| Dreifache  Katastrophe in Japan

Juni 2011  Druckansicht
Von Steffi Richter

Am 11.März 2011, 14.46 Uhr japanischer Zeit (6.46 MEZ) ereignete sich etwa 80 Kilometer vor der japanischen Pazifikküste der Tôhoku-Region in zehn Kilometer Tiefe ein Erdbeben, dessen Stärke mit 9.0 angegeben wurde. Das ist die vielfache Stärke der Erdbebenkatastrophe (des »Kôbe-Erdbebens«) von 1995. Diese Wucht soll die Hauptinsel Honshû um mehr als zwei Meter gen Osten sowie die Erdachse um 16 cm verschoben haben. Seither werden ständig Nachbeben in dieser wie auch in der Kantô-Region (Tokio und die sechs umliegenden Präfekturen) verzeichnet.

Das Beben verursachte die zweite Katastrophe: den Tsunami. Zwar wurde vor diesen Flutwellen gewarnt, doch haben sie aufgrund ihrer Höhen von stellenweise über zehn Metern (Kyodo-News berichtet von bis zu 38 Metern1) zu verheerenden Zerstörungen geführt.

Staatliche Institutionen wie die National Policy Agency (NPA) oder das Bildungsministerium MEXT aktualisieren seither ständig die zu beklagenden Opfer. Am 25. April 2011 wurden sie folgendermaßen beziffert: 14358 Tote, 11889 Vermisste und 5 314 Verwundete. Der materielle Schaden beläuft sich auf über 90000 völlig oder teilweise zerstörte Gebäude (darunter fast 7200 Schulen, 1940 soziale und Kultureinrichtungen, 18 Forschungseinrichtungen), über 400 Kulturgüter (darunter vier Nationalschätze, 130 wichtige nationale Kulturgüter), über 3 700 zerstörte Straßen, 71 Brücken. Mit Matsushima ist eine der »drei schönsten Landschaften« Japans unweit von Sendai weitgehend zerstört. Noch immer sind laut NPA über 130904 Menschen, die fast alles verloren haben, in 2518 Notunterkünften untergebracht.

Beide Katastrophen gehören zu den schlimmsten der Geschichte dieses Landes und der pazifischen Region, und sie sind wohl auch am detailliertesten und am meisten in Bildern festgehalten und wieder und wieder in die Welt hinausgesandt worden. Das macht uns beinahe zu hilflosen Voyeuren. Dazu Tawada Yôko, die in Berlin lebt: »Foto- und Videoaufnahmen aus Katastrophengebieten bringen uns in eine unmittelbare Nähe zum Opfer. Gleichzeitig bleibt eine unüberwindbare Distanz zum Geschehen. Die Betrachter können dem Opfer nicht einmal ein Glas Wasser geben. Dadurch können die Bilder bei den Menschen, die eigentlich helfen wollen, das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken. Was kann man machen, um sich der lähmenden Wirkung der Bilder zu entziehen?« (Christ&Welt, 24.März 2011)

Noch am gleichen Tag nahm die dritte Katastrophe ihren Lauf. Zwar erklärte der japanische Premierminister Kan Naoto am 11.März, die Lage in den AKW sei normal, die Anlagen seien automatisch heruntergefahren worden. Doch schon kurze Zeit später wurden schwere Störfälle vor allem in den Reaktoren des AKW Fukushima 1 gemeldet. Die schwerste Atomkatastrophe in Japan seit Hiroshima und Nagasaki ist längst in den Mittelpunkt der Medienberichterstattung gerückt und absorbiert enorme Kräfte und Mittel, die so dringend für die Hilfe für die genannten Opfer nötig wären. Diese Katastrophe wird zu weiteren Opfern führen – keiner weiß, wie viele. Daher ist auch weniger von einer »Naturkatastrophe« (tensai) als vielmehr von einer menschengemachten, einer sozialen Katastrophe (jinsai) zu sprechen; präziser noch – von einer Katastrophe, die der unheiligen Allianz dreier Faktoren geschuldet ist: der Profitgier von Unternehmen wie Tokyo Electrical Power Company (Tepco, einem der weltweit größten Energiekonzerne), einer konfusen politischen Führung und einer mit diesen beiden Akteuren verfilzten Bürokratie wie der japanischen Atomsicherheitsagentur (Nuclear and Industrial Safety Agency NISA; Genshiryoku anzen hoan-in). »Die Regierung müsse führen, Tepco handeln, die Nisa kontrollieren«, kritisiert nun ausgerechnet Kônô Tarô, der stellvertretende Generalsekretär der Liberaldemokratischen Partei (LDP) – also jener Partei, die in Japan in ihrer fast 50jährigen Alleinherrschaft dieses System mit geschaffen und getragen hat« (Zeit Online vom 31. März 2011).

