| Ende des europäischen Sozialmodells. Zur Zerstörung von Arbeits- und Sozialrechten

Februar 2013  Druckansicht
Von Christoph Herrmann

Zerstörung von Arbeits- und Sozialrechten

Die Krise hat den neoliberalen Umbau der Sozialund Beschäftigungssysteme in Europa weiter vorangetrieben. Trotz zum Teil beeindruckender Proteste haben es Gewerkschaften und andere progressive Kräfte nicht geschafft, alternative Bearbeitungen der Krise durchzusetzen. Ein Resümee der verheerenden Maßnahmen liest sich folgendermaßen:

Das Öffentliche wird ausgetrocknet: Bis 2014 sollen in Griechenland 150000 Arbeitsplätze gestrichen werden. Auch in Spanien wird in den nächsten Jahren voraussichtlich nur einer von zehn Jobs im öffentlichen Dienst ersetzt – in Rumänien einer von sieben und in Italien einer von fünf. In Großbritannien sind es im gleichen Zeitraum fast eine halbe Million Jobs, die im öffentlichen Sektor abgebaut werden. Was als »Redimensionierung« aufgeblasener Staatsapparate verkauft wird, betrifft in Wahrheit vor allem die Bereiche Gesundheit und Bildung.

Löhne im freien Fall: In Griechenland sind (noch vor dem letzten Sparpaket) die Gehälter im öffentlichen Dienst seit Beginn der Krise um 33 Prozent gefallen. Massive Lohneinbußen gab es auch in Portugal, Rumänien und Lettland. Doch auch die Privatwirtschaft spart an Löhnen und Gehältern. In Griechenland und Irland wurden die Mindestlöhne um 22 beziehungsweise 12 Prozent gesenkt. Die Situation verschärft sich dadurch, dass die Inflationsanpassung ausgesetzt und Überstundenzulagen gekürzt wurden. In Portugal sind die Reallöhne dadurch seit Beginn der Krise um mehr als zehn Prozent gefallen.

Arbeitszeiten – flexibel und entgrenzt: Auch hinsichtlich der Arbeitszeit ist der öffentliche Sektor besonders betroffen. In Griechenland und Spanien wurde die Arbeitswoche verlängert, in Portugal ist dies in der Diskussion, während gleichzeitig der bezahlte Urlaub gekürzt wird. Eine solche allgemeine Verlängerung der Arbeitszeit ist im Euro-Raum noch die Ausnahme, aber in vielen Ländern wurden Arbeitszeiten stark flexibilisiert.

Angriff auf Arbeitsrechte: In einer Reihe von Ländern zählte zu den Strukturmaßnahmen auch ein Abbau von Arbeitsrechten. Atypische und prekäre Beschäftigungsformen wurden ebenso ausgebaut wie befristete Beschäftigung und Zeitarbeit. Griechenland und Spanien führten neuartige Arbeitsverträge ein, die weniger Beschäftigungssicherheit bieten und schlechtere Bezahlung erlauben. In manchen Ländern wurden auch Probezeiten verlängert oder der Kündigungsschutz aufgeweicht. Und nicht zuletzt gab es Eingriffe in und die Aussetzung von Streik- und Demonstrationsrechten (z.B. in Griechenland, letzteres aber auch in Deutschland).

Tarifverträge unter Beschuss: Besonders dramatisch sind die Eingriffe in die Tarifvertragssysteme. Verhandlungssysteme wurden dezentralisiert und nationale Tarifverträge abgeschafft. Gleiches gilt auch für das Günstigkeitsprinzip – es besagt, dass in Zweifelsfällen die Regelungen mit den jeweils günstigsten Bedingungen für die Beschäftigten zu gelten haben. Außerdem wurden Ausnahmen und Abweichungen von überbetrieblichen Standards zugelassen, alternative und betriebliche Vertretungsformen auf Kosten der Gewerkschaften eingeführt und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen ausgesetzt. In manchen Fällen wurde die Vertragsdauer des geltenden Tarifvertrages beschränkt und zumindest in einem Fall sogar ausgesetzt.

Rente am Abgrund: Die Krise hat in allen untersuchten Ländern zu Veränderungen in den Rentensystemen geführt. In vielen Ländern wurde das Rentenalter hinaufgesetzt. In Griechenland, Portugal und Ungarn kam es zu massiven Rentenkürzungen – in Griechenland fielen zwei der jährlich 14 Zahlungen weg. In fünf Ländern wurden die Renten vorübergehend eingefroren, in einigen wurden zusätzlich die Beitrags- und Berechnungszeiträume verlängert. Auch der Zugang zu Früh- und Invalidenpensionen ist nun erschwert. Irland hat außerdem die Beitragssätze für Beschäftigte im öffentlichen Dienst erhöht.

Die EU-Wirtschaftsregierung – ein neuer Autoritarismus? Die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) spielte bei der Durchsetzung der oben beschriebenen Maßnahmen eine zentrale Rolle. In jenen Ländern, die sich nicht unter dem EuroRettungsschirm befinden, übten der IWF, die EZB und die amerikanischen Ratingagenturen massiven Druck aus. In vielen Ländern wurden die Strukturmaßnahmen gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt – in Estland und Ungarn etwa griff die Regierung zu Notverordnungen.

