| Empire – zwanzig Jahre später

Mai 2020  Druckansicht
Von Michael Hardt und Antonio Negri

Vor zwanzig Jahren, als unser Buch Empire in erster Auflage erschien, standen die ökonomischen und kulturellen Prozesse der Globalisierung im Rampenlicht: Vor aller Augen war eine Art neue Weltordnung im Entstehen begriffen. […]

Es ist wahr, die Weltordnung mitsamt ihren globalen Kommandostrukturen steckt überall in der Krise, aber paradoxerweise verhindern die vielfältigen Krisen der Gegenwart nicht die Herrschaft und den Fortbestand dieser globalen Strukturen. Die sich entfaltende Weltordnung funktioniert, wie das Kapital selbst, durch die Krise hindurch und speist sich sogar daraus. Und in vielerlei Hinsicht funktioniert sie nur dadurch, dass sie gestört wird.[1] Die Tatsache, dass die Globalisierungsprozesse heute weniger einfach zu entziffern sind, macht es umso wichtiger, die Tendenzen der vergangenen zwanzig Jahre zu untersuchen. […]

Das Empire in seiner heutigen Gestalt hat sich als Antwort auf die Kämpfe und Insurrektionen von Multitudes herausgebildet, und genau so kann es auch durch sie zu Fall kommen, sofern es jenen Multitudes gelingt, ihre Kräfte tatsächlich zu einer Gegenmacht zusammenzusetzen und den Weg zu einer anderen Form der Organisation von Gesellschaft aufzuzeigen. Die sozialen und politischen Bewegungen der Gegenwart weisen in vielerlei Hinsicht bereits in diese Richtung.

Eine Welt aus den Fugen

Die fortdauernden Krisen des Empire spielen sich, bildlich gesprochen, in zwei ineinandergreifenden Sphären ab – der Sphäre gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, die sich in weltumspannenden Netzwerken organisiert, sowie der Sphäre einer globalen Governance und ihrer Verfasstheit –, und beide Sphären geraten zunehmend aus dem Takt. Die innere Sphäre, der weltumspannende Bereich der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, besteht aus immer komplexer strukturierten, engmaschig vernetzten Kommunikationskanälen, materieller wie auch immaterieller Infrastruktur, Transportwegen zu Land, zu Wasser und in der Luft, transozeanischen Kabelverbindungen und Satellitensystemen, sozialen und Finanz-Netzwerken sowie vielfältigen, sich überschneidenden und ineinander verschränkten Formen der Interaktion von Ökosystemen, Menschen und anderen Spezies. Überkommene Formen lokalisierter Produktion in der Ökonomie wie etwa die Landwirtschaft oder der Abbau von Rohstoffen bestehen innerhalb dieser weltumspannenden Sphäre fort, werden jedoch nach und nach von den interkontinentalen Kreisläufen absorbiert, dynamisiert und in vielen Fällen in ihrem Fortbestand bedroht. […]

Diese Sphäre der sozialen Produktion und Reproduktion umgibt und umschließt eine zweite, in der Strukturen auf verschiedenen politischen und rechtlichen Ebenen ineinandergreifen: Nationalstaaten und deren Regierungen, internationale Rechtsabkommen, supranationale Institutionen, Unternehmensnetzwerke, Sonderwirtschaftszonen und einige mehr. Sie bilden keinen globalen Staat. Gleichwohl verblassen die Prätentionen nationaler Souveränität, und stattdessen entstehen zunehmend transnationale Regime von Governance. Die einander überlagernden Strukturen bilden eine gemischte Konstitution, die wir später noch genauer analysieren werden. Überall in dieser äußeren Sphäre sind es in erster Linie Besitzende und Machthaber der anderen, darin eingeschlossenen Sphäre, die alle Fäden fest in der Hand halten: Industriekapitäne, Finanzbarone, politische Eliten und Medienmagnaten.

Mit dem Fortschreiten der neoliberalen Konterrevolution sind beide Sphären zunehmend aus dem Takt geraten. […]

Das Schicksal der US-amerikanischen Hegemonie

Wenn beide Sphären zunehmend aus den Fugen geraten, so ist dies freilich nur ein Teil der Geschichte. […]

Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen auf vielfältige und bisweilen ganz neue Art die Reichweite nationaler Souveränität hinter sich ließen, verkündete der Präsident der Vereinigten Staaten das Heraufziehen einer neuen Weltordnung. […]

Aus heutiger Sicht ist offensichtlich, dass die unilaterale Macht der Vereinigten Staaten immer schon begrenzt und die imperialistischen Ambitionen Washingtons aussichtslos waren. Einen solchen Imperialismus durchkreuzten dabei weder eine aufgeklärte Tugendhaftigkeit der politischen Führung, noch eine dem amerikanischen Wesen anhaftende republikanische Rechtschaffenheit, sondern einfach die Unzulänglichkeiten der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Stärke. Die USA konnten zwar die Regime der Taliban und der Baath-Partei stürzen (und tatsächlich eine Tragödie der Zerstörung anrichten), aber sie konnten keine stabile Hegemonie herstellen, wie sie eine wahre imperialistische Macht auszeichnen würde. Nun, nach zwei Jahrzehnten des Scheiterns in Afghanistan und im Irak im »Krieg gegen den Terror«, gibt es nur noch wenige, die an die Vorteile eines globalen Systems unter Führung der USA glauben oder deren Fähigkeit, eine stabile Ordnung zu schaffen, Vertrauen entgegenbringen können […]. Doch auch wenn sich seit der Wahl von Donald Trump zahlreiche Kommentare händeringend mit dem Problem beschäftigen, ob die liberale internationale Ordnung überleben kann, waren die Pax Americana und der Moment, da die USA einseitig eine globale institutionelle Ordnung verankern konnten, in Wahrheit längst Vergangenheit, als Trump auf die Bühne polterte. […]

