- Zeitschrift LuXemburg - https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de -

Eric Hobsbawm und das 20. Jahrhundert

Von Georg Fülberth

Geschichte und Erfahrung

Eric Hobsbawm gehört zum Ausnahmetypus jener großen Historiker, die – wie Herodot, Thukydides und Tacitus – ihre eigene Zeit zur Geschichte für die Nachwelt umprägten. Selbst in den Schlusskapiteln seines Werks Das Zeitalter der Extreme (1994) schrieb er über die Gegenwart im Imperfekt, wie im Rückblick nach mehreren Jahrhunderten. Am 1. Oktober starb er in London.

In den Nachrufen reproduzierte sich eine veröffentlichte Meinung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten über ihn hergestellt hatte: ein imponierender Gelehrter mit einer politischen Passion, die zumindest in ihrer Partei-Form einer vergangenen Zeit angehöre. Dass sich das Interesse an seiner Person vor das Werk schiebt, beruht nicht nur auf einer Eigenart des Feuilletons, sondern auch auf jenem späten Buch über seine eigene Zeit. Bis dahin war er vor allem der Historiker des »Langen 19. Jahrhunderts« (1789–1914) gewesen. Über die Periode 1914–1991 aber schrieb er als teilnehmender Beobachter. In die Darstellung dieses »Kurzen 20. Jahrhunderts« gingen tatsächlich die Erfahrungen eines langen Lebens und die politischen Überzeugungen des Autors ein.1

Biografie Seine jüdischen Eltern waren nach Aussage Hobsbawms a mixture. Der Vater – dessen Familie als Handwerker mit dem Namen Obstbaum von Österreich nach Groß- britannien eingewandert war – hatte beruflich nirgends Fuß fassen können, bis er eine Verwaltungstätigkeit in Ägypten fand. Die Mutter war Tochter einer wohlhabenden Wiener Familie. Am 9. Juni 1917 kam ihr Sohn John Eric in Alexandria zur Welt. Nach dem Krieg ging die Familie nach Wien, wo das ererbte Vermögen in der Inflation zugrunde ging. Der Vater starb 1929, die Mutter 1931. Verwandte nahmen Eric Hobsbawm und seine Schwester Nancy nach Berlin. Noch in hohem Alter erinnerte er sich an die große Demonstration der KPD vor dem Karl-Liebknecht-Haus am 25. Januar 1933. Im Reichstagswahlkampf verteilte er Flugblätter für die KPD, dann ging die Familie nach London – nicht wegen rassistischer oder politischer Verfolgung, sondern aufgrund von Arbeitslosigkeit. Hobsbawm bekam ein Stipendium für das in jenen Jahren »rote« Cambridge. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens. In deren »Cambridge Student Branch« gehörte er dem dreiköpfigen Sekretariat an, »die höchste politische Position, die ich je innehatte«; und er war Mitherausgeber der Studentenzeitschrift Granta. Die gemeinsame politische Leidenschaft der Linken in Cambridge war die Unterstützung der spanischen Republik, ein Kommilitone fiel dort. Noch in Das Zeitalter der Extreme bezeichnet er diesen Kampf als das wertvollste Erbe seiner Generation.

Im Zweiten Weltkrieg diente er bei den Pionieren und lebte damit erstmals unter Arbeitern – eine von ihm als sehr positiv wahrgenommene Erfahrung. 1947 erhielt Hobsbawm eine Dozentur am Birkbeck College, einer Abendschule an der Londoner Universität. Wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei waren seine Bewerbungen an britischen Universitäten jahrzehntelang erfolglos, und er fand keinen Verlag. Unter dem Namen Francis Newton verfasste er Jazz-Kritiken für den New Statesman.