Diese Strukturreformen könnten der Anfang eines umfassenden sozialen Umbaus in Europa sein. In der Krise wurde eine Reform des Wachstums- und Stabilitätspaktes beschlossen. Mit dem Verfahren zur Vermeidung von übermäßigen wirtschaftlichen Ungleichgewichten enthält er nur einen Mechanismus, mit dem die EU in Zukunft direkten Einfluss auf die nationalen Sozial- und Beschäftigungssysteme nehmen kann. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu erhöhen, um damit die Ungleichgewichte abzubauen (Klatzer/Schlager 2011). Der Mechanismus ist an das Verfahren zur Vermeidung übermäßiger Haushaltsdefizite angelehnt. Auch hier gibt es einen bestimmten Spielraum, in dem sich die Mitgliedsländer bewegen dürfen. Dieser wird durch ein Scoreboard mit verschiedenen wirtschaftspolitischen Indikatoren festgelegt. Weicht ein Land von den darin festgelegten Grenzwerten ab, kann die Kommission ein Verfahren eröffnen und unter Androhung von Strafe Maßnahmen zur Korrektur der Ungleichgewichte erzwingen. Bei den Korrekturen denkt die Kommission genau an jene Maßnahmen, die auch im Zuge der Kürzungspakete zur Anwendung gekommen sind (Hermann/Hinrichs 2012).

Strukturelle Selektivität

Der autoritäre Charakter und die Demokratiedefizite der Europäischen Union befestigen die Kontinuität neoliberaler Politik in Europa. Die strukturelle Selektivität der Europäischen Kommission stellt sicher, dass bestimmte Ideen und Lösungsvorschläge, die beispielsweise auf eine gerechtere Verteilung der Kosten der Krise hinauslaufen würden, gar nicht erst in Erwägung gezogen werden. Die Kommission kann entgegen jeder empirischen Evidenz behaupten, dass ihre Austeritätspolitik Wachstum fördere (vgl. Olli Rehn in der Financial Times, 11.12.2012). Natürlich gibt es ähnliche Selektionsmechanismen auch in den Mitgliedsländern. Brüssel stellt jedoch insofern einen Sonderfall dar, als hier niemand die Folgen der Politik bei Wahlen verantworten muss. Fast überall sonst, wo über diese Politik abgestimmt wurde, wurde sie abgewählt. Es gibt keine öffentliche Diskussion darüber, welchen Standpunkt der Repräsentant der Kommission in der Troika vertreten soll. Ironischerweise verlangen die Vertreter der Kommission und der EZB härtere Maßnahmen von den betroffenen Regierungen als der Vertreter des IWF.

Wir wissen, dass die Interessen der Beschäftigten und der Gewerkschaften beim Selektionsprozess in Brüssel fast immer auf der Strecke bleiben. Deshalb müssen die Gewerkschaften beginnen, sich Gedanken über Alternativen zu machen. Dazu gehört auch der Aufbau von europäischen Gewerkschaftsstrukturen und Kommunikationsprozessen, die nicht von der Finanzierung der Kommission abhängen.

Ein zweites Hindernis für eine Abkehr vom Neoliberalismus und für eine alternative Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in Europa ist die Nähe der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie (Wahl 2012). Vor allem in den nordeuropäischen Ländern gibt es nach wie vor starke personelle und finanzielle Bindungen zwischen Gewerkschaftsfunktionären und sozialdemokratischen Parteien. Diese Bindung führt dazu, dass Maßnahmen mitgetragen oder zumindest nicht öffentlich angegriffen werden, die sich gegen die Interessen der Beschäftigten richten (z.B. die verfassungsrechtliche Verankerung einer »Schuldenbremse«).

Eine dritte grundlegende Schwierigkeit für den Kampf für ein soziales Europa ist – angesichts der sehr unterschiedlichen Bedingungen – der Mangel an grenzüberschreitender Solidarität. Zwar hat die Krise gezeigt, dass es Gewerkschaften und soziale Bewegungen in Europa immer noch schaffen, viele tausende Menschen auf die Straße zu bringen, um gegen die neoliberale Politik und ihre Folgen zu demonstrieren. Gleichzeitig hatten die Proteste durchweg nationalen Charakter. Eine Ausnahme waren die gemeinsamen Proteste gegen die Kürzungspolitik am 14. November 2012. Während jedoch die Gewerkschaften in Portugal, Spanien und Griechenland einen guten Teil des öffentlichen Lebens lahmlegten, war in Deutschland von den Protesten kaum etwas zu spüren. Dies lag weniger an der schwachen Protestkultur hierzulande als daran, dass die deutschen Gewerkschaften effektiv in den Krisenkorporatismus der Bundesregierung eingebunden waren und es jetzt nicht schaffen, ihre Mitglieder von der Notwendigkeit von Solidaritätskundgebungen zu überzeugen (vgl. Bierbaum in diesem Heft).

Ein weiterer Grund für die Schwäche der europäischen Gewerkschaften und der europäischen Linken liegt darin, dass sie keine Vorstellung davon entwickeln, wie ein »postneoliberales« Europa aussehen sollte. Die Idee eines europäischen Sozialmodells mit hohen und vergleichbaren Sozial- und Beschäftigungsstandards in den Mitgliedsländern hat sich als Chimäre erwiesen. Bezeichnenderweise verkündete der neue Präsident der EZB, Mario Draghi, mitten in der Krise, dass das europäische Sozialmodell ausgedient habe (Wall Street Journal, 28.2.2012).

 

Literatur

Hermann, Christoph, und Klaus Hinrichs, 2012: Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf Sozialstaaten und Arbeitsbeziehungen – ein europäischer Rundblick, Arbeiterkammer Wien, www.arbeiterkammer.at/bilder/d184/ Forba-Studie_Finanzkrise_2012_neu.pdf
Klatzer, Elisabeth, und Christa Schlager, 2011: Europäische Wirtschaftsregierung: Eine stille neoliberale Revolution, in: Kurswechsel 1/2011, 61–81
Wahl, Asbjørn, 2012: Verteidigung der europäischen Wohlfahrtsstaaten? Strategien für Bewegungen, Gewerkschaften und linke Parteien, in: LuXemburg 2/2012, 84–95