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Ungelöst und ungeliebt: Die nationale Frage. Wie Europa von links denken

Von Walter Baier

Die magische Formel, mittels derer nach 1945 Kriege und Nationalismen gebändigt werden sollten, lautete Integration. Doch entgegen aller optimistischen Rhetorik, mit der noch vor Kurzem ein »postnationales Zeitalter« ausgerufen wurde,[ref]Typisch für diese Sicht sind Cohn-Bendit/Verhofstadt (2012) und Menasse (2012). [/ref] stellt man heute fest, dass Europa mit der »nationalen Frage« keineswegs fertig ist. Tatsächlich hat die Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem Legitimationsverlust der europäischen Integration und zu einem Wiederaufleben des Nationalismus geführt.

Jede Generation muss die ihr gestellten Probleme in ihren eigenen Begriffen erfassen. Um beispielsweise aktuelle Abschottungs- und Ausgrenzungstendenzen zu bezeichnen, hat sich auch in Europa der Begriff Rassismus eingebürgert. Dass aber beispielsweise die durch die österreichische Rechtsregierung beschlossene Senkung der Familienbeihilfe für osteuropäische EU-Bürger*innen breite Zustimmung unter ihrer Wählerschaft findet, zeigt, dass Menschen, die den Sozialstaat durch afghanische, syrische und irakische Flüchtlinge bedroht sehen, auch nicht geneigt sind, ihn mit slowakischen, bulgarischen oder rumänischen Arbeitsmigrant*innen zu teilen. Rassistisches Vorurteil, kolonialistische Überheblichkeit und nationalistischer Egoismus bilden die symbiotischen Seiten einer sozialen Pathologie. Um diese in ihrer von Land zu Land unterschiedlichen Ausprägung verstehen zu können, genügt nicht die Subsumierung unter einen Allgemeinbegriff, sondern braucht man die Analyse im Einzelnen.

Eric Hobsbawm (1991, 12), britischer Historiker mit alt-österreichischem Hintergrund, erinnert zu Beginn seines 1991 in Deutsch erschienenen Buches »Nationen und Nationalismus« an »die wichtigen und unterschätzten Debatten unter den Marxisten der Zweiten Internationale über das, was sie als die ›nationale Frage‹ bezeichneten«, an der »die besten Köpfe der internationalen sozialistischen Bewegung [beteiligt waren]: Kautsky und Luxemburg, Otto Bauer und Lenin, um nur einige wenige zu nennen«. Dabei sind die historischen Situationen unterschiedlich. Die heutige Krise Europas ist auch ein Resultat des Anpassungsstresses, unter dem die Gesellschaften stehen. Das Eintreffen der aus miserablen Lebensbedingungen flüchtenden Menschen an Europas Küsten ist das Symptom eines weltweiten Umbruchs, der in unseren Ländern wie durch eine Camera obscura wahrgenommen wird. Während sich die EU mit ihren 500 Millionen Einwohner*innen bei der Integration von vier Millionen Flüchtenden überfordert zeigt, wird sich als das eigentliche Problem herausstellen, wie sich die 500 Millionen Europäer*innen nach Jahrhunderten Kolonialismus und Neokolonialismus in eine Welt integrieren werden, die bald von zehn Milliarden Menschen bewohnt sein wird, deren Lebensgrundlagen durch den Klimawandel gefährdet sind und die ihren Anteil am Wohlstand verlangen (vgl. Spehr 2018 auf LuXemburg-Online).

Die beiden Extreme in der Debatte

Rosa Luxemburgs Beantwortung der »nationalen Frage« war speziell. Der jungen sozialistischen Bewegung ihres zwischen drei reaktionären Großmächten aufgeteilten Heimatlandes Polen riet sie (1908, 263): »Die Sozialdemokratie ist deshalb aufgerufen, nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verwirklichen, sondern nur das Recht auf Selbstbestimmung der arbeitenden Klasse, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse – des Proletariats.« Wohl kann man ihre Vision einer »schließlichen Zusammenfassung der gesamten Kulturmenschheit in einer Sprache und Nationalität« (ebd., 289) als utopisch bezeichnen, nicht aber, ohne das große Verdienst, das ihr zukommt, anzuerkennen, nämlich die universell vereinigte Menschheit als jene Richtung angezeigt zu haben, in der Sozialist*innen die Zukunft denken. Derlei stieß auf Widerspruch. W.I. Lenin (1914, 425), der die nationale Frage als eine Brechstange bei der Demolierung der zaristischen Selbstherrschaft benutzen wollte, formulierte die Gegenposition, der zufolge der Kern eines sozialistischen Verständnisses der nationalen Gleichberechtigung die »Freiheit der Lostrennung, die Freiheit der Bildung eines selbstständigen Nationalstaats« sei.

