| Die Welt von morgen – Szenarien unserer Zukunft zwischen Katastrophe und Hoffnung

Dezember 2019  Druckansicht
Von Ingar Solty

Mit dem Finanzcrash 2008 wurden die Krisen des Kapitalismus offensichtlich. Viele hofften auf einen linken Aufbruch. Doch Austerität und Autoritarismus konnten sich global durchsetzen. Inzwischen ist der Neoliberalismus entzaubert und die Welt brennt. Was sind die Szenarien unserer Zukunft?

Die Krise diesmal

Vor zwölf Jahren geriet der Kapitalismus in seine tiefste Krise seit den 1930er Jahren. Sie war nicht nur eine ökonomische, sondern eine große »organische Krise«, die sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen artikulierte: als eine Krise des Politischen und der Demokratie, der sozialen Reproduktion, als ökologische und Klimakrise und als Krise der Weltordnung.

In ihren Antworten auf diese Krise zogen die Herrschenden in den kapitalistischen Zentren Lehren aus den großen Krisen des 20. Jahrhunderts, die zum Aufstieg rechtsnationaler Kräfte, zu zwei Weltkriegen, aber auch zu sozialistischen Revolutionen geführt hatten. Sie einigten sich auf Konjunkturprogramme, deren Zweck jedoch innerhalb der (neo-)liberalen Regierungen umstritten war: Dienten sie einer kurzfristigen Stabilisierung des Finanzmarktkapitalismus oder zielten sie auf dessen langfristigen Umbau?

Die Krise führte zu Rissen und Richtungskämpfen im herrschenden Machtblock, in denen sich schließlich die Neoliberalen durchsetzten. Um 2010 gingen die Staaten des »Westens« zur Austeritäts- und Wettbewerbspolitik und zu Strategien der inneren (und äußeren) Abwertung von Kosten und Löhnen über. Im Euroraum führte dies zu kostspieligen Bankenrettungen und hoher Staatsverschuldung. Einzelne Staaten gerieten unter den Druck internationaler Finanzmärkte. Dieser Zusammenhang wurde jedoch verschleiert. Der herrschenden Deutung nach hatten die betroffenen Staaten »über ihre Verhältnisse gelebt«. Die griechische Regierung musste sich im Gegenzug zu den Notkrediten der Troika zu massiven sozialen Einschnitten und Privatisierungen verpflichten. In der Folge legte eine neue europäische Wirtschaftsregierung (»Fiskalpakt«) alle Staaten des Euroraums dauerhaft auf einen strikten Austeritätskurs fest.

Gegen diese Politik entwickelte sich ein transnationaler Zyklus von sozialen Bewegungen, die einen alternativen Weg aufzeigten. Es war eine geschichtsoffene Situation: Wie in allen historischen Krisen sollten die Klassenkämpfe über den Ausgang des Konflikts und die neue Gestalt des Kapitalismus, ja vielleicht sogar über seine Überwindung entscheiden.  In dieser Situation veröffentlichte das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2011 ein Kollektivpapier mit möglichen Zukunftsszenarien, um politisch besser intervenieren zu können. Vier Szenarien wurden unterschieden: 1. ein verschärfter autoritärer Neoliberalismus, 2. das Projekt der »Neuen Rechten«, 3. ein grüner Kapitalismus und 4. ein (Social) Green New Deal (IfG 2011). Acht Jahre später stellt sich die Frage, wie zutreffend diese Prognosen waren. Ist bereits ein neuer Kapitalismustyp entstanden? Oder befinden wir uns weiterhin in einer Übergangsphase? Welche Szenarien beschreiben heute die Welt von morgen?

