht nur mit Weiz säcker ziehen. Vergleichbares formuliert auch das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, welches im Auftrag des Bundes für Umweltund Naturschutz Deutschland (BUND), des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) und Brot für die Welt die Aufsehen erregende Studie Zukunftsfähiges Deutschland erstellte. Ließ die erste Ausgabe 1996 die Wachstumsfrage noch im Vagen, so ist die letzte, 2008 herausgegebene Version deutlich kritischer. Darin wird die These vertreten, es sei zwar wissenschaftlich nicht formal beweisbar, dass sich langfristig dauerhaftes Wirtschaftswachstum und ökologisch nachhaltiges Wirtschaften ausschlössen, aber allen Erfahrungen nach höchst wahrscheinlich. Unter anderem deshalb, weil die meisten Effizienzgewinne durch sogenannte Rebound-Effekte kompensiert werden. Beispielsweise werden zwar ressourcen leichtere, dafür aber mehr Produkte und Dienstleistungen verbraucht.

Was die Feststellung, ein Weiterwachsen führt in den Abgrund, für eine kapitalistische Gesellschaft bedeutet, die profitgetrieben zum Wachstum verdammt scheint, wird allerdings weder in Faktor Fünf noch in Zukunftsfähiges Deutschland beantwortet. Die gerade vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« könnte sich diese Frage vorlegen.

Gewerkschaftsnahe Wissenschaftler forderten noch in den 1980er Jahren ein Wirtschaftswachstum von mindestens 2,5 Prozent jährlich. Erst ab dieser Marke könnten die aus der Produktivitätssteigerung resultieren den Beschäftigungsverluste ausgeglichen werden (»Beschäftigungsschwelle«). Allein zur Wahrung des Status quo beim Ressourcenverbrauch wäre hierbei alle 28 Jahre eine Halbierung des Wachstums vonnöten, denn in diesem Zeitraum verdoppelt sich jeweils das Sozialprodukt. Schon jetzt stehen wir vor einer ökologischen und sozialen Katastrophe, denkt man nur an die Verarmung und an die Ausplünderung des globalen Südens. Sollen die als ökologisch erachteten Minderungsziele erreicht werden – also Einsparungen bis 2050 um 80 bis 90 Prozent gegenüber 1990 –, sind Rohstoffverbrauch und Emissionen in den Industriestaaten pro Einheit Sozial produkt auf bis zu ein Siebenunddreißigstel zu senken. Eine solche Entmaterialisierung mag im Energiebereich über die Erneuerbaren gerade noch möglich sein. Für nichtenergetische Rohstoffe, etwa durch weniger Materialeinsatz pro Produkt, ist sie Träumerei. Denn ein Haus darf nicht einstürzen, ein Zug nicht auseinanderfallen und auf einem Stuhl muss man sitzen können. Auch die wachsende Dienstleistungsbranche ist mitnichten ressourcenarm. Der Aufwand für bauliche Infrastruktur, IT-Ausstattung und Verbrauchsmaterialien wird regelmäßig unterschätzt. Für die Herstellung eines PCs sind über die gesamte Produktionskette 1,5 Tonnen Roh- und Hilfsstoffe vonnöten. Ferner saugen erneuerbare Energien, obgleich sie fossile Rohstoffe sparen, Erze und Seltene Erden von den Märkten. In einer modernen Onshore-Windanlage stecken beispielsweise acht Tonnen Kupfer, in Offshore-Anlagen bis zu 30 Tonnen. Um den riesigen Bedarf an leistungsfähigen Akkus für die Mobiltelefone und die übrige Elektromobilität zu sichern, soll nun eine Region umgewühlt werden, die bei Reisenden als Weltwunder gilt: die von atemberaubenden Fünftausendern umrahmte schneeweiße Salzwüste Uyuni im bolivianischen Hochland. Hier liegen die weltweit größten Vorkommen an Lithium (vgl. US Geological Survey, Mineral Commodity Summaries, Januar 2009).