Luxemburg und Lenin – sozialistischer Kosmopolitismus und unbedingtes Recht auf Staatenbildung – bildeten somit die beiden Extrempunkte einer Achse, auf der sich alle theoretischen und praktischen Versuche einer Lösung nationaler Fragestellungen bis heute eintragen. Der Österreicher Otto Bauer nahm mit seinem Konzept der »national-kulturellen Autonomie«, das die nationale Gleichberechtigung mit der Beibehaltung eines multinationalen Staats verwirklichen wollte, eine Mittelposition ein. Gegen Luxemburg wandte er ein, dass mit der ökonomischen Untersuchung »noch bei weitem nicht alles gesagt [sei], was die Wissenschaft zur polnischen Frage zu sagen hat« (Bauer 1924, 450). Zu erforschen gelte es vielmehr auch, wie durch die veränderten Produktionsbedingungen das geistige Wesen der Menschen, ihre Stimmungen, Wünsche, Ideen verändert würden.

Angesichts der Polemiken zwischen den Größen der sozialistischen Internationale gerät leicht ihre gemeinsame theoretische Basis aus dem Bild. Zum einen erkannten sie an, dass Nationen mehr als ideologische Trugbilder darstellten, dass sie Elemente der historisch gegebenen sozialen und politischen Realität waren. Außerdem folgten sie Marx und Engels darin, dem Klassenkampf gegenüber den nationalen Kämpfen den Vorrang einzuräumen. Bei Luxemburg ergibt sich dies aus der Gesamtanlage ihres Denkens, Lenin wiederum hat in Hunderten Bemerkungen und schließlich auch in der revolutionären Praxis unter Beweis gestellt, dass er dem Recht der Nationen auf Gründung unabhängiger Staaten einen lediglich instrumentellen Charakter im Machtkampf mit dem Zarismus beimaß.

Das Nationalitätenprogramm der Linken

Am komplexesten stellte sich das Verhältnis zwischen nationaler und sozialer Frage für die Austromarxisten, die mit den Worten Bauers die nationalen Gegensätze als einen »transformierten Klassenhass« betrachteten. Bauer kam es darauf an, wie Norbert Leser (1968, 254) treffend schreibt, »den nationalen Kampf wegzuräumen, um für den Klassenkampf Platz zu bekommen«. Wenn allerdings Nation nicht Schimäre war, sondern soziale Realität, konnte sich dies nicht auf Aufklärung oder Dekonstruktion von etwas Illusorischem beschränken, sondern erforderte praktische Lösungen, um das Zusammenleben der unterschiedlichen Nationen institutionell zu regeln.

Die Paradoxie der nationalen Verhältnisse in Österreich-Ungarn bestand darin, dass die Nationalitäten, deren Konflikte seit 1848 die Innenpolitik dominierten, als staatsrechtliche Subjekte gar nicht existierten. Darauf reagierten die Sozialdemokrat*innen mit zwei innovativen Ideen zur Demokratisierung des Staats. Das Personalitätsprinzip, das sie an die Stelle des Territorialprinzips setzten, sollte nationale Rechte als unabhängig vom Territorium bestehende Rechte der Person verankern. Nationale Selbstverwaltungskörper, die neben ein durch allgemeines, direktes und gleiches Wahlrecht zu bestimmendes Parlament treten würden, sollten alle in den verschiedenen Kronländern des Reiches verstreut lebenden Gemeinschaften einer Nation vertreten. Das war der Nationalitäten-Bundesstaat. Um die national-kulturelle Autonomie praktisch zu verwirklichen, sah Karl Renner (1918, 74) zudem eine Dezentralisierung vor, durch die die Macht auf die unterste Verwaltungsebene mit einer möglichst national homogenen Bevölkerung übergehen sollte.[ref]Karl Renner (1870–1950) war ein sozialdemokratischer Politiker und Jurist, neben Otto Bauer, Max Adler und Rudolf Hilferding der renommierteste Vertreter des Austromarxismus, dessen ›rechte‹ Strömung er verkörperte. Er wurde 1918 nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs Staatskanzler der Ersten Republik Österreich. 1938 befürwortete er mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich sowie die Annexion des Sudentenlandes. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde er von Stalin zum Staatskanzler der provisorischen Regierung der Zweiten Republik Österreich ernannt. [/ref]