Dimensionen einer Krisengesellschaft

Die Analyse von 2011 hat die großen Konfliktlinien recht genau vorhergesagt. Sie konnte aber nicht voraussehen, wie robust die herrschenden Klassen ihren Kurs fortzusetzen verstanden. Die Austeritätspolitik und ihre Folgen traten regional ungleichzeitig auf. Weder Bewegungen noch linken Parteien gelang es, ihren Widerstand zu internationalisieren oder mit effektiven betrieblichen Kämpfen zu verbinden. Die Niederlage von Syriza in Griechenland 2015 und die relative Schwäche (Spanien) bzw. Isolierung (Portugal) linker Projekte in Südeuropa wirkt bis heute fort. Ohne diese Niederlagen der Linken ist der darauffolgende Siegeszug der Rechten nicht zu begreifen. Angesichts der unhaltbaren Zustände zieht die Rechte ihre Stärke aus einer gesellschaftlichen Erfahrung der Ohnmacht: Radikale Alternativen sind unbedingt notwendig, aber ihre Durchsetzung vorerst gescheitert.

Mit dem vorläufigen Sieg des autoritären Neoliberalismus ist die Krise indes nicht vorbei. Sie bleibt virulent und artikuliert sich weiterhin als eine multiple Krise mit den eingangs genannten Dimensionen. Sie wurde zunächst einmal in die Zukunft verschoben. Das zentrale Reformprojekt des linken Flügels der herrschenden Klasse war der »grüne Kapitalismus«. Er sollte mit Konjunkturprogrammen die Entwicklung »grüner« Technologien anschieben, neue Märkte und einen Wachstumsschub hervorbringen. Das Projekt scheiterte jedoch. Denn für Reformen von oben ist der Kapitalismus paradoxerweise auf radikale Kräfte von unten angewiesen, die für eine Modernisierung genutzt und kooptiert werden können. Entsprechend gingen die dominanten westlichen Nationalstaaten zur Politik der Austerität über, die ihnen und ihren Konzernen Vorteile verschafften, Löhne senkten und die gewerkschaftliche Handlungsmacht schwächten. Die Krisenpolitik vertiefte somit den Neoliberalismus und damit die Kräfteasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit.

Die neoliberalen »Mitte«-Parteien in der EU gerieten damit jedoch in einen Teufelskreis: Je unpopulärer die Kürzungen und je größer der Protest, desto autoritärer mussten die Staaten agieren, gegen geltendes Recht verstoßen und zum Beispiel Demonstrationsrechte einschränken. Je mehr die eigenen Machtressourcen mit der Erosion der »Volksparteien« und dem Aufstieg von rechten und linken Kräften schwanden, je mehr die Herrschenden ihre Politik in einer demokratisch kaum legitimierten neuen europäischen Wirtschaftsregierung festzurrten, umso mehr trat ihr Zwangscharakter offen zutage, was die herrschenden Parteien weiter schwächte.

In Deutschland wirkte die sogenannte Flüchtlingskrise im Sommer 2015 als Katalysator des Aufstiegs der Rechten. Seit 2016 hatte sich mit Trumps Wahlsieg, dem von rechts befeuerten Brexit und der österreichischen Präsidentschaftswahl gezeigt, dass die äußerste Rechte nun auch Mehrheiten gewinnen kann. Auch dort, wo sie noch nicht an der Staatsmacht beteiligt ist, gilt die Formel »rechts wirkt«: Die Kräfte von rechtsaußen treiben die anderen vor sich her. Mit der Erfolglosigkeit sowohl linker Konzepte wie auch der des »grünen Kapitalismus« sehen viele keine real(istisch)e Alternative mehr zum Neoliberalismus. Nur in politischen Systemen mit Mehrheitswahlrecht sieht es anders aus: Dort besteht Hoffnung, die erschlafften Mitte-links-Parteien real (wie Jeremy Corbyn) oder potenziell (wie Bernie Sanders) von innen zu erneuern.

Im anderen Fall kommt es zu einer gefährlichen Polarisierung: Das gesamte Parteienspektrum jenseits der »neosozialistischen« Linken sieht keine Alternative zur marktgetriebenen Gesellschaftsentwicklung. Darin ist sich der linke Flügel des Bürgertums (in Deutschland: die Grünen) mit dem ganz rechten (AfD) einig. Das verschiebt den Diskurs auf die Ebene des Kulturkampfes. Gestritten wird vornehmlich über die Frage, wie (il-)liberal Einwanderungs-, Sicherheits- oder Geschlechterpolitik gestaltet wird. Weil aber die materiellen Krisenprozesse in der Klassengesellschaft weiterwirken und die Ängste der Bevölkerung vertiefen, drohen alle linken Alternativen zur Marktgesellschaft in diesem Kulturkampf zerrieben zu werden. Das linksliberale Bürgertum und die Rechtsautoritären können sich gegeneinander profilieren und ihre jeweilige sozial und kulturell relativ homogene Klientel binden. Unterdessen zerlegen sich sozialdemokratische und linke Parteien an der Frage, wie man Wähler*innen der »Arbeiterklasse« zurückgewinnen kann.