Heute wird in der Bundesrepublik von einer Beschäftigungsschwelle zwischen 1,5 und zwei Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr gesprochen. Unter anderem, weil der Anteil vergleichsweise beschäftigungs intensiver Dienstleistungen am Sozialprodukt steigt. Dafür sinken international seit Jahrzehnten die Wachstumsraten der Industrieökonomien. Betrugen sie in Deutschland pro Kopf in den 1960er Jahren im Schnitt noch 3,5 Prozent, waren es von 1999 bis 2009 nur noch 1,8 Prozent. Norbert Reuter sieht eine Ursache darin, dass die Nachfrage nach neuen Produkten historisch-kulturell nicht exponentiell, sondern nur linear steigt.1 Der gesamtgesellschaftliche Produktivitätsfortschritt war in den vergangenen Jahrzehnten dennoch stärker als das Wachstum, denn die Sockelarbeitslosigkeit stieg im Trend. Nur die Umverteilung von Arbeit und Einkommen hätte dies verhindern können.

ber auch wenn die Wachstumsraten sinken, der stetige absolute Zuwachs an Sozialprodukt bleibt. Das Mitwachsen des Rohstoffverbrauchs kann zwar durch mehr Effizienz in der Wirtschaft verlangsamt, aber nur zeitweilig gestoppt oder umgekehrt werden. Angesichts der eingangs skizzierten globalen Probleme, denen soziale oder militärische Konflikte folgen können, stellt sich die Frage, ob über die klassische Umweltgesetzgebung hinaus eine exogene Steuerung wichtiger Ressourcenströme notwendig wird. Für eine steady state economy, also ein Wirtschaften mit konstantem Durchsatz, hatte in den 1990er Jahren bereits der Umweltökonom Herman E. Daly plädiert. Nach dem Vorbild des Emissionshandels bei Treibhausgasen – hingegen ohne dessen Lücken – könnten auch strategische Rohstoffe reguliert werden. Es gäbe dann politisch festgelegte Obergrenzen bei EU-inländischer Entnahme und Importen und unter Umständen auch handelbare Zertifikate.

Dieses oder ähnliches anzuregen, könnte Aufgabe der Enquete sein. Jedoch wurde schon bei der Bundestagsdebatte zu ihrer Einsetzung deutlich, dass die Mehrheit im Parlament den Schlüssel für Nachhaltigkeit vor allem in der Erhöhung der Effizienz sieht. Zwar wird auch das Wirtschaftswachstum in Frage gestellt – allerdings nur als Indikator für Wohlstand. Etwa weil auch die Beseitigung der Folgen von Kriegen oder Ölkatastrophen statistisch Wachstum generiert, das allerdings auf Zerstörung basiert. Es soll offensichtlich durch andere Indikatoren (Zufriedenheit, Bildung, Zustand der Umwelt etc.) ergänzt oder zu ersetzt werden. Am System per manent wachsender Ökonomien zu zweifeln oder gar zu rütteln, bleibt jedoch tabu. Es ist zu hoffen, dass die linken Abgeordneten und Experten im Gremium hierin ihre Aufgabe sehen. Dabei wäre nützlich, Verbindungen zu den schon weitergehenden linken Debatten in Frankreich oder Großbritannien herzustellen.

Unabhängig davon, wie am Ende Regulierungen aussehen werden, ob es sie überhaupt geben wird bzw. ob sie im Kapitalismus durchsetzbar sind: Ein sozial und ökologisch nachhaltiges Wirtschaften ohne Wachstum wird Umverteilungen bei Einkommen und Arbeit enormen Ausmaßes notwendig machen. Das ist der soziale Gehalt der Debatte, welcher bislang bei Linken und Gewerkschaften gleichermaßen kaum angekommen ist.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Reuter, Norbert, 2002: Die Wachstumsoption im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie, in: Utopie kreativ 136, 131ff.