Dieser Plan zur Rettung des übernationalen Staats wurde in dem Moment obsolet, in dem der Kaiser sich 1914 dazu entschied, den Zusammenhalt seines Reiches durch Krieg erzwingen zu wollen. Daher rang sich Bauer 1917 zur Erkenntnis durch, dass eine demokratische Lösung des Nationalitätenproblems nunmehr nur durch die Anerkennung des Rechts auf Gründung unabhängiger Staaten der bislang österreichischen Nationalitäten möglich war.[ref] Ein Aspekt der menschlichen und politischen Tragödie Bauers bestand darin, dass er, indem er das Selbstbestimmungsrecht für alle Völker der Monarchie anerkannt hatte, dasselbe für die Deutsch sprechenden Österreicher*innen nicht anders als durch einen Anschluss an Deutschland denken konnte. Dieser wurde in den Friedensverhandlungen von St. Germain durch die Alliierten, namentlich Frankreich, verhindert, allerdings 1938 in der Annexion durch Hitlerdeutschland verwirklicht. Auch bei dieser Gelegenheit blieben Bauers Stellungnahmen ambivalent. Es zählt zu den Paradoxien der politischen Geschichte Österreichs, dass die bedeutendsten Theoretiker der nationalen Frage als Parteiführer in der Anwendung ihrer Theorie auf den eigenen Staat zweimal versagt haben. [/ref] Auf dieser Grundlage verfasste er das »Nationalitätenprogramm der Linken«, das wenig später von der Partei übernommen wurde. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationalitäten durch die Sozialdemokratie, die im Deutsch sprechenden Österreich zur stärksten Partei geworden war, kam zu spät, um die Transformation Österreich-Ungarns in eine mitteleuropäische Föderation unabhängiger Staaten zu erlauben. Sie bildete aber eine Voraussetzung dafür, dass die Auflösung des Reichs sich relativ friedlich vollzog. Habsburgs späte Rache bestand allerdings darin, dass die Nationalitätenfrage auch durch die Bildung der Nationalstaaten nicht gelöst, sondern nur verlagert wurde und als Problem der Mehrheiten und Minderheiten in den jungen Staaten weiter schwelte, um sich im Flächenbrand des Zweiten Weltkriegs zu entladen.

Das alte Dilemma in neuer Gestalt

Deutlich sind heute die Konsequenzen des Versagens der Regierungen und der EU-Institutionen angesichts der kapitalistischen Krise zu erkennen. Auf politischer Ebene wurde der Versuch von Syriza, im nationalstaatlichen Rahmen eine demokratische, anti-neoliberale Alternative zu verwirklichen, unterdrückt. Damit wurde auch die Illusion, das Steuer Europas könne durch die Regierungsübernahme einer Linkspartei in einem kleinen, wirtschaftlich ausgepowerten Land herumgerissen werden, auf den harten Boden der Tatsachen, sprich: der wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse, zurückgeholt. Die neoliberalen Eliten bezahlen für die betrogenen Hoffnungen der Integration mit dem Aufstieg der nationalistischen Rechten. Die Linke zahlt für ihre Illusionen mit dem Anwachsen euroskeptischer Tendenzen. Sich zur Verteidigerin der Europäischen Union, wie sie ist, zu machen, ist unmöglich. Sie im Rahmen der Verträge und Institutionen zu verändern, scheint nicht aussichtsreich. Umgekehrt aber ist auch der Gegenvorschlag, die Bearbeitung der europäischen Probleme zu renationalisieren, das heißt wieder an jene 27 nationale Regierungen zu delegieren, die immerhin die Hauptschuldigen am Versagen der EU-Institutionen sind, nicht glaubwürdig. Was tun?