Er war Mitgründer der Historikergruppe der britischen KP und 1952 der Zeitschrift Past and Present, die ähnlich der französischen Annales-Schule einen sozial-, alltags- und strukturgesellschaftlichen Ansatz verfolgte. 1956 verließen viele seiner intellektuellen Genossen die Partei. Eric Hobsbawm blieb, obwohl er über die Enthüllungen des 20. Parteitags der KPdSU und die sowjetische Intervention in Ungarn ebenso erschüttert war wie die Ausgetretenen, mit denen er befreundet blieb. Er verwies unter anderem auf seine Erfahrungen 1931–1933 in Berlin: Wer damals angesichts des aufziehenden Faschismus in Deutschland Kommunist geworden sei, löse sich schwerer als andere. Ein weiteres Motiv sei Stolz gewesen: Niemand sollte glauben, er verlasse seine Partei wegen der Suche nach persönlichen Vorteilen. Jeder sollte sehen können, dass man trotz eines solchen »Handicaps« Erfolg haben konnte. Fortan war er kein Parteiarbeiter mehr, sondern definierte sich als Sympathisant mit KP-Ausweis. Der Blick auf die Welt änderte sich: Die Situation war nicht länger allein durch die apokalyptische Sicht der Kalten Krieges definiert. 1959 erschien sein Buch Sozialrebellen und wurde ein internationaler Erfolg. Dann veröffentlichte er in großer Stetigkeit über die Jahrzehnte hinweg (1962, 1975, 1987, 1994) seine Tetralogie über das 19. und 20. Jahrhundert: The Age of Revolution (deutsch: Europäische Revolutionen), The Age of Capital (Die Blütezeit des Kapitals), The Age of Empire (Das imperiale Zeitalter), The Age of Extremes (Das Zeitalter der Extreme). Zunehmend international anerkannt, blieb er in Großbritannien ein institutioneller Außenseiter. Erst 1971 wurde er Professor in London. Italien wurde neben Großbritannien und Paris sein dritter Lebensmittelpunkt. In den 1960er Jahren hielt er sich häufig und lange in Lateinamerika auf und war eine Art publizistischer Begleiter der modernen Nachfahren seiner Sozialrebellen des 18. und 19. Jahrhunderts. 1991 löste sich seine Partei auf. Er ist nicht ausgetreten und legte bis zu seinem Tod Wert darauf, lebenslang Kommunist gewesen zu sein.

Geschichte

Das erste Buch, die Dokumentation Labour’s Turning Point 1880–1900 (1948), ist teilweise noch organisations- und ideengeschichtlich orientiert. Dann die Sozialrebellen: Die Zumutungen des frühen Kapitalismus brachten Personen, Zusammenhänge und Banden hervor, die sich ihr eigenes Recht nahmen.

Industrie und Empire (1968) zeigt, wie der Impuls der Ersten Industriellen Revolution über zwei Jahrhunderte hin sich im gesellschaftlichen Konservativismus zu erschöpfen drohte. Anders als der Eindruck vermittelt, hat Hobsbawm eine systematische Abhandlung über das 19. und 20. Jahrhundert in vier Bänden nicht geplant. Es handele sich eher um immer neue Zufälle, ließ der Autor wissen. Einem Verleger, der eine Reihe zur Weltgeschichte herausbringen wollte, war ein Autor ausgefallen. So sei Age of Revolutions entstanden, und auch für die Folgebände hatte es der Anstöße von außen bedurft. Wer die vier Bände liest, dringt sofort unter die auf diese Weise ausgespannte Oberfläche des Understatement. Hobsbawm thematisiert die Chance, die Versprechen der Aufklärung durch die »Doppelrevolution« (die Erste Industrielle 1780ff; die Französische 1789ff) und ihre Folgen. Am deutlichsten ist dieses Motiv im Eingangsband (1962). Später verdunkelt sich die Perspektive, vielleicht auch mitbedingt durch Hobsbawms zeitgeschichtliche Erfahrungen.

Der dritte Band endet mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Die Ursache sieht der Autor nicht in einer deutschen Alleinschuld, sondern im auf Grenzenlosigkeit angelegten Imperialismus. Damit treibt er Marx’ Befunde zur konstitutiven Unersättlichkeit der Akkumulation über die Ökonomie hinaus. Der Faschismus ist ihm kein Produkt des Monopolkapitals: Dieses könne sich prinzipiell in jedem politischen Regime durchsetzen. Daniel Goldhagens Thesen lehnte er als handwerklich völlig ungesichert ab. Gefragt, weshalb diese in Deutschland so stark diskutiert worden seien, antwortete er: Hier werde man eben nicht mit dem fertig, was man 1933–1945 angerichtet habe, und vielleicht sei das ja gut so. Der vierte Band endet mit dem Wort: »Finsternis«. Er ist als Triptychon angelegt, und die Kennzeichnungen, die er den einzelnen Teilen gegeben hat – »Zeitalter der Katastrophen«, »Das Goldene Zeitalter«, »Erdrutsch« – sind mittlerweile klassisch geworden. Von Dauer wird auf jeden Fall die Entdeckung der sozialen und der kulturellen Revolution im entwickelten Kapitalismus nach 1945 bleiben: Steigt in ersterer die Intelligenz zur Massenschicht auf (während die Bauern durch die Urbanisierung weitgehend verschwinden), ist letztere gekennzeichnet durch den Sieg des Individualismus und das Adaptieren moderner Formen der Volkskultur durch das Bürgertum. Die Offensive des Feminismus war für ihn eine soziale wie eine kulturelle innerkapitalistische Revolution.

