| Ein couragierter Vorschlag zu geeintem Handeln oder: Wie entrinnen wir dem „teuflischen Evangelium“, das wir uns in der letzten Zeit gegenseitig auftischen?

August 2015  Druckansicht
Von Chrysa Kouloufakou

Ein OFFENER BRIEF
an jeden Genossen von SYRIZA,
egal welcher Position.

(Vielleicht wäre es für Partei, Abgeordnete und Regierung sinnvoll, Folgendes zu bedenken, bevor sie zu Taten schreiten, die möglicherweise unumkehrbar sind).

Mein Vorschlag, Genossen, wurzelt in den folgenden drei Dingen:

1) Damals, als unsere Väter in den Lagern und auf den Gefängnisinseln eingesperrt waren und einer von ihnen mal das Glück hatte, ein Päckchen von zuhause zu erhalten, behielt er es nicht für sich allein. Er betrieb mit den erhaltenen Zigaretten und dem Zwieback keinen Handel, und er tauschte sie nicht einmal mit seinen Mitgefangenen. Unsere Väter teilten alles, was im jedem einzelnen Päckchen war, das Wenige oder noch weniger, so dass alle etwas hatten.

2) Vor einigen Jahren war der Dokumentarfilm „Die Reise der Pinguine“ in den Kinos. Er zeigt das Leben der Kaiserpinguine im antarktischen Winter. Dort, wo die härtesten Lebensbedingungen auf der ganzen Welt herrschen, überleben die Pinguine als Art, aber auch als Individuen (jeder mit seinen Eigenheiten) ohne irgendeinen befestigten Schutzraum. Es gelingt ihnen, indem sie sich zu einer dicht an dicht stehenden Gruppe formieren, in der sie untereinander fortwährend die Plätze tauschen, so dass keiner allzu lange der Kälte an den Außenrändern der Herde ausgesetzt ist und ebenfalls keiner dank der Wärme der anderen Körper ständigen Schutz im Zentrum hat. Niemand kühlt dauerhaft aus. Niemand wärmt sich ununterbrochen auf. Und ich wiederhole: Es gibt keinen befestigten Schutzraum. Es ist das Funktionieren der Gruppe selbst, die den Schutzraum bietet.

3) Im klassischen Athen, in der kleisthenischen Demokratie, wurden die Ämter per Los vergeben, entweder unter allen Athenern oder – wenn das Amt besondere Fähigkeiten voraussetzte – unter all jenen, die über diese Qualifikationen verfü So konnte der korrupte Verführer nicht bereits im Voraus ins Auge fassen, wen er bestechen würde. Und niemand schlug an irgendeinem Posten Wurzeln, so dass es keine zeitlichen Rahmenbedingungen gab, in denen andere ihn bestechen konnten oder er selbst andere in seiner Machttrunkenheit bestach.

Genossen, die Viper Schäuble hat uns nicht in den Fuß gebissen. Sie hat uns mitten in die Brust getroffen. Also muss unsere Reaktion analog sein. Wir brauchen Gegengift und Antikörper für dieses Gift, das uns derart blind macht, dass wir die Gesichter unserer Genossen nicht erkennen, sondern nur Masken mit verschiedenen Titeln, wie z.B. „Ablehnung“, „Verteidigung“, „Unterwerfung“ usw.

Um uns also in der Sprache der Wahrheit auszudrücken, Genossen, lautet der Vorschlag wie folgt: In Wirklichkeit verfügt die Koalition SYRIZA-ANEL über 162 OXI.

Die „Jas“ gehören zu den uns bereits Bekannten, zu denen, die nunmehr seit sechs Monaten wie im Reigen psalmodieren: „Bringt eine Vereinbarung – bringt jetzt eine Vereinbarung – wir stimmen der Vereinbarung zu, egal welcher.“ Sie gehören nicht zu uns.