Zunächst sollten wir uns die Vielschichtigkeit der Probleme vor Augen führen, die man als national konnotiert betrachten kann:

Ein paar Schlussfolgerungen

Die erste Schlussfolgerung lautet, dass der Respekt der nationalen Souveränität nicht im Gegensatz zu einer demokratischen Integration steht, sondern ihre Voraussetzung bildet. Sozialstaat, Steuerstaat, Arbeitsrechte, Konsumentenschutz, Bildungs- und Gesundheitssysteme hängen zwar von globalen Kontexten ab, noch immer sind sie jedoch nationalstaatlich verfasst. Jeder Fortschritt in der Erhöhung europäischer Standards, jede europäische Initiative zur Schließung der Steueroasen ist begrüßenswert. Doch ist das heute nicht die Richtung, in die sich die EU bewegt. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Neoliberalismus als Grundnorm der EU verankert. Sich gegen den daraus resultierenden Umbau der Staaten mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen, die eine national verfasste Demokratie bereitstellt, ist weder antieuropäisch noch nationalistisch.

Das finanzielle Waterboarding, mit dem die griechische Regierung im Juli 2015 in die Knie gezwungen wurde, widersprach nicht nur dem Prinzip der europäischen Solidarität, sondern war zugleich ein massiver Eingriff in die nationale Souveränität eines EU-Mitgliedsstaats. Es ist nachvollziehbar, dass auch sozialistische Parteien den Exit aus Euro oder EU als eine strategische Option in Erwägung ziehen. Andere Parteien haben jedoch das Recht, für ihre Länder das Gegenteil für richtig zu halten.

Selbstbestimmung ist kein metaphysisches Abstraktum. Es ist eines, wenn Zypriot*innen, Griech*innen und Portugies*innen ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung verteidigen, und es ist ein anderes, wenn in Frankreich und Deutschland der Ruf nach nationaler Souveränität erhoben wird. Was hier ein Akt der Notwehr ist, steht dort für einen chauvinistischen Geltungsanspruch. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass dieser ausschließlich in großen Staaten auftritt, wie die nationalistischen Rechtsregierungen Mitteleuropas zeigen.

Die zweite und wichtigste Schlussfolgerung lautet, dass wir uns in den großen und kleinen Ländern jede Anleihe beim Nationalismus und Populismus verbieten müssen. So wenig, wie man einen Alkoholentzug mit einem Besuch des Münchner Oktoberfests beginnt, so wenig sollte man sich einreden, Mehrheiten für den Erhalt des solidarischen Sozialstaats durch eine Entsolidarisierung mit Flüchtenden und Migrant*innen erreichen zu können.

Realistisch betrachtet, ist der Einfluss der linken Parteien auf den Fortbestand von Euro und EU nicht sehr hoch. Wir sollten jedoch nicht denken, dass die Linke aus dem Zerfall der EU Nutzen ziehen würde. Ein plausibles Szenario scheint nicht ein dramatischer Zusammenbruch zu sein, sondern ein quälender, sich hinziehender Verfall, wie ihn Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg erlebte. Nationale Gegensätze, gelähmte Institutionen, Ineffektivität und vor allem eine blockierte Demokratisierung bilden keine Ingredienzen für einen linken Aufbruch in Europa, sondern für den Rückfall Europas in Nationalismus und Autoritarismus.

Schließlich sollten wir unsere Strategie in der Wirtschaftskrise, in deren Zentrum der Kampf gegen die Austerität stand, kritisch überprüfen. Initiativen zur Europäisierung des Konflikts wurden zwar gesetzt, erreichten aber niemals ein machtpolitisch relevantes Ausmaß. Den Höhepunkt erlebte der politische Kampf gegen die Austerität mit dem Regierungsantritt von Alexis Tsipras, der die europäische Linke weniger in der Aktion als in den hochgesteckten Erwartungen vereinigte. Tatsächlich stand Syriza der vereinigten Macht des internationalen Finanzkapitals, dem mächtigsten Staat der EU und den europäischen Mainstreammedien allein gegenüber. Keine, auch keine sozialdemokratische Regierung kam zu Hilfe, und in keinem Land gelang es, durch Druck der Linken eine Änderung dieser Politik zu erreichen.

Zwei Interpretationen von Syrizas Niederlage stehen sich nun gegenüber: die Verratsthese, deren Verfechter*innen die Illusionen weiterleben, die die Linke von Anfang an leiteten; andererseits die Einschätzung, dass bei einer Beurteilung des Kräfteverhältnisses aus heutiger Sicht das Ziel, die Troika niederzuringen, zu keinem Zeitpunkt realistisch gewesen ist und dass bei einer besseren Abwägung der Chancen und Risiken vielleicht ein günstigeres Ergebnis der Verhandlungen möglich gewesen wäre. Nimmt man dieses Argument ernst, wäre allerdings auch zu klären, wieso fast die gesamte Linke Europas einen Diskurs führte, der sich innerhalb von sechs Monaten als unrealistisch herausstellte.