Hobsbawm wurde vorgehalten, er zeichne das 19. Jahrhundert zu hell (und den »Erdrutsch« nach 1973 zu dunkel). Die Massaker der Junischlacht 1848 in Paris und nach der Niederwerfung der Kommune 1871 sowie in den Kolonien kommen durchaus vor, bestimmen aber nicht das Bild. Auschwitz und der Stalinismus erfahren keine zusätzliche Hervorhebung innerhalb der allgemeinen Katastrophe 1914–1945. Die Dialektik der Aufklärung wird aber auf anderem Feld historisch konkretisiert: Der Nationalismus mit seiner »Erfindung der Tradition« wird zum Schatten des Fortschritts.

Mit den drei Revolutionen 1780ff, 1789ff, 1917ff hat Hobsbawm Maß an der Moderne genommen. Es bestimmt auch seine Stellung zu dem, was danach kam. 1968: Neugierig von ihm studiert und leicht amüsiert als zu leicht befunden. Im extremen Individualismus von Teilen der Intellektuellenbewegung sah er eine Anschlussstelle für den Neoliberalismus. Die Iranische Revolution – auch sie von Eric Hobsbawm mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen – war für ihn die Negation der Aufklärung. Mit den Bewegungen gegen Atomkraftwerke konnte er nichts anfangen, er vermutete ein technik- und zivilisationsgegnerisches Moment in ihnen.

Methode und Stil Eric Hobsbawm hat keine Schule begründet, und er war kein Archivhistoriker. In den Anfangsjahren am Birkbeck College nervte er seine Kollegen zuweilen mit der Frage, was sie in ihren Akten denn über Anthropologie, Ethnologie und Mentalität gefunden hätten. Im internationalen Kontext ordnete er sich selbst in die Richtung der Strukturgeschichte ein und untertrieb damit wieder einmal: Seinen Kollegen auf diesem Gebiet – etwa in Deutschland – fehlt die große Breite der Kulturgeschichte, in der er sich in britischer und französischer Tradition bewegte.

Sobald er ein Buch konzipiert hatte, zog er sich zurück und schrieb es erst einmal ohne großen Apparat nieder. Erst danach verifizierte und änderte er es anhand von gedruckten Quellen und von Sekundärliteratur. Er war ein Meister in der Nutzung von Statistiken, die er nicht als Tabellen und Grafiken reproduzierte, sondern aus denen er charakteristische Einzelheiten hervorhob. Ein Beispiel: 1965 sei das erste Jahr gewesen, in dem in Frankreich mehr Damenhosen als -röcke verkauft wurden.

Eine Quelle ganz eigener Art war der persönliche Augenschein, insbesondere auf seinen Reisen. Wenn er nach dreißigjähriger Unterbrechung wieder nach Wien, Berlin, Valencia kam, erzählte ihm das mittlerweile veränderte oder unveränderte Aussehen dieser Städte ihre Geschichte der Zwischenzeit.

Nicht erst seit seinem letzten Buch How to Change the World: Tales of Marx and Marxism (2011) weiß man, wie sehr er Gramsci schätzte. Aber in seine Arbeiten hat er dessen Schlüsselbegriffe, die in das Vokabular eines Teils der sozialwissenschaftlichen Linken eingewandert sind (Hegemonie, Zivilgesellschaft), nicht übernommen. Seine literaturkritischen und -historischen Arbeiten sind Preziosen: Wenn er über Nestroy, Sean O’Casey oder Karl Kraus schrieb, wandte er auf Texte eine ähnliche Form der Strukturanalyse an wie für ganze Gesellschaften. Über ihn ist immer noch nicht genug gesagt, wenn man übersieht, dass er durch Komposition und Sprache die Geschichtsschreibung wieder zu einer Kunstform gemacht hat: große Literatur. Die Griechen rechneten Klio unter die Musen. Diese Ansicht hat sich in der Vergangenheit immerhin bis mindestens 1902 gehalten, als Theodor Mommsen den Nobelpreis für Literatur erhielt.