Dennoch ist es unter den gegenwärtigen Umständen erforderlich, dass 120 oder 151 von diesen NEIN als „notgedrungene Ja“ erscheinen, damit die Koalition stabil bleibt und nicht in Geiselhaft genommen werden kann. Welches Gesetz legt fest, dass immer dieselben Münder zur Äußerung des Ja gezwungen werden müssen?

Genossen, mindestens in den nächsten zwei Monaten liegen verschiedene erpresserische Abstimmungen vor uns.

Ich schlage vor: Ruft vor jeder dieser Abstimmungen im Parlamentsplenum eine Fraktionssitzung ein und lost aus, Genossen Abgeordnete. Werft so viele gefaltete Zettelchen, wie ihr seid, in die Lostrommel. Also 149, wenn ihr allein seid, 162, wenn ihr mit ANEL zusammen seid. 151 Zettelchen werden mit „Ja“ beschriftet. Die übrigen mit „Nein“. Zieht ein Los. Jeder, der einen Zettel zieht, zeigt der Fraktion öffentlich, was er gezogen hat.

Einige haben Losglück und können beim „NEIN“ bleiben.

Die Übrigen tragen das Kreuz des Ja in genau dieser bevorstehenden Abstimmung im Plenum des Parlaments. Doch in der nächsten Abstimmung haben andere Personen das Losglück des NEIN, während die Fraktion als Ganzes konstant bleibt in ihrer Unterstützung der Regierung, als Sicherheitsnetz für den Akrobaten, den Ministerpräsidenten. Auf diese Weise kommt der Stolz des NEIN allen zu, die Last des Ja wird ebenfalls von allen getragen, ohne dass einer allein es für immer schultern muss und ihm daraus ein bleibendes Stigma entsteht. Wir werden weiterhin den Raum der Gegnerschaft zum Memorandum besetzen und ihn nicht der X. A. [der faschistischen Partei „Goldene Morgenröte“] als Beute überlassen. Wir entrinnen der Scham darüber, dass wir mit einem einzigen Paragraphen monströse Gesetze bringen, dass wir die Abgeordneten einzusperren versuchen. Die gesetzgeberischen Handlungsvorhaben kehren in das dafür von der Verfassung vorgesehene Notstandsfach zurück. Wenn die Regierungsmitglieder wegen des externen Drucks und der externen Manöver dazu verpflichtet werden, immer mit Ja aufzutreten, dann sei’s drum.

Das macht nichts. Damit kann man fertig werden.

Das Problem ist, dass IMMER genügend Leute (und nicht immer „dieselben Dummen“) das Sicherheitsnetz der Regierung halten, bis diese erste schwere Zeit vorbei ist.

Erläuterungen und Nuancierungen dieses Vorschlags (es gibt bereits eine erste Studie) unter der Telefonnummer: +30-210-6976-439868.

Denkt an die Möglichkeit, dass dieses Losverfahren in der Bevölkerung ganz offen publiziert wird. Jeder Abgeordnete zeigt sich mit seinen Mitstreitern und der Bevölkerung solidarisch. Keiner unserer Abgeordneten wird verpflichtet, permanent gegenüber seinen Wählern Erklärungen zu seinem Standpunkt abzugeben.

In der Folge werden Wahlen abgehalten, nicht um die innerparteilichen Angelegenheiten von SYRIZA zu klären, sondern weil eine Regierung der Linken nicht dazu berechtigt ist, sich auf das Bonbon der Verantwortung zu berufen und im Widerspruch zum Mandat zu regieren, das sie vom griechischen Volk erhalten hat. Wir unterscheiden zwischen taktischen Windungen und der Grundübereinkunft, die festlegt, dass das Volk das erste und das letzte Wort in den elementaren Entscheidungen hat. Wir halten unsere Ausstrahlungskraft auf die Bewegungen Europas und die Moral in der Welt aufrecht. Der Krach unter uns in den letzten Tagen, bei dem wir uns gegenseitig Schmerz zufügten, ist vielleicht eine einzigartige Gelegenheit, einen Nachteil zu unserem Vorteil zu wenden, so dass er zum Maßstab unserer Solidarität wird. Je treffender der Schlag war, den du einstecken musstest und von dem du dich erholst, desto stärker ist dein Organismus.

