| Ein geschichtlicher Moment. Die Linke und Europa

Februar 2014  Druckansicht

Wir erleben in Europa einen historischen Moment. Die EU befindet sich in einer existenziellen Krise, alle Grundlagen der europäischen Integration, alle EU-Verträge sind in Frage gestellt. Ich werde die schreckliche Krise, die unser Kontinent durchlebt nicht erneut beschreiben. Wir alle kennen ihre Auswirkungen. Stattdessen will ich mich darauf konzentrieren, Europa eine andere Zukunft vorzuschlagen.

Die europäischen Regierungen, Sklaven ihren Dogmen, haben keine Vision für Europa. Sie sind dabei, die Idee eines Europas der Kooperation und der Solidarität zu beerdigen. Der Autoritarismus raubt den Menschen und Parlamenten immer mehr Einfluss. In den Ländern, die dem Diktat der Troika unterworfen sind, haben drakonische Maßnahmen, die der Bevölkerung wie Strafen aufgezwungenen werden, das europäische Modell und seine Repräsentanten in Misskredit gebracht. In trüben Wassern fischend versucht die extreme Rechte diese Skepsis für sich zu nutzen. Die Gefahren sind ernst: Es geht um die Durchsetzung einer immer autoritärer werdenden Europäischen Union, um die Rückkehr eines „Einzelkämpfertums“ im Dschungel der Globalisierung, ja sogar um die Rückkehr von Kriegen, von Nationalchauvinismen und Rassismus.

In dieser Situation werden Stimmen lauter, die für den Rückzug des einen oder anderen Landes aus der Euro-Zone plädieren, was früher oder später zu deren Auflösung führen würde. Die Debatte durchzieht auch die Linke. Es ist verständlich, dass einige solche Schritte in Betracht ziehen – aus Verzweiflung und weil das Kürzungsdiktat die einzige Perspektive zu sein scheint. Dennoch handelt es sich aus unserer Sicht um einen falschen, sogar gefährlichen Weg. In der erbarmungslosen Welt, in der wir leben, würden die Subalternen in verschärfte Konkurrenz zueinander gesetzt, müssten einen gnadenlosen Wirtschaftskrieg austragen. Die großen Unternehmensgruppen und die hegemonialen Staaten wären die einzigen Gewinner eines solchen „Einzelkämpfertums“. Um Solidarität und Kooperation zu fördern, die uns so dramatisch fehlt, wäre eine radikal andere Europäische Union nötig: ein auf völlig anderen Grundlagen neu gegründetes Europa.

Die Situation in Osteuropa ist besonders besorgniserregend. Die EinwohnerInnen dieser Länder laufen Gefahr, zu Geiseln der Konfrontation zwischen den Mächten – EU gegen Russland – zu werden; zu Geiseln der Konfrontation nationaler Oligarchien um die Kontrolle über Ressourcen und Märkte.

Die Eckpunkte der Neugründung sind folgende:

– ein Ende der Austeritätspolitik und eine Umkehr zu sozialer, ökologischer und solidarischer Entwicklung, zu öffentlichen Dienstleistungen.

– die Übermacht der Finanzmärkte muss zerschlagen werden, indem Schulden neuverhandelt und ihr illegitimer Teil erlassen wird, und indem die Rolle der EZB so neu bestimmt wird, dass sie dazu beiträgt eine soziale Entwicklung zu finanzieren.

– wir müssen die Durchsetzung von sozialen Rechten und Menschenrechten in ganz Europa voran bringen – sie müssen nach und nach an den jeweils höchsten Stand angeglichen werden.

– wir müssen gerechte Handelsbeziehungen unter den europäischen Staaten und mit dem Rest der Welt aufbauen – zunächst gilt es das Projekt eines Transatlantischen Freihandelsabkommens zu stoppen.

– ein friedliches Europa muss die NATO verlassen, Abrüstung betreiben und an politischen, nicht-militärischen Lösungen von Konflikten arbeiten.

– Zu guter Letzt geht es darum, die Demokratie (wieder)herzustellen: die Bevölkerung muss das letzte Wort über strukturelle Entscheidungen in der EU haben, ihre Souveränität und die heute lächerlich gemachten Parlamente müssen wieder respektiert werden.

Wir alle sind dieses Europa, das mit allen Mitteln nach menschlicher Emanzipation sucht.

Wie können wir auf diesem Weg voran kommen?

Die Europäische Linke hat sich an vielen Bündnissen beteiligt, die für eine – wie wir es nennen – „soziale und politische Front in Europa“ zentral sind. Sie hat ihre Zusammenarbeit mit sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen intensiviert und eine Politik verfolgt, die darauf zielt, neue gesellschaftliche Kräfte und politische Akteure zu gewinnen.

Wir wollen unsere Beziehungen mit einer ganzen Reihe von linken Kräften in Europa intensivieren. Ich denke an den Balkan, die nordischen Ländern, Großbritannien, die Länder im Osten. Wir schlagen vor, unsere Statuten so zu ändern, dass andere Parteien „Partner“-Organisationen der Europäischen Linken werden können. Auf diese Weise wollen wir die Zusammenarbeit verbessern und unsere Strahlkraft vergrößern.