Die neue Situation trifft freilich nicht nur für die Vereinigten Staaten zu: Kein Nationalstaat ist heute in der Lage, unilateral eine globale Ordnung zu organisieren und zu lenken. Wird der Niedergang der globalen Hegemonie der USA diagnostiziert – Giovanni Arrighi unternahm dies einsichtsvoll als einer der ersten –, so wird gewöhnlich nahegelegt, ein anderer Staat werde als Nachfolger die hegemoniale Rolle übernehmen: So wie das Amt des globalen Hegemonen im frühen 20. Jahrhundert von Großbritannien auf die USA überging, so das Argument, müsse auch heute, da der Stern der USA sich neigt, der eines anderen Staates aufgehen, und China gilt dabei als Hauptkandidat.[2] Im Gegensatz zu einer solchen Vorstellung halten dem politischen Establishment nahestehende Liberale an der Überzeugung fest, trotz der von Trump angerichteten internationalen Unordnung leuchte der Stern der Vereinigten Staaten immer noch hoch oben am Firmament, und die Rede vom relativen Niedergang amerikanischer militärischer, wirtschaftlicher und politischer Macht sei entsprechend übertrieben. In einer solchen Perspektive blieben die USA die einzige Anwärterin auf eine globale Vormachtstellung. […] An diesen Argumenten ist etwas Wahres; der wichtigere Punkt aber ist, dass die Rolle der USA, wie auch die aufstrebender Mächte wie China, nicht im Sinne einer unipolaren Hegemonie verstanden werden darf, sondern stattdessen als Moment eines erbitterten Ringens zwischen Nationalstaaten auf allen Ebenen der gemischten Konstitution des Empire. Denn wenn heute kein Nationalstaat in der Lage ist, in der sich entfaltenden Weltordnung die Rolle des Hegemonen auszufüllen, so ist dies kein Symptom von Chaos und Unordnung, sondern offenbart die Herausbildung einer neuen globalen Machtstruktur – und tatsächlich einer neuen Form von Souveränität.

Die gemischte Konstitution des Empire

Als Polybius im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von Griechenland nach Rom kam, fand er im Kernland des Imperium Romanum eine neuartige Machtstruktur vor. Die philosophische Tradition – vor allem Herodot und Platon – hatte bis dahin drei grundlegende, geometrisch gegeneinander abgegrenzte Regierungsformen unterschieden: die Herrschaft eines einzelnen, die Monarchie, die Herrschaft von wenigen, die Aristokratie, und schließlich die Herrschaft der vielen, die Demokratie (und ferner deren jeweilige negative Spielarten: die Tyrannei, die Oligarchie und die Ochlokratie). Die alten Denker hatten die relativen Vorzüge einer jeder Verfassungsordnung analysiert und die politische Geschichte im Sinne eines Übergangs von der einen zur anderen verstanden. Polybius zufolge bestand nun die Neuartigkeit Roms darin, dass das Imperium eine gemischte Konstitution aufwies: Diese beruhte nicht auf einem Wechsel der Regierungsformen, sondern fügte alle drei zusammen.[3]

Vor zwanzig Jahren nannten wir die gegenwärtige, sich entfaltende Ordnung »Empire«, um auf die neue gemischte Konstitution globaler Governance hinzuweisen. Das Empire ist weder ein globaler Staat, noch schafft es eine einheitliche und zentralisierte Herrschaftsstruktur.[4] Denn auch wenn die konventionellen Konzepte, mit denen bislang globale Spaltungslinien gefasst wurden – Erste und Dritte Welt, Zentrum und Peripherie, Ost und West, Nord und Süd –, viel von ihrer Erklärungskraft verloren haben, ist die heutige Globalisierung kein einfacher Homogenisierungsprozess; sie impliziert vielmehr Prozesse der Homogenisierung und der Heterogenisierung gleichermaßen. Die Herausbildung des Empire schafft nicht einen einzigen glatten Raum, sondern geht mit einer Vervielfachung von Grenzen und Hierarchien auf allen geographisch-politischen Ebenen einher, vom metropolitanen Raum einzelner Städte bis zum kontinentalen Raum der Erdteile.

An dieser Stelle können wir freilich nur einige der dramatischsten Verschiebungen skizzieren, die in den vergangenen zwanzig Jahren die Konstitution des Empire veränderten. So ist auf der monarchischen Ebene die auffälligste Entwicklung die Erosion des Zentrums. In den 1990er Jahren nahmen die Vereinigten Staaten, obwohl ihr Stern verblasst war, immer noch zentrale Positionen in Schlüsselbereichen der Macht ein. Es waren Bombe, Dollar und Netz, Washington, Wall Street und Hollywood/Silicon Valley, welche die USA in die Lage versetzten, eine monarchische Macht auszuüben und in jenen Schlüsselbereichen so etwas wie die »Herrschaft eines Einzelnen« zu behaupten. Eine Überlegenheit der Vereinigten Staaten, sowohl hinsichtlich ihrer hard als auch ihrer soft power, besteht auch heute noch, allerdings auf einem zunehmend instabilen Fundament und in immer engeren Grenzen. Da ist erstens das beachtliche militärische Arsenal der USA – mit Nuklearwaffen, Drohnen, Überwachungssystemen und anderer hoch entwickelter Technologie sowie Militärstützpunkten und einer gewaltigen Truppenstärke –, das nach wie vor dem anderer Staaten deutlich überlegen ist (auch im Hinblick auf das Budget). Allerdings haben bereits die Niederlage der US-Streitkräfte in Vietnam und schließlich ihr Versagen in Afghanistan und im Irak deutlich gemacht, dass das monarchische Potenzial der US-Militärmaschine, ungeachtet ihrer ständig wachsenden Zerstörungskraft, schwächer geworden ist.

Zweitens wurde die »Monarchie des Dollars«, die finanzpolitische und monetäre Hegemonie der USA, die vor zwanzig Jahren noch robust erschien, zunehmend geschwächt. Wie bei der militärischen Macht stand auch in diesem Bereich der Thron bereits auf einem instabilen Fundament. Gründe hierfür lassen sich wenigstens bis zur Abkoppelung des Dollars vom Goldstandard im Jahr 1971 zurückverfolgen. Timothy Geithner zufolge hat das Finanz- und Währungssystem der USA dann seit den 1990er Jahren »der Schwerkraft getrotzt«.[5] Auf welch wackeligen Füßen die US-Währungs- und Finanzmacht tatsächlich steht, bestätigte schließlich die Finanzkrise von 2008, die einmal mehr die Frage aufwarf, ob die USA noch eine monarchische Rolle auszufüllen imstande sind.[6]

Schließlich hat die monarchische Position der USA auch im Bereich der Kulturindustrie und der Digitaltechnologien abgenommen. US-amerikanische Unternehmen dominieren zwar immer noch auf den Weltmärkten, doch immer weniger im Sinne einer soft power, auf die gestützt die USA ihre globale Hegemonie ausüben könnten. Auch wenn diese Unternehmen ihren Sitz in den Vereinigten Staaten haben, operieren sie zunehmend im globalen Maßstab, und ihr Beitrag zum Bild Amerikas in der Welt bleibt widersprüchlich. Auf allen drei Gebieten dominieren die USA also weiterhin gegenüber anderen Nationalstaaten, die Pfeiler ihrer monarchischen Macht stehen noch, doch sie zeigen immer deutlicher Risse. Das soll jedoch nicht heißen, irgendein Thronprätendent könnte die Krone einfordern; stattdessen wächst auf der monarchischen Ebene eine relative Leere.