Politik- und sozialwissenschaftlich geschulte Japanologen merken hier vermutlich auf. Die geschilderte Trinität kann als Ausdruck dessen gesehen werden, was in der Nachkriegsgeschichte Japans als »Eisernes Dreieck« bezeichnet wird: die schier unlösbare Verflochtenheit von großen Unternehmen, Politik und Staat/ Bürokratie als Ursache für eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen. Vielleicht haben diese in Japan eine spezifische Ausprägung, sind aber nichts spezifisch Japanisches. Doch sind die Folgen dieses Geflechts jetzt besonders dramatisch und tiefgreifend. Es kann von einer Zäsur nicht nur für Japan, sondern für die ganze Welt gesprochen werden, was – in Anlehnung an den 11.September 2001 – sprachlich bereits seinen Ausdruck in der Formel »3/11« gefunden hat. Im Folgenden möchte ich aus einer eher kulturwissenschaftlichen Perspektive einige Gedanken formulieren, die mich – angesichts der medialen Repräsentation der Dreifachkatastrophe im deutschen wie im japanischen Kontext – bewegen.

Japan-Bilder

Betrachtet man verschiedene Printmedien, die »Japan« in den letzten Wochen Schwerpunkte widmeten, wird klar, dass Schwarz-Weiß-Malereien zu kurz greifen. Einerseits ruft der Stern (Nr. 13 vom 24.März 2011) bereits auf seiner Titelseite wohl alle Klischees und Stereotype in Sachen »Japan-Bilder« oder »Japan/erTheorien« (nihon/jin-ron) auf, die zumindest in den ersten Wochen nach dem 11. März immer wieder bemüht wurden – und die andererseits von Japanspezialisten in Die Zeit, Frankfurter Rundschau oder FAZ zumindest in Frage gestellt wurden. Der Künstler Christoph Niemann entwarf ein Cover für den New Yorker (28.März 2011), »Dark Spring«, auf dem die symbolträchtige Kirschblüte in einer Weise stilisiert wurde, die einen schmunzeln und zugleich das Blut in den Adern gefrieren lässt: Die drei rosafarbenen Blätter jeder der insgesamt elf Blüten (auf schwarzem Grund) erinnern an Radioaktivitätszeichen.

Das Stern-Cover dagegen ist eine Collage aus dem Kopf einer Geisha, Hokusais berühmter »Welle«, einem Samurai in prächtigem Gewand (und gezücktem Kurzschwert) und einem Rettungsteam der Tokioter Feuerwehr – das Ganze untertitelt mit dem Text »Stolz, diszipliniert, leidensfähig, selbstlos. Das unglaubliche Volk. Wie Kultur und Katastrophen die Mentalität der Japaner prägen«. Geisha und Hokusai stehen wohl für Schönheit und Harmonie mit der Natur; und wenn letztere sich wild und grausam gebärdet, nehmen es »die Japaner« eben hin: shikata ga nai, da kann man nichts machen! Was ist daran spezifisch »japanisch«? Der japanische Philosoph Mishima Kenichi hat in der FR Online vom 21.März gefragt, ob die vor einigen Jahren vom Hochwasser betroffenen Bürger Sachsens nicht ebenso diszipliniert und hilfsbereit gewesen seien. »Teutonische Organisation« oder »germanisches Durchhaltevermögen« habe er für ebenso töricht gehalten wie allgemein die »Langlebigkeit der aus dem schrecklichen 19.Jahrhundert stammenden Selbst- und Fremdzuschreibungen«. Was bezwecken die ethnischen Zuschreibungen? Auch in Japan stößt die Leidensfähigkeit an Grenzen, wie das Beispiel eines Gemüsebauers aus der Präfektur Fukushima zeigt. Er hat sich am 24. März das Leben genommen, nachdem die Regierung eine Einschränkung der Belieferung von vermutlich verstrahlten Produkten etwa an Schulen verordnet hatte, was den 64-Jährigen existenziell traf (Asahi shinbun am 29. März).