Die Krise der Demokratie wird verschärft durch die Digitialisierung und die Umbrüche der Produktionsweise. »Industrie 4.0« und »Internet der Dinge« verkörpern einen von Kapitalseite vorangetriebenen Rationalisierungsprozess. Der objektive Stress, die eigenen Qualifikationen entwertet zu sehen und permanent umlernen zu müssen, verallgemeinert sich und triff selbst hochqualifizierte Lohnabhängige. Die alten Sicherheiten der »Mittelklassen« schwinden, das Versprechen, durch Leistung am Wohlstand teilzuhaben, hat an Überzeugungskraft verloren. Der radikale Umbau des Sozialstaates verstärkt Erfahrungen der Verunsicherung und Deklassierung. Der Traum vom Leben in der »saturierten Arbeitnehmermitte« mit Eigenheim, exotischen Urlaubszielen und Altersvorsorge wird prekär. Zugleich ist mit dem Wandel der Geschlechterbeziehungen auch das fordistische Familienmodell im Umbruch. Eine weitere Folie für den rechten Kulturkampf, der die »gute alte Zeit« zurückhaben will. Die Erwerbsintegration von Frauen hat unter neoliberalen Vorzeichen nicht die versprochene Selbstbestimmung für alle gebracht, sondern soziale Ungleichheit zwischen Frauen vertieft. Aufgrund der lückenhaften öffentlichen Daseinsvorsorge sind für Care-Arbeiten weiterhin meist Frauen zuständig, sind diese meist privat und prekär organisiert. Stress und Überforderung prägen den Alltag vieler Menschen.

Der autoritäre Neoliberalismus hat auf diese Krise der lohnabhängigen »Mittelklassen« keine Antwort. Im Gegenteil, mit einer Politik, die Renten und Löhne senkt, soziale Leistungen kürzt und die Unsicherheit am Arbeitsmarkt verschärft, bröckelt der Zusammenhalt. Den Menschen wird signalisiert, dass sie auf sich allein gestellt sind. Der Staat scheint nur noch auf dem Feld des Kulturkampfes, nicht aber in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Planung souverän. Das gilt auch in Bezug auf die sich beschleunigende ökologische Krise, die immer mehr zur Zivilisationskrise wird. Sie stellt das Paradigma einer Marktgesellschaft grundlegend infrage und erfordert radikale wirtschaftspolitische Maßnahmen. Die Dringlichkeit ist mit den neuen Klimabewegungen im öffentlichen Bewusstsein angekommen und verstärkt das Gefühl der Bedrohung und Angst. Auch diese Debatte verbleibt jedoch vielfach auf dem Terrain eines Kulturkampfes, ein grün-liberales und ein konservativ-rechtes Lager stehen sich gegenüber. Linke Alternativen zu marktkonformen Lösungsansätzen sind im politischen Diskurs weiterhin marginal, es dominiert das neoliberale »Weiter so«.

Tatsächlich müssten staatliche Akteure in dieser Situation eine Vision zur Bearbeitung dieser Umbrüche entwickeln, in der gesellschaftliche Teilhabe und Zusammenhalt im Zentrum stehen.  Dies wird der Politik aber nicht mehr zugetraut: Die Volksparteien erodieren unaufhaltsam und die Zukunftsvisionen formulieren Konzerne wie Tesla, Google oder Facebook. Die Visionslosigkeit der Herrschenden ist Wasser auf die Mühlen der Rechten. Wenn niemand mehr eine Politik für alle formuliert, hinterlässt dies ein Vakuum, das die Rechte, die wenigstens den Anspruch erhebt, die Volkssouveränität zu repräsentieren, völkisch füllt.