Auf der aristokratischen Ebene des Empire gibt es indes stürmische Herausforderungen, Mächte steigen auf und gehen nieder. Die »Herrschaft von Wenigen« wird im globalen System in drei entscheidenden Bereichen ausgeübt, durch große Konzerne, durch dominante Nationalstaaten und durch supranationale Institutionen. Ein intensiver Wettbewerb kennzeichnet die Beziehungen zwischen den Akteuren in jedem dieser Bereiche, aber auch übergreifend: beispielsweise das Ringen zwischen Konzernen und Nationalstaaten oder das zwischen Nationalstaaten und supranationalen Institutionen. Innerhalb der globalen Hierarchien in jedem Bereich haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren Positionen verschoben. Während das wirtschaftliche Potenzial Chinas stark zugenommen hat, ist das der anderen BRICS-Staaten, die kurz davor schienen gleichzuziehen, ins Stocken geraten – zumindest für den Augenblick. Bei den Spitzenwerten am Aktienmarkt wurden General Motors und General Electric von Apple und Alibaba abgelöst. Doch auch wenn solche Wettbewerbstrends äußerst wichtig sind und eine detailliertere Analyse verdienen, geht es uns hier vor allem darum festzuhalten, dass die verschiedenen aristokratischen Kräfte trotz der Missklänge, die aus ihren Konflikten entstehen, tatsächlich nach der gleichen Partitur spielen. Sie sind, um ein anderes Bild zu verwenden, wie Ritter, die sich trotz all der zwischen ihnen ausgetragenen Händel in den Dienst der gesellschaftlichen Ordnung stellen und einem entsprechenden gemeinsamen Kodex folgen.

Entscheidend auf dieser aristokratischen Ebene des Empire ist, inwieweit ihre Konturen entgegen allem Anschein im Großen und Ganzen unverändert bleiben. So gesehen wäre die viel beschworene Rückkehr des Nationalstaates – einschließlich einer nationalistischen Rhetorik, der Drohung mit Handelskriegen und protektionistischer Politik – nicht als ein Brüchigwerden des globalen Systems zu verstehen, sondern vielmehr als eine Reihe taktischer Manöver im Wettstreit aristokratischer Mächte. »America first!«, »Prima l’Italia!» oder »Brexit!« sind die jämmerlichen Parolen derer, die befürchten, aus privilegierten Positionen im globalen System verdrängt zu werden. Die heutigen Nationalisten sind den konservativen Bauern Frankreichs vergleichbar, deren Mobilisierung durch die Erinnerung an den verloren gegangenen Ruhm Napoleons Karl Marx beschreibt und die sich danach sehnten, Frankreich wieder groß zu machen.[7] Den heutigen Reaktionären geht es weniger um ein Abschotten gegenüber der globalisierten Ordnung als vielmehr darum, auf den Sprossen der globalen Hierarchie wieder die ihnen vermeintlich rechtmäßig zustehende Position einzunehmen. Und auch die Konflikte zwischen dominanten Nationalstaaten und der Infrastruktur supranationaler Institutionen – man denke nur an Trump und seine Tirade gegen den »Globalismus« in der Generaldebatte der UN-Vollversammlung im September 2018 – sind nur Winkelzüge, um innerhalb des globalen Systems eine dominantere Position zu erlangen, und keineswegs ein Angriff auf diese System. Die Eliten, die die dominanten Nationalstaaten und supranationalen Institutionen führen, folgen alle dem Diktat einer neoliberalen Ideologie, sich einzig und beharrlich der Konsolidierung und Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltordnung zu widmen.[8]

Die dritte und umfänglichste Ebene der gemischten Konstitution schließlich, die »Herrschaft der Vielen«, weist ein weites Spektrum unterschiedlicher Kräfte auf und ist notwendigerweise die chaotischste und am schwierigsten überschaubare. Zu ihr gehören die gesamte Palette der untergeordneten Nationalstaaten und kapitalistischen Unternehmen sowie die sie umgebende Infrastruktur, ferner Medien und soziale Netzwerke, Nichtregierungsorganisationen, die häufig Projekte von Staaten und Unternehmen mittragen oder die von diesen angerichteten Schäden kompensieren, Religionsgemeinschaften, die selbst politische Kräfte sind, und schließlich sogar Milizen, die Staaten bekämpfen oder beanspruchen, eigene Staaten gegründet zu haben. Diese Ebene der gemischten Konstitution lässt sich nur in einem sehr abfälligen und entleerten Sinn als «demokratisch» bezeichnen, denn zu ihr gehören keine antisystemischen Bewegungen oder Kräfte, die den Weiterbestand des Empire ernsthaft bedrohen könnten. Vielmehr dienen die Kräfte, die wir hier vorfinden, selbst wenn sie sich monarchischen und aristokratischen Mächten widersetzen oder sie in Frage stellen, in ihrer ganzen Bandbreite letztlich dazu, die Konstitution des Empire insgesamt mitzutragen. […]

Klasse – Multitude – Klasse’