Politik

Hobsbawm, der politische Beobachter, war zugleich ein operativ intervenierender Intellektueller. Fotos von 1961 zeigen ihn in einer Sitzblockade gegen Atomrüstung auf dem Trafalgar Square, eingekeilt zwischen Polizisten. Er protestierte gegen Fehlverhalten der UdSSR und gegen die deutschen Berufsverbote. Ein einziges Mal, so erzählte Hobsbawm selbstironisch, habe er tatsächlich unmittelbare politische Wirkung erzielt. 1978 hatte er einen Aufsatz The Forward March of Labour Halted? (Den Vormarsch von Labour gestoppt?) publiziert. Hier wandte er sich gegen eine Selbstgenügsamkeit der Gewerkschaften und eine auf die traditionelle Arbeiterklasse beschränkte Strategie, die seiner Meinung nach in die Isolation zu führen drohten. Neil Kinnock, Parteivorsitzender der Labour Party 1983–1992, benutzte diese Argumentation ab 1982, als er die Gruppe um die Zeitschrift Militant (sie galt als trotzkistisch) aus seiner Partei drängte.

Am Ende kam – nach Hobsbawms spöttischer Charakterisierung – Thatcher in Hosen: Blair, der es ablehnte, sich von ihm für den Guardian interviewen zu lassen. Dieses melancholische Resultat mag Eric Hobsbawm in seiner Ansicht bestärkt haben, dass er ansonsten gut daran tat, sich auf die Rolle des teilnehmenden Beobachters zu beschränken. Dass sein Freund E.P. Thompson die Forschung gegen den Tageskampf vertauschte, hat er bedauert. Und er war frei von dem Kummer Isaac Deutschers darüber, dass dieser sich auf Geschichtsschreibung beschränken musste, weil ihm aktive Politik seit der Zerschlagung der polnischen KP durch Stalin in den 1930er Jahren versagt war.

Dass er Brite und Jude war, war für ihn kontingent, aber nicht belanglos. Die Gründung eines jüdischen Nationalstaats hielt er für einen Anachronismus. Als er 2009 die Gaza-Intervention kritisierte, bemerkte er, alles, was im Nahen Osten geschehe, betreffe auch die Juden außerhalb.

Die Klarheit seiner Einsichten in die Vergangenheit mag Eric Hobsbawms Leserinnen und Leser veranlassen, bei ihm auch nach Auskunft über künftige Entwicklungen zu suchen. Doch hier blieb er spröde. Der Historiker, so sagte er 1996 in einem Vortrag, könne erst wetten, wenn er wisse, welches Pferd gewonnen habe. Für die Entwicklung von Perspektiven hielt er nur zweierlei bereit: Erstens die Werte der Aufklärung – die Vernunft und die Vervollkommnung des Menschen – sowie zweitens die Methode des historischen Materialismus, die es ermögliche, Bedingungen und Hindernisse auf dem Weg zu deren Realisierung zu analysieren. Darüber ist Eric Hobsbawm nicht hinausgegangen, auch nicht in seinem letzten Buch How to change the World, einer Sammlung von – teils älteren – Aufsätzen zu Geschichte und Aktualität des Marxismus.

In einem Interview äußerte er 2009 die Befürchtung, bei der Neuordnung der kapitalistischen Welt werde viel Blut fließen. Die Hoffnung, er habe sich darin geirrt, wird er gewiss mit denen, die er nun als Überlebende zurücklässt, geteilt haben.

 

Literatur

Hobsbawm, Eric, 1978: The Forward March of Labour Halted?, in: Marxism Today, Sept., 279–286, www. amielandmelburn.org [1].uk/collections/mt/pdf/78_09_hobsbawm.pdf
Ders., 1994: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München
Ders., 2002: Interesting Times. A Twentieth-Century Life, London; dt.: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München, 2003
Ders., 2011: How to Change the World: Tales of Marx and Marxism, London, dt.: Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, München, 2012

Anmerkungen

1 Seine Lebenserinnerungen veröffentlichte Hobsbawm unter dem Titel Interesting Times (2002), was für ihn kennzeichnender ist als Gefährliche Zeiten (2003), wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Weitere Quellen sind zahlreiche autobiographische Interviews, darunter ein ganz besonderes: ein Gespräch mit Sue Lawley in der BBC-Reihe »Desert Island Dics« (1995), www.bbc.co.uk/podcasts/series/dida91/ all#playepisode76