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Ein Jahr nach Marikana

Von Peter Alexander

Leugnen und Spalten

Am 16. August 2012 starben in einer der größten Platinminen der Welt 34 Minenarbeiter1 durch Automatikgewehre der südafrikanischen Polizei (vgl. LuXemburg 4/2012). 16 Monate später ist die von staatlicher Seite zur Aufklärung der Ereignisse eingesetzte Farlam-Kommission noch zu keinem Ergebnis gelangt. Kein einziger Polizist ist bisher angeklagt, während 275 der beim Massaker von Marikana verletzten und überlebenden Minenarbeiter unter Anklage stehen. Die juristische Auseinandersetzung läuft, die Kosten für die Verteidigung der Angeklagten (und Opfer) müssen dabei mühsam durch Spendenkampagnen organisiert werden. Das Ereignis hat tiefe Spuren hinterlassen – bei den Überlebenden, den Angehörigen und BürgerInnen Südafrikas. Marikana hat aber auch neue Verwerfungen produziert und alte deutlicher sichtbar gemacht. Es steht für die Re-Organisierung von (Arbeits-)Kämpfen in neuen Gewerkschaften, Verbänden, Bewegungen, die sich nicht mehr als Teil, sondern als Kritiker der Dreier-Allianz von ANC, der Kommunistischen Partei SACP und dem Gewerkschaftsdachverband COSATU verstehen (vgl. LuXemburg 2/2013). Diese Organisierung der eigenen Interessen von unten bedroht den spezifisch südafrikanischen Klassenkompromiss, der ein Grundelement des politischen Post-Apartheid-Vertrags darstellte. Bisher ist der Block an der Macht bereit, seine Interessen auch gewaltsam zu verteidigen – in Marikana, aber auch in den vielen lokalen Konflikten um Dienstleistungen, Wohnraum und Land. Marikana ist aber auch Symbol für Widerstand und – paradoxerweise – Hoffnung geworden: Die Streikenden haben sich nicht einschüchtern lassen, sie haben erfolgreich weiter gestreikt, Masseneintritte in die neue Gewerkschaft AMCU haben dazu geführt, dass die bisher größte Gewerkschaft der Mienenarbeiter, die NUM, als Verhandlungspartnerin abgelöst wurde, und das Marikana Solidaritätskomitee sorgt für politische und juristische Vertretung. Viele Fragen zur Zukunft der politischen, ökonomischen und sozialen Konflikte, zu den Trägern von Protest und Widerstand, zu neuen Bündnissen und Formationen sind offen. Spannend wird es 2014 auch, wenn sich die Dreier-Allianz bei den Wahlen stellen muss. Wir dokumentieren einen Bericht von Peter Alexander über die Marikana-Gedenkfeier der Überlebenden, Angehörigen und UnterstützerInnen am 16. August 2013.

Corinna Genschel für die Redaktion 

 

Einspruch zum Gedenktag

Am 16. August 2013 habe ich an einer Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag des Marikana-Massakers teilgenommen. Die Polizeipräsidentin Südafrikas, Riah Phiyega, machte im Nachhinein die Bemerkung, dass es keine Zwischenfälle gegeben habe. Die hat es tatsächlich nicht gegeben, allerdings nicht weil die Polizei ein paar Stöcke von Teilnehmenden eingesammelt hatte, sondern weil die PolizistInnen anders als letztes Jahr ihre Automatikwaffen zu Hause gelassen haben. Sie hielten sich in respektvollem Abstand zu den ArbeiterInnen, die – wie damals – auf dem Hügel saßen, den sie »den Berg« nennen.

Die Veranstaltung war ein Erfolg, und den OrganisatorInnen gebührt höchstes Lob. An die 15000 Beschäftigte der Betreiberfirma Lonmin waren gekommen, sowie deren Familien und UnterstützerInnen. Einige von ihnen hatten sich an der Organisation der Gedenkveranstaltung in Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Bergbau- und Baugewerkschaften AMCU, dem Rat der Kirchen, dem Anwalt der Gruppe der verletzten und verhafteten Minenarbeiter, Dali Mpofu, und der Marikana-Solidaritätskampagne beteiligt. Das Ganze war sehr integrativ angelegt. Sogar Lonmin hatte einen Repräsentanten entsandt und seiner Rede wurde höflich, wenn auch skeptisch, zugehört. Die Kirchen, unter Führung von Bischof Seoka, segneten die Veranstaltung und hielten ihre Predigten. Alle großen Parteien hatten wichtige VertreterInnen geschickt, um Unterstützungs-Botschaften zu verlesen – alle, bis auf eine: die Regierungspartei ANC.

Abwesend war ebenfalls die zweite große Bergarbeitergewerkschaft, National Union of Mineworkers (NUM). Deren Verbandspräsident Senzeni Zokwana verpasste somit die Gelegenheit, Joseph Matunjwa, dem Vorsitzenden von AMCU, die Hand zu reichen und sich damit öffentlich zur Gewaltfreiheit als Mittel der Konfliktlösung zu bekennen.