Beispiel zwei handelt von jenen Arbeitern, die – zumeist am Ende der AKW-Hierarchien stehend – in die Fukushima 1 Atomhölle geschickt werden. Alsbald tauchte in verschiedenen Medien das Kamikaze-Gleichnis auf, auch der Stern bezieht sich auf diese angeblichen Helden: Unter dem Titel »Ein Volk mit Haltung« wird eine Geschichte erzählt, die von den »göttlichen Winden« (kamikaze bzw. shinpû) im 13.Jahrhundert über die Kamikaze-Flieger im ZweitenWeltkrieg bis zu den Feuerwehr-Leuten als »Rettern der Nation« reicht (44–54). Gegen diese Imaginationen regt sich zwar Unmut unter manchen Japankennern, doch treffen sie dann einen realen Kern, wenn der in vielen Erinnerungen, pop-kulturellen und geschichtsrevisionistischen Erzählungen reproduzierte Kamikaze-Mythos entzaubert und die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis genommen werden. Diese Männer sind in den allermeisten Fällen keine Freiwilligen gewesen, sondern in einer vom Kriegsverlauf her gesehen aussichtslosen Situation in den Tod geschickt worden. Strukturell (!) gibt es manche Ähnlichkeit zu den AKW-Arbeitern. Einer von ihnen sagte: »Wenn ich den Einsatz ablehne, würde ich in eine schlechte Lage geraten«; ganz abgesehen von den Drohungen seitens des Wirtschafts- und Industrieministers Kaieda Banri gegenüber Feuerwehrleuten: Wer den Anweisungen nicht Folge leiste, würde bestraft.2

Wegwerf-Arbeiter

Ein solcher Vergleich stößt jedoch an Grenzen – ein havariertes AKW kann nicht einfach aufgegeben werden, Spezialisten müssen versuchen, der Lage Herr zu werden, auch unter Einsatz ihres Lebens. Doch außer den Tepco-Spezialisten selbst oder den Feuerwehrleuten sind es eben auch Männer, die seit Jahrzehnten über Sub- oder Sub-Subunternehmen von Tepco und anderen AKW-Betreibern angeheuert und ohne genügend Ausbildung und Wissen Strahlungen ausgesetzt werden, die gesundheitsgefährdend, langfristig tödlich sind. »Wegwerf-Arbeiter« (tsukaisute rôdôsha) oder auch »AKW-Gipsy« werden sie genannt. Diese diskriminierende Bezeichnung wurde von Horie Kunio aufgegriffen, der bereits 1979 in seiner gleichnamigen Publikation Genpatsu jipushî über Saison-Arbeiter berichtete, die für Reinigungs- und andere zyklisch anfallende Wartungsarbeiten in Kernreaktoren angeheuert werden. Dass diese Praxis weltweit – auch hierzulande – üblich ist, vermittelt das Interview mit Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz: »[F]ür strahlenmäßig besonders belastende Einsätze, zum Beispiel Reinigungsarbeiten und solche Dinge, [holt] man sich da Arbeiter von Fremdfirmen, um die eigene Statistik nicht zu versauen und um die Leute locker wieder loswerden zu können, wenn sie genug Strahlung abgekriegt haben. Das ist ein weltweit praktiziertes Verfahren. Wenn man das nicht machen würde, dann müsste man die eigene Mannschaft, die relativ hoch bezahlte eigene Mannschaft, für diese Einsätze verwenden, und die kämen dann relativ bald an die Strahlenschutzgrenzwerte und wären nicht mehr richtig zu verwenden. Also das ist eine sehr unerfreuliche und wenig diskutierte Geschichte.« (DRadio Kultur vom 23. März 2011).