Vielfalt wird immer mehr zum entscheidenden Horizont unserer politischen Vorstellungskraft. Die inspirierendsten Bewegungen der letzten Jahrzehnte, von Cochabamba bis Standing Rock, von Ferguson bis Kapstadt, von Kairo bis Madrid, waren von Multitudes getragen und beseelt. Oft wird, besonders in den Medien, als das Charakteristische dieser Aufstände beschreiben, ohne Köpfe auszukommen – und tatsächlich gibt es die Ablehnung traditioneller Formen einer zentralisierten Führung und den Versuch, sich neue demokratische Ausdrucksformen zu schaffen. Es wäre allerdings sinnvoller, die Vielfalt in den Kämpfen zu verstehen, statt sie als führungslos zu beschreiben – nicht zuletzt, weil das erlaubt, sowohl ihre Besonderheit als auch die Herausforderungen zu begreifen, mit denen sie konfrontiert sind. Manche dieser Bewegungen haben wichtige Ziele erreicht; oft haben sie eine andere, bessere Welt aufscheinen lassen. Die meisten jedoch waren kurzlebig, viele haben Niederlagen erlitten, und einige mussten sogar mitansehen, wie ihre Erfolge brutal zunichte gemacht wurden. Es ist also noch mehr notwendig; es bedarf, so jedenfalls sehen es Militante verschiedener Strömungen, vor allem in der Frage politischer Organisierung dringend kreativer und origineller Ideen. Uns geht es nun nicht darum, die Bewegungen zu belehren, ihnen gar zu sagen, es sei notwendig, die Vielfalt abzulegen und sich als einheitliches politisches Subjekt zu konstituieren, ob durch ein zentralisiertes Führungsgremium, in Form einer Partei oder als »Volk«. Eine Rückkehr zu traditionellen Organisationsformen würde wohl kaum zu beständigeren sozialen Bewegungen oder zu Erfolgen führen; zudem lehnen die Aktivistinnen und Aktivisten selbst aus demokratischer Sensibilität heraus derartige Formen ausdrücklich ab. Darüber hinaus glauben wir nicht, um es ein wenig abstrakt zu formulieren, dass es einer Einheit bedarf, um Entscheidungen zu treffen. Die wichtigste Frage für uns lautet daher: Wie kann eine Vielheit politisch handeln, um bleibende Macht zu entfalten und wirkliche gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen?

An dieser Stelle ist es möglicherweise hilfreich, zwanzig Jahre zurückzugehen und die Situation der Gegenwart aus einem damaligen Blickwinkel zu betrachten. Um das Potenzial der heutigen Bewegungen zu erkunden, möchten wir deshalb zwei historische und theoretische Passagen nachzeichnen: den Übergang von der Klasse zur Multitude und den von der Multitude zur Klasse. Auf den ersten Blick mag das als ein einfaches Pendeln, als ein Hin und Her zwischen zwei Punkten erscheinen. Es markiert jedoch theoretisch und politisch einen Schritt voran, denn die «Klasse», von der die Bewegung ihren Ausgang nimmt, ist nicht dieselbe wie diejenige, bei der sie ankommt: die Passage durch die Multitude verwandelt die Bedeutung. Die allgemeine Organisationsformel, die wir vorschlagen, lautet somit, in Anlehnung an die bekannte Formel von Marx, C–M–C’, von der Klasse zur Multitude zur Klasse in einem erweiterten Sinn. Wie bei Marx speist sich die Bedeutung aus der Transformation, die im Zentrum des Prozesses stattfindet.[9] Die Klasse im erweiterten Sinn kann nur eine Klasse von Multitudes sein, eine intersektionelle Klasse.

Von der Klasse zur Multitude

Der Übergang von der Klasse zur Multitude trägt, zumindest zum Teil, der allgemeinen, im Verlauf der letzten Jahrzehnte gereiften Erkenntnis Rechnung, dass »die Arbeiterklasse« tatsächlich eine Vielfalt bezeichnet, sowohl nach innen als auch nach außen. Die Verschiebung verweist zugleich darauf, dass die Ansprüche traditioneller Gewerkschaftsapparate und Parteien, die Klasse zu vertreten, zunehmend sinnlos wurden. Als empirische Formation hat die Arbeiterklasse selbstverständlich nie zu existieren aufgehört. Aber da sich ihre innere Zusammensetzung gewandelt hat – etwa durch neue Formen von Arbeitstätigkeit, von Beschäftigungsbedingungen und Lohnarbeitsverhältnissen– ist es notwendig, die veränderte Klassenzusammensetzung zu untersuchen. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei der sozialen Kooperation und dem Kommunen zuteilwerden. Darüber hinaus stehen schon immer bestehende Unterschiede der Arbeitenden untereinander Repräsentationsverhältnissen entgegen, die eine Einheit voraussetzen. Die Unterschiede im Hinblick auf die Form der Beschäftigung und den Status der Arbeitenden – Unterschiede beispielsweise zwischen Lohnarbeit und nichtentlohnter Arbeit, zwischen dauerhaften und prekären Beschäftigungsverhältnissen, zwischen regulär und irregulär Beschäftigten – sowie die Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, ethnische Gruppe oder Nationalität, die sich bis zu einem gewissen Grad in jene einschreiben, verlangen alle nach einem Ausdruck. Jede Untersuchung der Klassenzusammensetzung – und jeder Vorschlag einer Klassenpolitik – muss daher in eine intersektionelle Analyse eingebettet sein. Eine solche zeigt keine Klasse, wenn man unter Klasse ein Subjekt versteht, das sich durch eine innere Homogenität auszeichnet oder als ein homogenes Ganzes repräsentiert werden kann; sie zeigt eine Multitude, eine irreduzible Vielheit.

Somit bedeutet der Übergang von der Klasse zur Multitude, dass die Kämpfe der Arbeiterklasse, und antikapitalistische Kämpfe im Allgemeinen, zusammen und gleichberechtigt mit Kämpfen gegen andere Herrschaftsverhältnisse zu sehen sind: feministischen, antirassistischen, dekolonialen, queeren, anti-ablistischen und anderen. (Unabgeschlossene Reihen oder endlose Aufzählungen beunruhigen Theoretiker*innen der Vielheit nicht.) Der Begriff der Multitude ist daher mit einer intersektionellen Perspektive in Analyse und Praxis eng verbunden – und ihr zutiefst verpflichtet –, einer Perspektive, die aus der theoretischen Praxis des Schwarzen Feminismus in den USA kommt. Intersektionalität ist auf einer ganz grundlegenden Ebene eine politische Theorie der Vielheit. Sie zielt darauf ab, überkommenen eindimensionalen Konzepten in der politischen Analyse entgegenzuwirken, indem sie das Ineinandergreifen von Diskriminierungen aufgrund von »Rasse«, Klasse, Sex, Gender und Nationalität in den Blick nimmt. Das bedeutet erstens, dass keine Herrschaftsstruktur grundlegender als andere ist (oder auf sie reduziert werden kann). Sie sind vielmehr relativ autonom, gleichbedeutend und begründen sich wechselseitig. Zweitens: Nicht nur die Herrschaftsstrukturen sind durch Vielfalt gekennzeichnet, sondern auch die Subjektivitäten, die mit jenen in Beziehung stehen. Dies bedeutet weder ein Verwerfen von Identität, noch eine kumulative, additive Konzeption, sondern erfordert vielmehr ein Überdenken von Subjektivität unter dem Vorzeichen der Vielfalt.[10] Die Forderung nach intersektionellen Perspektiven der Multitude ist nicht nur ein Appell, mehr Dimensionen einzubeziehen, sondern, wie Jennifer Nash es ausdrückt, ein »Antisubordinationsprojekt«, eine kämpferische, revolutionäre Strategie an mehreren Fronten gleichzeitig.[11]