Außerdem fehlte ein Regierungsvertreter. Es ist nicht so, dass die Regierung gegen eine Gedenkveranstaltung gewesen wäre. Im Gegenteil. Sie wollte allerdings deren Leitung übernehmen. Alles oder nichts. Der ANC hatte nicht die Demut, an einem von den Menschen aus Marikana organisierten Gedenken teilzunehmen – einer Veranstaltung derjenigen also, die vor einem Jahr ihre Kollegen und Liebsten verloren hatten.

Die Regierung leugnet ihre Verantwortung. Sie streitet ab, dass das, was vor einem Jahr passierte, ein Massaker war – die Tötung von Menschen als Ergebnis eines völligen Ungleichgewichts der Kräfte. Doch Marikana war ein Massaker. 34 Menschen wurden von Polizisten getötet, von denen nicht ein einziger auch nur verletzt wurde. Niemand, auch nicht die Polizei selbst, stellt diese Tatsache in Frage.

Der Leugnung liegt der Wunsch zugrunde, keine politische Verantwortung für das Geschehene übernehmen zu müssen.

Es ist jedoch mittlerweile bekannt, dass Nathi Mthethwa, der Polizeiminister Südafrikas, sowohl von Zokwana, dem Vorsitzenden der NUM, als auch von der Polizeipräsidentin Riah Phiyega im Verlauf der Ereignisse über diese in Kenntnis gesetzt worden war. Weiterhin gibt es eine Aussage von Susan Shabangu, Ministerin für mineralische Rohstoffe, aus einer der mittlerweile berühmt gewordenen E-Mails des ANC-Vizepräsidenten Cyril Ramaphosa. Dort zitiert er sie mit der Aussage, dass »es sich bei den Geschehnissen nicht um einen Arbeitskonflikt, sondern um einen kriminellen Akt« handle. Sie werde ihre »Deutung dessen, was wir hier durchstehen, korrigieren«. Anscheinend kündigte sie außerdem an, das Kabinett aufzusuchen, um den Präsidenten Jacob Zuma in Kenntnis zu setzen, sowie Mthethwa, den Polizeiminister, zum Handeln zu bewegen. Bisher haben weder Ramaphosa noch Shabangu diesen E-Mail-Wechsel bestritten. Die genannte Umdeutung der Ereignisse diente aber dazu, den maximalen Einsatz von Gewaltmitteln gegen die Streikenden zu rechtfertigen.

Die Regierung versteckt sich derzeit hinter der Farlan-Kommission. Diese solle feststellen, was wirklich in Marikana passiert ist. Sicher ist jedoch schon jetzt: Es waren nur zwei Akteure direkt an dem Massaker beteiligt, und nur diesen beiden kann theoretisch die Schuld zugesprochen werden. Ein Akteur war die Polizei, der andere Akteur waren diejenigen, die von der Kommission »Individuen und lose Gruppierungen« genannt werden: ein Code für die Streikenden. Letztere – die Gruppe der verletzten und verhafteten Minenarbeiter – werden in diesem Prozess juristisch von dem Anwalt Dali Mpofu vertreten.

Präsident Zuma hat aus seiner Parteilichkeit keinen Hehl gemacht: Während das große Anwaltsteam der Polizei mit beträchtlichen Summen aus dem Staatssäckel bezahlt wird, erhält Mpofu nichts. Dadurch wird Gerechtigkeit verschleppt und es sieht immer mehr danach aus, als würde sie ganz verwehrt.

Bisher liegt die bedeutendste Intervention der Regierung seit Marikana darin, das Rahmenabkommen für eine nachhaltige Minenwirtschaft auf den Weg gebracht zu haben, unterzeichnet von den Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Regierung. Auch hier ist die Positionierung der Regierung deutlich. Obwohl es als eine Art Friedensabkommen dargestellt wird, geht es tatsächlich viel weiter: Es ist ein Rahmenwerk für den Status quo. Kaum verwunderlich also, dass die AMCU als Vertreterin derjenigen, die davon am meisten betroffen sind – die Arbeiter des Platingürtels – ihre Unterschrift verweigert hat. Obwohl das Dokument ein Ergebnis des Blutvergießens ist, wird dort das Wort »Massaker« nicht einmal erwähnt. Auch das Wort »Marikana« fehlt gänzlich. Stattdessen wird die Polizei als Teil der Lösung gepriesen, als Hüterin von Recht und Ordnung. ArbeiterInnen erscheinen im Gegensatz dazu als potenzielle Übeltäter: Sie beteiligen sich an ungeschützten Streiks und veranstalten Protestaktionen, die gewalttätig werden können.

In dieser Darstellung der Probleme der Minenindustrie erscheinen ArbeiterInnen nicht als Menschen, deren Leben tagtäglich durch die Arbeitsbedingungen und die Missachtung von Sicherheitsbestimmungen in den Minen gefährdet wird. Sie erscheinen nicht als Menschen, die zum Umfallen erschöpft nach Hause kommen, weil ihre ohnehin schon anstrengende Arbeit noch erschwert wird durch Zielvorgaben der Unternehmen, die sie de facto zwingen, zwölf Stunden und mehr pro Tag zu arbeiten. Diese Formen der Illegalität und der Gewalt werden in dem Dokument nicht benannt.