Auch in Tschernobyl waren 1986 vermutlich ca. 200000 so genannte Liquidatoren eingesetzt worden, um die Radioaktivität einzudämmen (zu »liquidieren«) – die meisten von ihnen Soldaten und zwangsverpflichtete Arbeiter aus der ganzen UdSSR, viele aber auch freiwillig: »Wir hatten Angst, aber in erster Linie sind wir dorthin gegangen, um unsere Kinder und unser Land vor dieser Katastrophe zu schützen. Das wird den japanischen Spezialisten jetzt auch nicht anders gehen« (NTV Online vom 18.März 2011)

Das Thema »AKW-Gipsy«, das erst im Zusammenhang mit dem FukushimaEreignis sichtbar geworden ist, steht in enger Verbindung mit der Armuts-, Obdachlosen- und Tagelöhner-Problematik im Japan der Nachkriegszeit. Die Energie- und Atomindustrie hat ähnlich wie die Bauindustrie Japans Aufstieg zur zweitstärksten kapitalistischen Wirtschaftsmacht seit den 1960er Jahren mitgetragen; staatliche Mittel wurden schon Mitte der 1950er bewilligt, das erste AKW ging 1966 ans Netz. Diejenigen, die mit ihrer Hände Arbeit zum japanischen »Wirtschaftswunder« beigetragen haben, verblieben im Schatten dieser Entwicklung: sozial schwache und politisch kaum organisierte Schichten. Erst im Zusammenhang mit den Krisen seit den 1990ern, vor allem den zunehmend prekären Verhältnissen besonders unter jüngeren Generationen 2000ff, wird Armut (wieder) zu einem Thema. Die noch nicht absehbaren Folgen der Nuklearkatastrophe werden diese Entwicklungen beschleunigen.

Fast anklagend wird bisweilen gefragt, warum es gerade in Japan – mit den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki! – so wenig Protest gegen die Kernkraftnutzung gebe. Skeptiker und Gegner der so genannten friedlichen Nutzung der Kernkraft haben auch in Japan schon seit geraumer Zeit Studien erstellt und veröffentlicht. Sie sind allerdings in den Mainstream-Medien kaum zu finden. Ähnliches gilt für Berichte, die von Betroffenen – verstrahlten regulären wie auch Leih-Arbeitern – aufgeschrieben wurden.

Das Internet ist für diese Berichte ein wichtiger Ort der Verbreitung geworden. So erzählt im Blog der Obdachlosen- und Arbeitslosen-Bewegung des Tokioter Tagelöhnerviertels Sanya Herr Matsumoto, wie er vor Jahren einen Bekannten, mit dem er am Bahnhof Tokio-Ueno für die Arbeit in einem AKW angeheuert worden war, kurz darauf zu Grabe getragen hat – vermutlich verstrahlt. Kawamura Takeshi berichtet im Dezember 2010 im Blog »Japan Alternative News for Justices and New Cultures« (JanJan-Blog) unter dem Titel »AKW-Gipsy« über seine eigenen Erfahrungen im AKW Hanaoka, in dem er von 2003 bis 2009 gearbeitet hat und sich z.B. hoher Strahlung aussetzen musste, um einen teuren Inspektionsroboter im Kanalschacht eines Reaktorkerns zu fixieren. Watanabe Mikiko, Mitarbeiterin der Nuclear Safety Research Group der Kyôto-Universität, erstellte 2009 eine Grafik3, die den Anteil von festangestellten und Saisonarbeitern in japanischen AKW erfasst, die radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Danach wächst im Zeitraum von 2000 bis 2007 die Anzahl der zyklisch angeheuerten Arbeiter deutlich. Berichtet wird auch über Arbeiter, die sich gerichtlich gegen ihr Schicksal zur Wehr setzten, so etwa Iwasa Kazuyuki. Er wurde 1971 bei Reparaturarbeiten verstrahlt, erkrankte bald darauf, wurde arbeitsunfähig und versuchte, gegen den AKW-Betreiber Japan Atomic Power Co. in Tsuruga/Fukui (Nihon genshiryoku) die Anerkennung seiner Krankheit und Entschädigung zu erwirken. 17 Jahre zog der Prozess sich hin, bevor die Klage 1991 vom Obersten Gericht Japans endgültig abgewiesen wurde4.