Um den Übergang von der Klasse zur Multitude zu betrachten, mag es hilfreich sein, an dieser Stelle auf den Begriff der Prekarität zurückzukommen, und zwar in seiner doppelten Bedeutung. Die erste Bedeutung, die vor allem in der theoretischen und aktivistischen Debatte in Europa entwickelt wurde, begreift sie vor allem im Hinblick auf Lohnarbeit und Beschäftigungsverhältnisse.[12] Prekarität in diesem Sinne steht im Gegensatz zur stabilen, vertraglich langfristig garantierten Beschäftigung, die in der fordistischen Ökonomie der Mitte des 20. Jahrhunderts als regulatives Leitbild dienten – ein regulatives Leitbild, das in der Realität freilich nur für eine begrenzte Anzahl von (im Allgemeinen männlichen) Industriearbeitern in den dominanten Ländern existierte. Unbefristete Arbeitsverträge und Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmerrechte wurden nach und nach ausgehöhlt, sodass Arbeiterinnen und Arbeiter gezwungen waren, vermehrt kurzfristige und entformalisierte Beschäftigungsverhältnisse zu akzeptieren. Gewiss existierten unter rassistischen und sexistischen Vorzeichen derartige Arbeitsverhältnisse schon immer, doch nun ist die Erwerbsbevölkerung insgesamt von diesem Trend betroffen, wenn auch auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß. Die Prekarisierung der Arbeit ist eine mächtige Waffe im großen Arsenal des Neoliberalismus.

Eine andere Bedeutung von Prekarität, die stärker in der US-amerikanischen Diskussion anzutreffen ist, bietet eine sinnvolle Ergänzung und kann ihrerseits dazu beitragen, den Neoliberalismus aus einem breiteren Blickwinkel zu interpretieren (und infrage zu stellen). So schreibt Judith Butler: »›Prekarität‹ bezeichnet den politisch bedingten Zustand, in dem bestimmte Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere. «[13] Prekarität der Arbeitsverhältnisse ist sicherlich ein Aspekt, aber der Begriff des prekären oder gefährdeten Lebens zielt darauf ab zu verstehen, wie Veränderungen im Bereich von Recht, Ökonomie und staatlicher Politik die Unsicherheit für ein breites Spektrum diskriminierter und subalterner Bevölkerungsgruppen erhöht haben – für Frauen, Transsexuelle, Schwule und Lesben, People of Colour, Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderung und andere. Es gibt also den einen Begriff von Prekarität, der die Sprache der Arbeiterklasse spricht, und den anderen, der eine intersektionelle Sichtweise fördert. Zusammengesetzt ergibt sich ein guter Ausgangspunkt, um die Multitude theoretisch zu beschreiben.

Der Übergang von der Klasse zur Multitude (oder vom Volk zur Multitude) ist nicht als ein politischer Auftrag zu verstehen. Das ist nicht notwendig, denn er ist bereits eine vollendete Tatsache, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren in zahlreichen Ländern und sozialen Kontexten in verschiedener Weise manifestiert hat. Wir verstehen, dass viele in der historischen Verschiebung von der Klasse zur Multitude eine Schwächung und Niederlage sehen, angefangen mit dem Machtverlust und der rückläufigen Mitgliederzahl von Gewerkschaftsorganisationen und Arbeiterparteien. (Und zudem ist nicht jede Vielheit politisch progressiv, sondern als Masse und Mob ebenso gut reaktionär.) Aber wir sollten auch die Vorteile sehen, die eine solche Verschiebung mit sich bringt. Auf theoretischer Ebene sollte offensichtlich sein, dass die Perspektive auf die Vielfalt sich gegenseitig konstituierender Herrschaftsstrukturen die Möglichkeiten verbessert, die gesellschaftliche Realität adäquat zu erfassen; das wiederum erfordert, unsere kurze Skizze kapitalistischer Herrschaft durch entsprechende Analysen der institutionellen Strukturen von Rassismus, Sexismus und Gender-Hierarchien zu ergänzen. Viel entscheidender noch ist freilich die Ebene der Praxis: Es wird heute kein erfolgreiches und nachhaltiges Projekt einer Klassenpolitik mehr geben, das nicht auch feministisch, antirassistisch und queer ist.

Klasse neu denken

Vielheit zu theoretisieren oder auch sich auf existierende Vielheiten zu beziehen, reicht indes nicht aus – vor allem, wenn man in der Vielheit lediglich Fraktionierendes und Trennendes sieht. Um politisch wirksam zu werden, bedarf es der Organisierung. Und das gilt umso mehr, wenn es um Multitudes geht. Doch angesichts unserer oben formulierten Frage – Wie kann eine Vielheit politisch entscheiden und handeln? – lediglich darauf hinzuweisen, dass sie sich organisieren muss, ist auch noch nicht sonderlich hilfreich. Der nächste Schritt erfordert daher eine Rückkehr zum Begriff der Klasse – freilich auf andere Art konzipiert –, um genauer herauszufinden, was eine Multitude vermag und wie sie politisch handeln kann. Ein Einwand gegen den Vorschlag, sich von der Multitude zur Klasse zurückzubewegen, liegt auf der Hand: Alle Vorteile, die mit dem ersten Übergang erreicht wurden – die Abkehr von der Idee politischer Homogenität, die auf einer einzigen, durch das Kapitalverhältnis determinierten Herrschaftsdimension gründet, und die Hinwendung zu einer Vielheit, die auch Patriarchat, weiße Suprematie und andere Dimensionen einbezieht –, würden aufs Spiel gesetzt. Daher muss es uns darum gehen, einen Klassenbegriff zu entwickeln, der nicht nur die Arbeiterklasse im Blick hat, sondern selbst Vielheit impliziert, eine politische Formation, die hält, was die Multitude verheißt.