Während Streiks von ArbeiterInnen als Übel betrachtet werden, werden Streiks von »Investoren« naturalisiert. So heißt es zum Beispiel in Paragraph 3.4.6 des Abkommens, »die Arbeiterschaft verpflichtet sich dazu, mit Regierung und Wirtschaft zusammenzuarbeiten, um die Investitionsneigung zu verbessern«. Dies ist ein unverhohlen pro-kapitalistisches Dokument. Noch der kleinste Hoffnungsschimmer, dass ArbeiterInnen und ihre Familien vom Bergbau profitieren könnten, wird zunichte gemacht durch Paragraph 2.1.7: ein sogenanntes Leitprinzip verpflichtet die Parteien dazu »anzuerkennen, dass ökonomische Realitäten unsere Entscheidungsmöglichkeiten beschränken«. Es gibt auch nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass Eigentum an Minen möglicherweise so organisiert werden könnte, dass sie der Mehrheit der Bevölkerung zu Gute kommen und nicht nur einer winzig kleinen Minderheit.

Das Abkommen ignoriert außerdem das zentrale Thema der Löhne. Und das, obwohl Löhne den Kern der Konflikte in den Minen ausmachen. Die ArbeiterInnen in Marikana haben für Lohnerhöhungen gekämpft. Löhne motivierten die darauf folgende Welle ungeschützter Streiks.

Die Regierung mag nur wenig aus Marikana gelernt haben; die ArbeiterInnen jedoch haben wertvolle Erfahrungen gesammelt. Es gilt auch deshalb als Wendepunkt in der Geschichte Südafrikas, weil es eine Art Kristallisationspunkt war für die vielen lokalen Kämpfe um Löhne und um den Mangel an öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen. ArbeiterInnen in verschiedenen Teilen des Landes und in verschiedenen Industriezweigen fordern nun – wie in Marikana – eine Pauschalerhöhung.

Neue informelle Siedlungen wurden »Marikana« genannt. Ich habe Reinigungskräfte getroffen, die – wie die besser organisierten ArbeiterInnen – davon sprechen, »ein Marikana zu machen«. Das Wort selbst ist zum Synonym für militanten Widerstand geworden.

Indem die Regierung ihre Augen vor den wirklichen Problemen in Marikana verschließt – vor der Armut in den Bergarbeiter-Gemeinden, der ungleichen Reichtumsverteilung, der ungleichen Unterstützung der Anwälte –, blendet sie die immer größer werdende politische Kluft in Südafrika aus. Diese Kluft ist vor allem eine Klassenspaltung, und sie wird in den nächsten Monaten zu noch größeren Konflikten führen.

AMCU hat die Forderung des Streiks vom letzten Jahr aufgegriffen und fordert einen Monatslohn von 12500 Rand für Gold- und PlatinarbeiterInnen. Hinter dieser Forderung werden sich die MinenarbeiterInnen vereinen. Und sie ist so weit von dem entfernt, was die Arbeitgeber bereit sind zu zahlen, dass es fast sicher zu einem großen Streik kommen wird. Das Mitleid mit den Unternehmen hält sich allerdings in Grenzen, wenn man sich vor Augen führt, dass der Wertverlust des Rand gegenüber dem Dollar von 20 Prozent für die Eigentümer eine 20-prozentige Einkommenssteigerung bedeuten, da Gold und Platin in Dollar bezahlt werden. Dem gegenüber sind die Verarmungsbehauptungen der Minenunternehmen scheinheilig, ihr Angebot von 5,5 Prozent Lohnerhöhung ist eine Provokation.

Das führt uns wieder zurück zu der Gedenkveranstaltung. Dort schaute man einerseits auf das Massaker von 2012 zurück, gleichzeitig blickte man aber auch nach vorne: darauf, wie das fortwährende Elend der ArbeiterInnen im wichtigsten Industriezweig des Landes angegangen werden kann. Das offizielle Motto des Tages hieß: »Sie starben für existenzsichernde Löhne. Der Kampf geht weiter«. Die Regierung hat nun die Wahl. Entweder nehmen sie sich der Belange der ArbeiterInnen an, oder der Kampf wird weitergehen. Die Gewaltbereitschaft der Polizei wird sicher dazu führen, dass wieder Blut fließt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog [1] des Global Labour Institutes.

 

Literatur

Alexander, Peter, Thapelo Lekgowa, Botsang Mmope, Luke Sinwell und Bongani Xwzwi 2013: Das Massaker von Marikana. Widerstand und Unterdrückung von Arbeiter_innen in Südafrika, Wien
Benya, Asanda 2013: Absent from the Frontline but not Absent from the Struggle. Women in Mining, in: femina politica 11, 144–147

Anmerkungen

1 Da Frauen qua Gesetz von der Minenarbeit ausgeschlossen sind, waren die streikenden Minenarbeiter Männer. Das heißt nicht, dass Frauen nicht zentraler Teil des Streiks als Gesamtereignis waren (vgl. dazu Asanda Benya 2013).