Ungehörte Proteste

Das führt ins Zentrum der politischen und intellektuellen Kultur Japans seit den 1970er Jahren: Protestbewegungen gegen die zerstörerischen, nicht beherrschbaren Techniken zur Gewinnung von Energie. Es gab und gibt sie: Am 31.März meldet u.a. die Zeitung Tôkyô shinbun, dass am Vortag eine Gruppe von ca. 100 Menschen gegen die Atomkraft demonstriert habe. Vom Hibiya-Park aus (traditionell ein Ort politischer Proteste) sei sie vorbei an der Japanischen Atomaufsichtsbehörde (NISA) hin zum Hauptquartier von Tepco gezogen, wo drei Personen von der Sicherheitspolizei festgenommen wurden: wegen Behinderung des Verkehrs, also Verletzung der Straßenverkehrsordnung (!). Die Verhafteten – zugleich die Organisatoren der Demo – seien dem Kern des Zengakuren zuzurechnen – dem 1948 gegründeten, mittlerweile in verschiedene Fraktionen gespaltenen, linken Alljapanischen Studentischen Dachverband. Was bedeutet diese Härte der Staatsmacht gegen solche Formen von Protest? Weshalb sind in den großen, landesweiten Zeitungen kaum Beiträge zu lesen, die über den Filz von Bürokratie, Unternehmen, Regierungspolitik aufklären? Weshalb hat sich aus den mächtigen politischen Protestwellen der 1950er und 1960er Jahre (die auch gegen Atombombenversuche gerichtet waren) keine sozial verwurzelte landesweite ökologische Bewegung formieren können, die nun den Ausstieg fordert? »For a Change, Proud to Be Japanese« betitelt Azuma Hiroki seinen Artikel vom 16.März in der New York Times, und Murakami Ryû konstatiert dort einen Tag später: »But for all we’ve lost, hope is in fact one thing we Japanese have regained. The great earthquake and tsunami have robbed us of many lives and resources. But we who were so intoxicated with our own prosperity have once again planted the seed of hope.«

Aber braucht es Hoffnung für »We Japanese«? Aktivisten aus dem Umkreis der 2005 entstandenen Gruppe »Aufstand der Laien« (Shirôto no ran) riefen zu einer ersten großen Anti-AKW-Demonstration im Tokioter Stadtteil Kôenji auf. Mehr als 15000 Teilnehmende kamen dort unter dem Motto Genpatsu yamero!!! – »Stoppt die Atomkraft!!!« – am 10. April zusammen. Besonders auf Homepages werden Anti-AKWDemonstrationen dokumentiert – nicht nur in Japan5, sondern weltweit 6.

Die Gruppe Shirôto no ran sollte im Fokus der Aufmerksamkeit bleiben. Sie agiert lokal im schon erwähnten Stadtteil Kôenji, wo Second-Hand-, Recycle- u.a. Läden zugleich als Treffpunkt für vor allem junge Leute dienen, die sich dem kapitalistischen Kreislauf »Arbeit-Konsum-Arbeit« entziehen und alternative Lebensformen ausprobieren wollen. Zugleich verstehen sie sich als Teil einer globalen Bewegung, z.B. wenn gerade jetzt in einem dieser Läden die »Untergrunduniversität« (chika daigaku) wieder belebt wird – eine Universität, in der »nichtreguläre Lehrende« (also akademisches Prekariat) mit nichtregulären Arbeitern zusammenkommen, über die eigene prekäre Lage in Japan diskutieren und sich unter dem Titel Chika no chûtô (»Underground Middle East«) mit den Ereignissen in Nordafrika auseinandersetzen. Hirai Gen, Intellektueller und einer der Organisatoren dieser Veranstaltungsreihe, erlebte den 11. März als Leiharbeiter einer Firma in Tokio. Knapp zwei Wochen später notierte er Impressionen in sein Tagebuch, die den glokalen Charakter dieser Akeure eindrucksvoll hervortreten lassen:

Zwei Wellen Leben

Ein grandioser Anblick in der »Untergrund-Universität« (die sich am Ende einer Gasse mit anzüglichen Fûzoku-Geschäften befindet): Aufruhr im Mittleren Osten und ein voluminöses philologisches Magnus Opus neben einer Schüssel Reis mit Rindfleisch für 280Yen.

Und doch gibt es für diese andauernde, sich von Maghrib nach Mashrik erstreckende Bewegung keinen Namen. Blättert man z.B. im »Sonderheft zu den Arabischen Revolutionen« der Zeitschrift »Gendai shisô«, so ist die Rede vom »Wunder vom Tahrir-Platz«, von »Neuen Zivil-Revolutionen«, von »Saura«, von einer »Arabischen Renaissance«, vom »1848 der Araber« usw.; alle in- und ausländischen 39 Diskutanten beschreiben die Situation mit unterschiedlichen Worten. Es wird ersichtlich, wie sich die Akademiker wieder und wieder an den der westlichen Geschichte entstammenden Worten abarbeiten. Nur Itagaki Yûzô verweist darauf, dass der Ursprung solcher Begriffe wie »Platz«, »Wunder«, »Bürger«, »Renaissance« nicht im Westen liegt. Ihre Wiege stünde eben östlich des Mittelmeers, wo Arabien, der Islam, Afrika sich kreuzten, so urteilt er voller Überzeugung. Angefüllt mit reichem Inhalt, kehrten sie nun zurück. In Martin Bernals »Schwarzer Athene«, die er emphatisch vorstellt, sieht er ein Ergebnis, das ihre von vielen Windungen geprägte Geschichte korrigierend nachzeichnet.