Ein Merkmal der Giftfalle Schäubles ist es, dass, je mehr Zeit wir zur Rettung unseres Landes teuer kaufen, wir umso mehr an Vertrauen in der Bevölkerung verlieren. Dem müssen wir entkommen. Ich glaube, dass wir es schaffen können, wenn wir diesem Vorschlag nachgehen. Und wir tun das, indem wir den Leuten offen zeigen, dass wir die Reueerklärung, zu der uns der Euroklerus zwingt, indem er unser Volk und unsere Wirtschaft im Würgegriff hält, zwar unterschreiben (und unsere Unterschrift bleibt bis auf Weiteres bestehen), doch dass wir weder ein Loblied auf sie zu singen beginnen (vgl. Samaras), noch als arme Tröpfe mit gebrochener Moral davonschleichen. Wir bleiben am Tisch, mit dem Bleistift, mit dem wir unterschrieben haben, und wir schlagen mit der Faust auf den Tisch, schauen ihnen direkt in die Augen und sagen ihnen weiterhin: „Ihr habt uns dazu gezwungen, unsere Unterschrift unter eine Lüge zu setzen.“

Und die Leute, Genossen, können BEIDES: zuhören UND verstehen…

Genossen, zu dieser schweren Stunde und in der abscheulichen Position, in der wir uns befinden, sind unser Ja und unser Nein Treppenstufen, die wir nehmen müssen. Lasst uns unsere Einheit mit dem Werkzeug des Abwechselns schmieden. Das Nein und das Ja sind keine Kirchenstühle, die sich jeder packt – oder jeder, der schnell genug dazu ist –­, und auf die er sich elendig setzt, um Luftblasen der Moral, linker Sensibilität, Verantwortlichkeit, und ich weiß nicht, welcher anderen „Parole“ noch, auszubrüten.

Entschuldigt meine harte Sprache in den unmittelbar vorausgegangenen Sätzen. Aber es reicht langsam mit den Spaltungen und den Klärungen. Wenn die Ordnung eine Hälfte der Voraussetzungen dafür ist, Herr im Hause zu sein, dann ist die andere Hälfte die Teufelei. Erlaubt mir noch, daran zu erinnern, dass die besten Exemplare ihrer Art nicht die Vollblüter sind. Die Bastarde, die Halbblüter, das sind diejenigen, die auf der Welle der Entwicklung reiten und die Welt verändern.

Ich richte euch warme, solidarische Grüße aus der Höhle des Zyklopen aus, in der wir in dieser Stunde eingeschlossen sind, während wir den Anker lichten und unserem Kapitän und seinen tapfersten Mitstreitern folgen, um unser Volk nach ITHAKA zu bringen.

Und wir werden es dort hinbringen, Genossen!!
Die Völker Europas halten zu uns.

Chrysa (Georgia) Kouloufakou
Theaterregisseurin, Biologin
Mitglied der SYRIZA-Ortsgruppe Neo Psychiko.

PS: Als meine Urgroßmutter Polyxeni in ihren letzten Zügen lag, kam der Pope, um ihr die letzte Kommunion zu erteilen, und wünschte ihr „Gute Seele!“. Und meine Urgroßmutter, von ihrem Totenbett aus, antwortete dem Vertreter des Allmächtigen: „Gut oder schlecht, so ist sie nun einmal. Wenn sie ihm gefällt, möge er sie nehmen. Wenn sie ihm nicht gefällt, so lasse er sie hier!“

Der Text erschien zuerst in Avgi, 21.07.2015.

Zurück zum GRIECHENLAND-SPECIAL