Dazu mag es hilfreich sein, zunächst einmal festzustellen, welche Autorinnen und Autoren den Begriff der Klasse über den Bezug auf die Arbeiterklasse hinaus verwenden, um rassistische oder patriarchale Herrschaft sowie die Kämpfe auf diesem Terrain in den Blick zu nehmen. Achille Mbembe beispielsweise spricht von einer classe raciale, einer »rassischen Klasse«, um die europäischen Kontrollregime zu analysieren, die heute gegen afrikanische Migrantinnen und Migranten errichtet werden:

Europa hat beschlossen, seine Grenzen nicht nur zu militarisieren, sondern sie auch in ferne Gegenden auszudehnen. […] Sie ziehen sich nun die windigen Landstraßen und die gewundenen Pfade entlang, die künftige Migranten nehmen werden. Und sie ändern ihren Verlauf, je nach dem, welchen Weg jene einschlagen. In Wirklichkeit ist es jedoch der Körper des Afrikaners, jedes einzelnen Afrikaners und aller Afrikaner als rassische Klasse, der von nun an die Grenzen Europas bildet. Dieser neue Typus eines menschlichen Körpers ist nicht nur der Haut-Körper und der abjekte Körper des epidermalen Rassismus, der Körper der Segregation. Er ist auch der Grenz-Körper, der die Grenze markiert zwischen denen, die zu uns gehören, und jenen anderen, die nicht zu uns gehören und die ungestraft misshandelt werden dürfen.[14]

Das neue globale Mobilitätsregime verwandle, so Mbembe, die Afrikaner in «eine stigmatisierte rassische Klasse». Der Begriff der Klasse dient hier nicht, oder nicht nur, als sozioökonomische Kategorie, sondern ist Mittel, um eine kollektive rassisierte Differenz zu denken, die sich nicht allein auf die Farbe der Haut bezieht. Die «rassische Klasse» bringen die rassistischen Strukturen und Institutionen Europas hervor.

In Mbembes Analyse klingen zugleich Positionen von Feministinnen aus den 1970er Jahren an: So verwendet Christine Delphy den Begriff der classe sexuelle, der «sexuellen Klasse», um die patriarchale Herrschaft zu erfassen und den feministischen Kampf zu fundieren. Den vonseiten anderer Feministinnen vorgebrachten Einwänden hält Delphy entgegen, der Begriff der Klasse sei besser als jeder andere imstande, die Konstitution und Unterordnung gesellschaftlicher Subjekte in den Herrschaftsverhältnissen zu erfassen. Aus einer Klassenperspektive, so Delphy, lasse sich »eine gesellschaftliche Gruppe nicht getrennt von der anderen betrachten, insofern beide eine Herrschaftsbeziehung verbindet […]. Die Gruppen existieren nicht sui generis, sie konstituieren sich nicht, bevor sie miteinander in Beziehung treten. Es ist im Gegenteil die Beziehung, die sie überhaupt als solche konstituiert.«[15] Die Herrschaftsverhältnisse gehen den gesellschaftlichen Subjekten voraus und sind für diese konstitutiv. Und Klasse wiederum bezeichnet für Delphy nicht ausschließlich eine ökonomische Lage, sondern bezieht analytisch andere Bestimmungen mit ein, sodass der Begriff auf jegliche Dimension von Herrschaft angewendet werden kann.

Wenn wir hier auf die Analysen von Mbembe und Delphy verweisen, so um erstens hervorzuheben, dass der Begriff der Klasse geeignet ist, Unterwerfung und Subjektivierung durch Herrschaftsverhältnisse – ob in Gestalt des Kapitals, weißer Suprematie oder des Patriarchats – zu begreifen; Klasse in diesem Sinne steht daher ebenso für Arbeiterklasse wie für classe raciale, für classe sexuelle und andere. Dabei gilt es zweitens zu betonen, dass der Begriff der Klasse die Verhältnisse nicht nur adäquat beschreiben, sondern auch politisch in sie eingreifen soll, nämlich als eine an die patriarchal oder rassistisch Unterworfenen gerichtete Aufforderung, als Klasse gemeinsam zu kämpfen.[16] Schließlich, und das ist der schwierigste Punkt: Es reicht nicht aus, eine Vielzahl unterdrückter Klassen anzuerkennen, die parallele Kämpfe führen; es ist ein Schritt voran, doch nicht genug. Um zu einem Begriff der Klasse von Multitudes oder der intersektionellen Klasse zu kommen, bedarf es eines weiteren Schritts, nämlich einer inneren Verknüpfung der verschiedenen Subjektivitäten – Arbeiterklasse, classe raciale, classe sexuelle – im Kampf. Intersektionelle Analysen verstehen die Notwendigkeit einer Artikulation unterdrückter Subjektivitäten, fassen diese Artikulation aber nicht selten im Sinne von Solidarität und Koalition. In der Regel führt das zu einem bloß additiven Verständnis von Kämpfen: proletarische plus feministische plus antirassistische plus LGBTQ plus… Und selbst wenn eine intersektionelle Perspektive additive Konzepte von Identität theoretisch zurückweist, können aktivistische Vorstellungen immer noch von einer additiven Logik beherrscht sein. Eine Schwäche eines solchen Standpunkts besteht darin, dass die Bande der Solidarität äußerlich bleiben. Notwendig ist aber eine Solidarität, die aus eigenem Antrieb, von innen heraus Verbindungen schafft – also eine andere Art der Artikulation, die über die übliche Vorstellung eine Koalition hinausgeht.