Das arabische Wort »Saura«, meist mit »Aufruhr« übersetzt – welche Art von »Revolution« impliziert es eigentlich? Das ist noch unklar. Dass aber etwas Gigantisches geschieht, daran gibt es keinen Zweifel. In dieser Welle gibt es […] viele Menschen, die zynisch geworden sind. »Ist das nicht eine Facebook-Bewegung made in Amerika?«, steht ihnen im Gesicht geschrieben. Mitten in den Vorbereitungen, diese Schlaffheit zerschlagen zu wollen, brach am 11.März das Beben aus.

»Na, die Kantô-Ebene zittert mal wieder… dauert aber ganz schön lange«, denken wir fünf Leiharbeiter (einer in den Gassen von Tôkyô-Iidabashi gelegenen Firma) uns noch, arbeiten aber weiter. Die Lampen schwingen, Akten fallen herunter, und Angestellte der Firma, die ins Netz schauen, erheben ihre Stimme. Ein Lautsprecher gebietet uns, sofort auf den nahe gelegenen Sportplatz zu flüchten, der Achtgeschosser, von dem Kacheln herunterfallen, werde geschlossen. Während wir die Treppen hinunterlaufen, wird die uns Freeter [Neologismus, der aus »free« und »Arbeiter« gebildet wurde, S.R.] von den Festangestellten trennende Membran dünner. Die Handys funktionieren nicht. Hunderte von Leuten werden ausgespuckt, Männer und Frauen mit herabbaumelnden Namensschildern versammeln sich fröstelnd auf ebener Erde. Hier hat einmal eine Artilleriewaffenfabrik gestanden. Gebannt blicke ich auf das Profil der diffus errötenden Gesichter der Office-Ladies. Würden die Gebäude um uns herum jetzt einstürzen, sollte ich dann nicht das Kommando über diese halbtrunkenen Truppen übernehmen? Sonst bringen die mich um. (Lachen.) Gerade versuche ich, von der Angst, nichts über die Situation ihrer Familien zu wissen, mit diesem schlechten Witz abzulenken, da ertönt die Stimme eines Angestellten: »Schluss für heute!«

Als ich entlang der Sotobori von Yotsuya in die Shinjuku-Straße einbiege, werde ich von einer Menschenmenge aufgesogen, die in Richtung Shinjuku-Bahnhof zieht. Es sind nicht nur Firmenarbeiter. Leute mit Kinderwagen, bis hin zu Rollstuhlfahrern – Tausende, Zehntausende? Allen ist übel von diesem verfluchten Picknick. Saura und Erdbeben – wie soll man diese beiden Wellen leben? Diese Frage steigt aus meinem zitternden Körper empor.

Hirai Gen, 27. März 2011 7

 

Anmerkungen

1 english.kyodonews.jp/news/2011/04/82888.html.
2 Siehe sankei.jp.msn.com/politics/news/110322/stt11032222490022-n1.htm.
3 www.rri.kyoto-u.ac.jp/NSRG/seminar/No106/watanabe090306.pdf
4 Iwasa verstarb 2007 im Alter von 77 Jahren; siehe higuti.ti-da.net/e1896084.html.
5 Siehe die ebenfalls 2005 gegründete Website Magajin 9-jô (»Magazin Artikel 9«), auf der sich ein breites Spektrum von Verteidigern des Antikriegs-Artikels 9 der japanischen Verfassung artikuliert, www.magazine9.jp/list/demo/.
6 Siehe 410nonuke.tumblr.com.
7 Die Übersetzung des gesamten Textes sowie weitere Übersetzungen bzw. Links auf kritische Beiträge: siehe: wwwdup.uni-leipzig.de/~japan/cms/index.php?id=107