Wir haben an einer Annäherung mit dem Sao Paulo-Forum, den Organisationen der lateinamerikanischen Linken und der mediterranen Linken gearbeitet. All das ist von großer Bedeutung. Wir wollen, dass dieser Austausch in praktisches Handeln mündet, für eine konkrete Transformation Europas, der Welt und des Lebens der Menschen.

Ein Symbol der Hoffnung

Die Europäische Linke ist nicht mehr nur ein Ort des politischen Austauschs. Sie ist eine Partei der konkreten Zusammenarbeit, der Aktion – eine Partei der Veränderung.

Wir schlagen vor, dass die Europäische Linke Kampagnen durchführt, die es ermöglichen, kämpferisch und bürgerschaftlich neue gemeinsame Ziele zu verfolgen. Darum ging es bei der Europäischen Bürgerinitiative, die wir ins Leben gerufen haben, um eine öffentliche europäische Bank oder einen Fonds für soziale und ökologische Entwicklung zu gründen.

In diesem Sinne wollen wir im Jahr 2014 eine große Kampagne gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen starten, zusammen mit Bewegungen und NGOs. Das Freihandelsabkommen ist für die EuropäerInnen ebenso gefährlich wie für die Menschen im Rest der Welt. Seine Inhalte müssen offengelegt werden. Wir können die Unterzeichnung des Abkommens verhindern – unsere lateinamerikanischen Freunde haben es uns mit dem ALCA-Abkommen vorgemacht. Nichts ist entschieden.

Außerdem wollen wir im März einen Schuldengipfel in Brüssel organisieren. Diese Positionen müssen wir auch in den Europa-Wahlkampf tragen. Schulden sind zu einer ideologischen Waffe geworden, um eine Politik sozialer Ungleichheit und das Kürzungsdiktat zu legitimieren. Wir wollen die Austerität stoppen, eine Belebung der Wirtschaft anders finanzieren und den Reichtum wieder gerechter verteilen.

Schließlich möchte ich betonen, dass wir 2014 – dem hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs – Friedensinitiativen starten. Ich denke besonders an Veranstaltungen, die Anfang des Jahres in Verdun und später in Sarajewo stattfinden werden.

Wir setzten uns für ein stärkeres politisches Zusammenwachsen ein. Die EL schlägt vor, jedes Jahr ein „Europäisches Forum der Alternativen“ zu veranstalten – als neuen, offenen Raum für alle Organisationen und gesellschaftlichen Kräfte, die an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert sind. Das erste Forum könnte im Herbst 2014 stattfinden, in einer neuen, aus den Wahlen hervorgegangenen politischen Landschaft.

Selbstverständlich sind alle unsere politischen Anstrengungen bis Mai 2014 auf die Vorbereitung der europäischen Wahlen gerichtet. Wir sehen auch die Gefahr der radikalen Rechten. Die Vorsitzende der Front National, Marine Le Pen, ist gerade durch die europäischen Hauptstädte gereist, um die Gründung einer rechtsextremen Fraktion im Parlament vorzubereiten. Sie werden versuchen, auf der Welle einer Europa-Ablehnung zu reiten.

Die Sozialdemokraten werden sich bemühen, als Bollwerk gegen diese Gefahr zu erscheinen. In einer gemeinsamen, am 23. Oktober in Berlin veröffentlichten Erklärung verkünden die deutsche Sozialdemokratie und die französischen Sozialisten von François Hollande: „Wir wollen neues Vertrauen in Europa schaffen, indem wir für den Wandel in Europa, für ein demokratischeres, sozialeres und nachhaltigeres Europa werben. Das ist es, was wir den Menschen als Vorschlag für die Europawahlen 2014 unterbreiten möchten.“ In dieser Erklärung bekundet die französische Sozialistische Partei außerdem ihre Unterstützung für Martin Schulz als Vorsitzenden der Europäischen Kommission. Aber welche Glaubwürdigkeit haben sie noch, wo doch die SPD jetzt Stakeholder einer Großen Koalition unter der Führung von Angela Merkel ist? Sie halten die Menschen zum Narren.

Dazu bieten wir eine linke Alternative – ‚wir’ das sind all jene, die wie wir eine Stärkung der GUE-NGL, der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken anstreben. Die Europäische Linke hat sich entschlossen, für diese Aufgabe einen Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission zu nominieren: Alexis Tsipras. Diese Entscheidung gründet auf dem Wunsch, Europa zu einigen und es auf einer demokratischen und fortschrittlichen Grundlage neu zu begründen.

Für die Europäische Linkspartei ist diese Kandidatur ein starkes Symbol der Hoffnung für Europa. Griechenland hat der Austeritätspolitik als Versuchskaninchen gedient. Aber Griechenland hat Widerstand geleistet und leistet ihn immer noch. Syriza hat es verstanden, unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte gegen die barbarischen Memoranden, gegen den Autoritarismus und für eine Wiederbelebung Griechenlands innerhalb eines solidarischen Europas zu vereinen. Die Stimme von Alexis Tsipras ist die Stimme der Hoffnung und des Widerstands gegen eine ultraliberale Politik und gegen die Drohung der radikalen Rechten. Diese Kandidatur könnte zahlreiche Bürger und politische Organisationen zusammenbringen.

Übersetzung: Raul Zelik

Pierre Laurent ist Vorsitzender der Europäischen Linken. Dies ist die gekürzte Fassung seiner Eröffnungsrede zum Kongress der Europäischen Linken, Madrid, 15. Dezember 2013