Wir wollen diese entscheidende Bedingung – die intrinsische Solidarität in dieser Klasse von Multitudes – an drei theoretischen Herangehensweisen veranschaulichen. Das erste Beispiel liefert Rosa Luxemburg: Nach der gescheiterten Revolution von 1905 in Russland kritisiert Luxemburg verschiedene, manchmal herablassend gefärbte Äußerungen, aber auch bewundernde Bekundungen der Sympathie und Unterstützung für die russischen Genossen seitens des deutschen Proletariats und seiner Partei. Luxemburg hat natürlich nicht im Sinn, dass die Arbeiter in Deutschland sich von den revolutionären Kämpfen distanzieren oder sie weniger aufmerksam verfolgen – ganz im Gegenteil. Das Problem sieht sie eher darin, dass Äußerungen der internationalen Klassensolidarität lediglich eine äußerliche Beziehung herstellen. Im Gegensatz dazu will sie die Revolutionäre im Kaiserreich dazu bewegen, die Ereignisse in Russland »als ihre eigene Angelegenheit zu betrachten«, als aufs Innerste mit ihren Kämpfen verbunden und »ein Kapitel der eigenen sozialen und politischen Geschichte«.[17]

Ein zweites Beispiel: Anfang der 1980er Jahre kritisiert Iris Young (männliche) Sozialisten, die ihre Solidarität mit der Frauenbewegung bekundet haben. »Im Großen und Ganzen«, schreibt sie, »erachten Sozialisten den Kampf gegen die Unterdrückung der Frau nicht als einen Hauptaspekt des Kampfes gegen den Kapitalismus«.[18] Wohlgemerkt, Young wendet sich nicht an misogyne oder antifeministische Männer unter den Sozialisten, die es zuhauf gibt, sondern an die Genossen, die die Feministinnen solidarisch unterstützen oder den feministischen Kampf als einen verbündeten, wenn auch von ihrem eigenen getrennten ansehen. Wie Luxemburg beanstandet Young, dass eine solche Solidarität nicht ausreicht. Sie fordert die Sozialisten auf, den feministischen Kampf gegen das Patriarchat als ein Kapitel der eigenen sozialen und politischen Geschichte zu betrachten. Wirklich antikapitalistisch zu sein, ohne auch feministisch zu sein, kann nicht gelingen, denn das Kapital ist nicht zu besiegen, ohne auch das Patriarchat zu besiegen, da beide Herrschaftsverhältnisse einander wechselseitig begründen.

Drittes Beispiel: Auch Keeanga-Yamahtta Taylor argumentiert ähnlich, wenn sie Aktivistinnen und Aktivisten der antirassistischen Bewegungen in den USA dafür kritisiert, nicht gleichermaßen die Klassenherrschaft im Blick zu haben. Zu oft, so macht Taylor geltend, komme es zu einer Art Segregation der Kämpfe, bei der antikapitalistische Kämpfe als eine Angelegenheit von Weißen angesehen würden, während People of Colour antirassistische Kämpfe führen müssten. «Keine ernstzunehmende sozialistische Strömung der letzten einhundert Jahre hat je verlangt», gibt Taylor im Gegenzug zu bedenken, »die Kämpfe von Schwarzen oder Latinos/Latinas beiseite zu schieben, um andere Klassenkämpfe zuerst zu führen. Eine solche Vorstellung beruht auf der falschen Annahme, die Arbeiterklasse sei weiß und männlich und daher unfähig, sich Fragen von ›Rasse›, ‹Klasse› und ›Geschlecht‹ anzunehmen. Tatsächlich ist die amerikanische Arbeiterklasse weiblich, migrantisch, schwarz, weiß, Latino/Latina und anderes mehr. Migrantische Themen, Gender und Antirassismus sind Angelegenheiten der Arbeiterklasse.«[19] Es geht nicht darum, Verbündete zu akzeptieren oder Solidarität zu bekunden; der Kampf gegen weiße Suprematie und der gegen das Kapital müssen als aufs Innerste miteinander verschränkt verstanden werden.

Ein Einwand an dieser Stelle könnte lauten: Gewiss, alle müssen gemeinsam kämpfen, weil alle gleichermaßen prekär sind, in dem doppelten Sinn, den wir oben erörtert haben. Doch eine solche Gleichsetzung führt zu nichts, denn sie übergeht die Tatsache, dass unterschiedliche Arten von Prekarität und Herrschaft existieren. Die Konzeption der Vielheit unterstreicht dies: Kapitalistische Herrschaft ist nicht dasselbe wie sexistische oder rassistische Herrschaft, und keine lässt sich unter eine der anderen subsumieren. Statt alles gleichzusetzen und aufeinander zu reduzieren, ist es erforderlich, Subjektivitäten in Kämpfen zu verbinden. Deshalb erscheint uns der Begriff der Klasse – einer Klasse von Multitudes – eher angemessen als die Vorstellung einer Koalition. Es handelt sich freilich um einen Klassenbegriff, der sich vielfältig zusammensetzt, auf Formen sozialer Kooperation und des Kommunen gründet und durch innere Bande der Solidarität und die Intersektion von Kämpfen verknüpft ist, wobei die Kämpfe der anderen als «ein Kapitel der eigenen sozialen und politischen Geschichte» betrachtet werden. Darin findet die Klasse ihre Art der Artikulation, ihre Art der Versammlung. Um die Transformation des Begriffs anzuzeigen, sprechen wir deshalb von «Klasse in einem erweiterten Sinn», sodass die Bewegung Klasse–Multitude–Klasse, die zu skizzieren wir uns vorgenommen haben, insgesamt betrachtet von der Klasse zur Multitude zur Klasse in einem erweiterten Sinn führt: C–M–C’. Dies gibt zumindest eine erste theoretische Antwort auf unsere oben formulierte Frage: Kann eine Vielheit politisch handeln? Ja, sie kann – als Klasse in diesem erweiterten Sinn, als eine intrinsisch verknüpfte Vielheit in Kämpfen gegen Kapital, Patriarchat, weiße Suprematie und andere Dimensionen von Herrschaft gleichermaßen. Gewiss, das ist lediglich eine formale Antwort, die auf einer begrifflichen Ebene verbleibt, aber vielleicht kann sie einen Rahmen bieten, das politische Projekt weiter zu denken und zu verfolgen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Englischen in der New Left Review  120, 67-92 und wurde redaktionell gekürzt. Aus dem Englischen von Thomas Atzert

Anmerkungen

[1] So sehen Gilles Deleuze und Félix Guattari in Anti-Ödipus den schizophrenen Charakter der kapitalistischen Maschine durch den Umstand aufgewiesen, dass ihr »Funktionieren […] sich nur vollzieht, sofern es gestört wird« (1977,  426).