Diese Umbruchprozesse stehen im Kontext einer Krise der globalen Weltordnung und einer neuen Kriegsgefahr. Während die USA relativ an Einfluss verlieren, ist China in etlichen Bereichen der Hochtechnologie unangefochtener Weltmarktführer und kann durch die staatliche Kontrolle über Wirtschafts- und Finanzsektor seine Entwicklung souverän gestalten. Historisch war solch eine Ablösung einer alten durch eine neue Weltmacht stets mit Kriegen verbunden. Auch heute führt die Rivalität zu einem globalen Rüstungswettlauf. Teile des US-Militärapparates bereiten sich systematisch auf einen großen Krieg gegen China in den nächsten Jahrzehnten vor. Zudem hat weltweit die Zahl der Stellvertreterkriege stark zugenommen, auch durch die globalen ökonomischen Verwerfungen der Austeritätspolitik. Die Staaten des Nordens versuchen, ihre Krisen durch mehr Exporte zu überwinden, was die Konkurrenten im globalen Süden weiter unter Druck setzt. Mit der Finanzkrise haben weltweit Massenarbeitslosigkeit und Staatsschuldenkrisen zugenommen. Die Spielräume für Umverteilung sind eingeschränkt. Diese Politiken verstärken die Verteilungskonflikte und das Risiko, dass sich diese konfessionalisieren und ethnisieren.

Entwicklungsszenarien

Der Hauptnutznießer der Austeritätspolitik und des globalen »Beggar-thy-neighbor«-Kapitalismus ist das transnationalisierte Kapital. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit hat eine große Zahl von Staaten Spitzensteuersätze gesenkt, Arbeitsmärkte dereguliert und nicht-kapitalistische Räume in Wert gesetzt. Oft waren neue Rechtsaußenregierungen federführend, etwa in den USA, Brasilien, Indien, Österreich oder Ungarn. Das zeigt, dass radikale rechte Regierungen kein alternatives Projekt verfolgen, sondern die prokapitalistische Politik und ihre Widersprüche noch forcieren. Dabei amalgamiert sich der autoritäre Neoliberalismus der »Mitte« mit der autoritären Rechten: Umgesetzt werden »nur« jene Teile des rechten Wahlprogramms, die die Interessen des (transnationalen) Kapitals nicht tangieren, wie etwa eine weitere Verschärfung repressiver Sicherheitspolitiken. Die »national-sozialistischen« und »Anti-Establishment«-Forderungen hingegen werden in ihr Gegenteil verkehrt. In Österreich etwa forderte die FPÖ eine Volksabstimmung zur EU- und Euro-Mitgliedschaft. In die Regierung trat sie 2017 mit einem Treuebekenntnis zu beidem ein. Im Gegenzug bekam sie das Innenministerium und konnte mit besonderer Schärfe gegen Linke und muslimische Zuwanderer vorgehen.

Für die Zukunft wird entscheidend sein, ob dieser Widerspruch zwischen rechter Propaganda und rechter Realpolitik zu einer Schwächung der Rechten führen wird. Entscheidend wird sein, einerseits einen Keil zwischen die Parteikader und ihre proletarische Basis zu treiben und andererseits die Protestwählerschaft von den Anhängern mit geschlossenem rechtsextremem Weltbild zu entfremden. Die Zukunft hängt davon ab, wie sich die unterschiedlichen Dimensionen der multiplen Krise entwickeln, die jede für sich das Potenzial einer dramatischen Zuspitzung in sich birgt. Die Wechselwirkungen sind nicht vorhersagbar. Dennoch scheinen fünf Szenarien denkbar:

1 // Autoritärer Kapitalismus: Die Tendenzen des »Durchwurstelns« und der Ad-hoc-Feuerlöschaktionen setzen sich unter den Bedingungen einer festgezurrten marktgetriebenen Gesellschaftsentwicklung global fort. In diesem Szenario geht der Aufstieg des rechtsautoritären Nationalismus ungebremst weiter, weil er nicht durch kurzfristiges Taktieren, durch Korruptionsskandale oder gar Parteienverbote eingehegt werden kann, sondern nur durch ein umfassendes sozial-ökologisches Gesellschaftsprojekt, das »alle« mitnimmt. Trotz seiner politischen Schwäche stützt sich der neoliberale Block jedoch weiterhin auf seine Macht, die in der Transnationalisierung der kapitalistischen Produktions- und Klassenverhältnisse begründet ist. Auf dieser Basis bindet er die radikale Rechte, wie in Österreich, ein. Diese kann keine Rückkehr zum ökonomischen Nationalismus durchsetzen, wie es die binnenorientierten und global nicht wettbewerbsfähigen Kapitalfraktionen favorisieren würden. Insofern die Rechte sich jedoch noch auf die fossilistischen Kapitalien stützen kann, wird sich der ideologische Kampf um die Klimafrage zuspitzen.

Dieses erste Szenario wäre gleichbedeutend mit zunehmender Barbarisierung. Der USA-China-Konflikt wird sich zuspitzen. Der Druck auf den »Westen«, China durch vor allem militärische Zwangsmittel vom »wettbewerbsverzerrenden« Staatsinterventionismus abzubringen und sich der westlich dominierten Weltwirtschaftsordnung unterzuordnen, wird steigen. Die Fortsetzung der marktgetriebenen Entwicklung sowie die Forcierung von Exportorientierung und Freihandelsabkommen mit dem globalen Süden (Compact with Africa, Economic Partnership Agreements, Mercosur-Abkommen der EU etc.) werden Konflikt- und damit Fluchtursachen verschärfen, die wiederum der Rechten ein ständiges Mobilisierungspotenzial verschaffen. Die Zahl der Toten im Mittelmeer nimmt dramatisch zu und die Rechte macht die »Sicherung« des EU-Grenzregimes zur Aufgabe souveräner Politik. Zugleich ist sie es, die die inneren Widersprüche des globalisierten Kapitalismus zuspitzt. Ihr rechtsautoritärer Nationalismus bekämpft jedoch niemals deren Ursachen, sondern immer bloß die Symptome: Er richtet sich gegen Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen, aber niemals gegen den Freihandel, der millionenfache Proletarisierung von Kleinbauern, Krieg und Flucht hervorbringt, und ebenso wenig gegen den Klimawandel als Fluchtursache. Zudem provoziert er mit seinem antimuslimischen Rassismus gerade jene ethnische Polarisierung, die er zu seinem Ausgangspunkt nimmt. Er ist damit eine Art reaktionäre Don Quijoterie. Neoliberale Regierungsbeteiligungen schwächen die radikale Rechte paradoxerweise nicht, solange es keine realistischen linken Alternativen gibt. Sie polarisiert die Gesellschaft weiter und befördert Bedingungen eines kulturellen Bürgerkriegs nach innen und – mit der Zuspitzung der Klimakrise – eines Weltbürgerkriegs.

2 // Unkoordinierter Zerfall des globalisierten Kapitalismus: In diesem Szenario entwickeln sich Nationalismusprojekte, aber anders als in den 1930er Jahren ohne dominante »nationale Bourgeoisien«. Die multilateralen Institutionen werden durch bilaterales Staatshandeln insbesondere seitens Trump weiter geschwächt. Die internationalen Spannungen nehmen zu. Die institutionellen Grundlagen für die Neuauflage eines koordinierten Krisenkeynesianismus erodieren. Nationalistische Ideologie dient zunehmend als Mittel der Exterritorialisierung innerer Widersprüche: Nicht die kapitalistische Akkumulation im Allgemeinen und die Politik der inneren Abwertung im Besonderen sind dann schuld an stagnierenden Reallöhnen und sinkenden Lohnquoten, sondern die »unfairen« Handelspraxen der ausländischen Konkurrenz. Der selektive Protektionismus, der erleichterte Marktzugänge und robuste geistige Eigentumsrechte durchsetzen soll, verselbstständigt sich: Die erschwerte Planbarkeit von Unternehmerhandeln sowie die Fragmentierung und Verteuerung von globalisierten Lieferketten führen zu einer partiellen Rückentwicklung der Transnationalisierung. Diese hat bislang als Einhegungsstruktur gegen den politischen Nationalismus gewirkt. Die transnationalen Fraktionen im Machtblock können ihre zunehmende politische Wehrlosigkeit gegen den rechtsautoritären Nationalismus aber nun nicht mehr kompensieren. Letzterer verändert nun auch – in einer Dominanz der Logik des Politischen – die Grundstrukturen des globalen Kapitalismus und provoziert ökonomische Verwerfungen mit entsprechenden gesellschaftlichen Folgewirkungen. Es kommt zu einer Renaissance der Autarkie-Ideologie der 1930er Jahre.