Wie aber kann man sich überhaupt eine Änderung des Kräfteverhältnisses in Europa vorstellen? Unbestritten ist die Bedeutung des Kampfes im außerparlamentarischen Raum, in dem die Linke eine über ihre institutionelle Verankerung hinausgehende Macht entfalten kann. Doch wo befindet sich das Machtzentrum, das ihre Forderungen verwirklichen kann? In Brüssel, in Frankfurt oder doch in Berlin? Unbestritten ist auch, dass nach wie vor die Kräfteverhältnisse in den Staaten den Ausschlag geben und diese, akkumuliert, an einem kritischen Punkt auch auf Europa durchschlagen können. Folgt daraus aber, dass ein Durchbruch gegen den Neoliberalismus auf jenen großen Tag verschoben werden muss, an dem in genügend vielen, hinreichend großen Ländern linke Mehrheiten bestünden? Besteht also die Botschaft darin, dass bis auf Weiteres nicht mehr erreichbar ist als Varianten eines »Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz«, wie sie von den Regierungen Griechenlands und Portugals versucht werden? Ist das der Sucus der griechischen Lektion, den wir schlucken müssen?

Offensichtlich fehlt in unserer Strategie ein Bauteil, nämlich der Mechanismus, mittels dessen sich außerinstitutioneller Druck und Veränderungen nationaler Kräfteverhältnisse in europäische Politik transformieren lassen. Dieses fehlende, für eine transformatorische Strategie unentbehrliche Stück ist eine funktionierende Demokratie. Der schwerste Fehler mancher Pro-Europäer*innen besteht darin, sich die europäische Integration nicht anders als durch einen Abbau nationalstaatlicher Kompetenzen vorzustellen. Das aber ist fatal, weil die Kompetenzen, die die EU an sich zieht, nicht parlamentarischer Behandlung auf höherer Ebene unterworfen werden, sondern in einem Geflecht aus nationaler und europäischer Technokratie verschwinden, insgesamt also zu einem Abbau der Demokratie führen. Doch Integration ohne Demokratie generiert Nationalismus.

Auf europäischer Ebene erfordert Demokratie, die Macht aus Konferenzräumen, in denen Staatsoberhäupter und Minister hinter geschlossenen Türen angeblich nationale Interessen verhandeln, in ein Parlament zu verlagern, in dem Parteien vor aller Öffentlichkeit ihre gegensätzlichen Programme vorlegen und um Regierungsverantwortung konkurrieren. Das wäre ein Parlament, das in allgemeiner, direkter, geheimer und gleicher Wahl gewählt wird und ausgestattet ist mit der Kompetenz, Gesetze zu verabschieden, Budgets zu beschließen, die Geldpolitik anzuleiten und eine Exekutive zu bestimmen. Es will mir nicht einleuchten, dass wir, deren politische Großväter und Großmütter nach jahrzehntelangen Kämpfen das allgemeine Stimmrecht für die arbeitenden Klassen im Nationalstaat durchgesetzt haben, uns in Europa mit einer halben Demokratie und einem halben Parlament zufriedengeben.

Dagegen, die Debatte darüber zu eröffnen, wie eine europäische Demokratie nationale Selbstbestimmung und transnationale Demokratie miteinander verbinden kann, wird eingewendet, dass doch gerade dies die Kontroverse mit denjenigen bildet, die statt mehr weniger Europa und daher, wenn schon kein Weniger, so auch kein Mehr an Demokratie sehen wollen. Doch das Argument ist nicht stichhaltig, weil aus der Forderung nach Demokratie auch abgeleitet werden kann, dass sich die Linke jeder weiteren Kompetenzerweiterung der EU solange widersetzt, bis diese unter demokratischen Voraussetzungen verwirklicht wird. Das würde zum Beispiel die Opposition gegen die Militarisierung der Europäischen Union, in der sich die Linke einig ist, um einen wichtigen politischen Aspekt erweitern.

Warum sollten also diejenigen, die in ihrer Strategie der nationalen Orientierung einen Vorrang einräumen, in jenen, die für eine Demokratisierung der Europäischen Union kämpfen, in erster Linie ideologische Gegner*innen und nicht politische Partner*innen sehen und umgekehrt?

Literatur