[2] Zur Perspektive des Übergangs globaler Hegemonie von den USA auf China, vgl. Arrighi, Giovanni, 2008: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg.

[3] Vgl. Polybius, 1961/1963: Geschichte, 2 Bde., Zürich/Stuttgart, insb. Bd. 1, 6. Buch.

[4] Im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben Theoretikerinnen und Theoretiker verschiedentlich geltend gemacht, es bedürfe, um den Fortbestand des Kapitals und seines globalen Systems zu gewährleisten, so etwas wie eines globalen Staates. Karl Polanyi zum Beispiel zeigte sich in einer während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Studie überzeugt, in »dieser unheilvollen Situation [resultierend aus der Bestrafung und dem Ausschluss der besiegten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg] wäre die einzige Alternative die Errichtung einer internationalen Ordnung gewesen, ausgestattet mit einem bevollmächtigten Organ, das über der nationalen Souveränität gestanden hätte. Eine solche Entwicklung lag jedoch völlig außerhalb der Vorstellungen dieser Zeit.« (The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944], Frankfurt a. M. 1978, 43.) Polanyi und andere, die so argumentieren, haben Recht, dass eine gewisse Art globaler Governance notwendig ist, um das kapitalistische System aufrechtzuerhalten, doch sie verkennen, dass es sich dabei außer um einen Staat auch um neue Formen – wie Empire – handeln kann.

[5] Geithner, Timothy, 2014: Stress Test. Reflections on Financial Crises, New York, 105.

[6] »Innerhalb von nur fünf Jahren [zwischen 2003 und 2008] hatten sowohl die außen- als auch die wirtschaftspolitische Elite der Vereinigten Staaten, des mächtigsten Staats der Welt, ein demütigendes Scheitern erlebt«, schreibt Adam Tooze (2019: Crashed. Wie die Finanzkrise die Welt verändert hat, München,11). Dennoch sei es zu früh, von einem Niedergang der «amerikanischen Weltordnung» zu sprechen, da deren beide Hauptpfeiler, die militärische und die Finanzmacht, weiterhin nicht wankten. Zu Ende sei hingegen etwas anderes, «jeglicher Anspruch der amerikanischen Demokratie nämlich, als politisches Modell gelten zu können», so Tooze (Donald Trump oder: Das Ende des amerikanischen Zeitalters?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2019, 64).

[7] Vgl. Marx, Karl, [1851/52]: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte , in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956ff. [MEW], Bd. 8, 111–207.

[8] Quinn Slobodian, der vor allem die sogenannte Genfer Schule und ihre Rolle bei der Gründung der Welthandelsorganisation (WHO) untersucht, betont die äußerst enge Verflechtung von neoliberaler Ideologie und Globalismus (Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Berlin 2019).

[9] Wir rekurrieren hier auf Joshua Clovers Analyse der historischen Abfolge vom Aufruhr zum Streik zum Aufruhr im umfassenderen Sinn (Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings, London/New York 2016); unseren Beitrag betrachten wir als Teil eines fortdauernden Dialogs.

[10] Die Literaturliste zum Thema ist umfangreich, da sich Intersektionalität zu einem Schlüsselbegriff in einer Vielzahl von akademischen Disziplinen und in der politischen Diskussion entwickelt hat; vgl. grundlegend Kimberlé Crenshaw, Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, in: Stanford Law Review 6/1991; dies., Die Intersektion von »Rasse› und Geschlecht demarginalisieren. Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik [1989], in: Helma Lutz, Maria Teresa Herrera Vivar und Linda Supik, 2010: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden, 33–54; aus der aktuellen Debatte ferner Jennifer Nash, 2019: Black Feminism Reimagined. After Intersectionality, Durham, NC.

[11] Vgl. Nash, ebd., 24.

[12] Vgl. etwa Cingolani, Patrick, 2014: Révolutions précaires. Essai sur l’avenir de l’émancipation, Paris.

[13] Butler, Judith, 2016: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin, 48.

[14] Achille Mbembe, Vu d’Europe, l’Afrique n’est qu’un grand Bantoustan, in: Jeune Afrique (3024) 12/ 2018, 62–63.

[15] Delphy, Christine, 1998: Avant-propos, in: L’ennemi principal. Bd. 1: Économie politique du patriarcat, Paris, 29; vgl. auch dies. [1970], Der Hauptfeind, in: Alice Schwarzer (Hg.), Lohn: Liebe. Zum Wert der Frauenarbeit, Frankfurt a. M. 1985, 149–172. Auch Shulamith Firestone analysiert Frauen als Klasse analog zu den ökonomischen Klassen, begreift diese Klasse jedoch als tiefer in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingelassen: Genau «wie die vorübergehende Diktatur des Proletariats, die Inbesitznahme der Produktionsmittel, die Abschaffung der ökonomischen Klassen sichert, wird die Inbesitznahme der Kontrolle der Reproduktion durch die Frauen die Vernichtung der geschlechtsspezifischen Klassengesellschaft gewährleisten» (Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a. M. 1975, 18).

[16] Lisa Disch versteht Delphys Ansatz, Gender als soziale Klasse zu begreifen, nicht nur deskriptiv, sondern sieht darin zugleich »Bestimmung, Anrufung und Auftrag«. Delphy fordere die vom Patriarchat Unterworfenen auf, »ihre Identität als ›Frauen‹ zu finden, ihre Unterdrückung nicht weniger ernst zu nehmen als die der ‹Arbeiter› und sich dem Kampf gegen Unterdrückung aus eigenen Beweggründen anzuschließen« (Christine Delphy’s Constructivist Materialism, in: South Atlantic Quarterly 4/2015, 834).

[17] Luxemburg, Rosa Massenstreik, [1906]: Partei und Gewerkschaften in: dies., Politische Schriften, Bd. 1, hg. von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt/Wien 1966, 204.

[18] Young, Iris, 1981: Beyond the Unhappy Marriage. A Critique of the Dual Systems Theory, in: Lydia Sargent (Hg.), Women and Revolution. A Discussion of the Unhappy Marriage of Marxism and Feminism, Boston, 43–69.

[19] Taylor, Keeanga-Yamahtta, 2017: Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation, Münster, 216.