Mit dieser Zuspitzung zwischenimperialistischer Konkurrenz gerät die Klimagerechtigkeit gänzlich unter die Räder. »Nationale Alleingänge« in Sachen Emissionspolitik werden zum Wettbewerbsnachteil. In Ländern, die auf Energieimporte angewiesen sind, kommt es zu einer Renaissance nationaler Kohleproduktion, gefährlicher Offshore-Ölbohrungen und anderer Formen des extremen Extraktivismus. Die Klimakrise gerät völlig außer Kontrolle. Die Zuspitzung der zwischenimperialistischen Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte wiederum führt zu einer Zunahme von militärischen Drohgebärden und Zwischenfällen mit Eskalationspotenzial. Die plötzliche Rückabwicklung der Globalisierung vollzieht sich im globalen Süden angesichts der Schwäche der Linken nicht als fortschrittliche Süd-Süd-Kooperation, sondern als relativ chaotischer Prozess, in dem ausländische Direktinvestitionen und Exporte eingeschränkt werden und sich innere Konflikte verschärften. So erhöht sich die Zahl der zerfallenden Staaten.

Fluchtbewegungen infolge von Kriegen, Wirtschafts- und Klimakrisen nehmen weiter zu. Einzelne Nationen schließen sich militärisch in »Koalitionen von Willigen« zusammen und schotten sich gegen die Folgen regionaler Gewaltkonflikte ab. Der gated capitalism mit Inseln des Wohlstands in einem Meer von Chaos wird im Namen des Schutzes »unserer westlichen Lebensweise« immer offener zum Politikziel: Rücksichtslose Abschottung und die Einschränkung universeller Menschenrechte werden politikleitend. Die Krise im transatlantischen Bündnis führt zugleich zur militärischen Mobilisierung einer geschwächten Kern-EU oder einzelner EU-Staaten. Zwischenfälle am Rande des US-Empire, insbesondere im Westpazifik, in der nun eisfreien, rohstoffreichen Arktis, im Weltall und in Stellvertreterkonflikten machen einen großen Krieg zwischen den USA und China immer plausibler. Das nationalistische gesellschaftliche Klima, die emotionale Abstumpfung gegenüber menschlichem Leid und eine Entzivilisierung nach innen und außen schaffen Akzeptanz für die Unausweichlichkeit eines solchen Krieges. Die Menschheit versinkt womöglich in der absoluten Barbarei.

3 // Grün-autoritärer Kapitalismus: Die Risse im Lager der Herrschenden des »Westens« nehmen zu und verlaufen entlang der Frage, wie dem Aufstieg Chinas und seiner aktiven Industriepolitik und  grün-technologischen Dominanz begegnet werden kann. Forderungen nach einem Ende der Austeritätspolitik werden immer lauter. Mittels nationaler Industriepolitik wird eine Wiederauflage der »Deutschland AG« versucht. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit wird die neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik jedoch fortgeführt. Die grünen industriepolitischen Gegenoffensiven des »Westens« können die forcierte Rivalität mit China teilweise abmildern. Die Kosten der Klimakrise werden unterdessen nach unten abgewälzt, insbesondere durch regressive Steuern auf Fleischkonsum oder CO2-Verbrauch, ganz im Geiste grüner Konsumentensouveränität. Mit der Verschärfung der Krisentendenzen über das Jahrzehnt – insbesondere der Klimakrise, aber auch der Fluchtbewegungen, die wie im zweiten Szenario fortschreiten – wird der grüne Kapitalismus immer autoritärer. Der Autoritarismus richtet sich dabei sowohl gegen zunehmenden rechten Protest gegen die Klimapolitik wie auch gegen linksgerichtete Proteste der unteren Klassen.

4 // Globaler Green New Deal: Vielerorts entzaubert eine verbindende linke Politik den rechtsautoritären Nationalismus an der Macht und spaltet ihn entlang der Klassenfrage. Die bislang von rechts formulierte Ideologiekritik wird mit einer klugen, übergreifenden Klassenpolitik und der Vision eines Social Green New Deals verbunden. Diese Politik ist universalistisch in der Sprache, begünstigt aber im antirassistischen und feministischen Sinne die am stärksten unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft. Mindestlohnerhöhungen, eine Rekommunalisierung und Stärkung des öffentlichen Wohnungsbaus, eine progressive Mobilitätspolitik, Arbeitszeitverkürzungen und Ausbau der Care-Infrastruktur gehören zum Kern dieser neuen »Politik für alle«. Sie entkräftet die rechte Verzerrung, dass linke (Anti-Diskriminierungs-)Politik lediglich bestimmte Gruppen wie Geflüchtete, Frauen, sexuelle Minderheiten oder Behinderte vor den erbarmungslosen Gesetzen des Marktes schützt, denen auch alle anderen unterworfen sind.

Die neuen klassenbasierten Bewegungen, die sich seit Herbst 2019 von Chile über Haiti bis in den Libanon gegen die Exzesse der Austerität und des Autoritarismus richten, verstetigen und globalisieren sich. Sie repolitisieren Wirtschaftspolitik und Fragen der globalen Vermögensungleichheit. So verschiebt sich die gesellschaftliche Konfliktlinie wieder stärker in Richtung der Verteilungsfrage, die sich durch erneute ökonomische Krisen dramatisch zuspitzt. Es bilden sich Mitte-unten-Bündnisse in zentralen Konfliktfeldern der Klassengesellschaft. Im Mieterland Deutschland ist es insbesondere die Wohnungsfrage. Hier verschieben Kampagnen und Bündnisse die Grenzen des Möglichen: Forderungen nach Enteignung vertiefen sich und öffnen ganz neue Horizonte. Dies setzt – trotz allem – Hoffnungen auf verbesserte Lebensverhältnisse für alle und Zukunftsoptimismus frei, der die pessimistischen Ausgrenzungsdiskurse der Rechten nachhaltig schwächt. Das Undenkbare wird wieder denkbar.

Vor dem Hintergrund der erstarkenden Bewegungen von unten kommt es zu Linksverschiebungen in den Nationalstaaten, die sich internationalisieren und wechselseitig verstärken. Unter diesen Bedingungen radikalisiert sich der grün-liberale Flügel des Bürgertums und rückt nach links. In einem corporate liberalism sucht er die Forderungen von unten aufzugreifen, aufzuweichen und mit einer ökologischen Reformpolitik zu verbinden. Das grüne Bürgertum wird unter linker Beteiligung zur führenden Kraft. Unter dem Schlagwort eines Green New Deal entsteht ein gesellschaftliches Reformbündnis des sozial-ökologischen Umbaus. Der neue politische Horizont erleichtert Reformvorhaben mit utopischem Überschuss. Ein neues Zeitalter der großen Gesellschaftsreform und Demokratisierung bricht an. Vor dem Hintergrund erstarkender Sozialbewegungen im globalen Süden verändert sich auch das internationale System und die Entwicklungspolitik. Sie steht nun ähnlich wie in den 1970er Jahren unter den Paradigmen der Klimagerechtigkeit, Abrüstung und Kooperation. Der Green New Deal wird globalisiert und im Sinne eines neuen Internationalismus werden wirkungsvolle Institutionen zur Bearbeitung der Klimakrise geschaffen. Der Aufstieg Chinas erfolgt auf sanftem Weg im Rahmen dieser Institutionen, die die neuen Kräfteverhältnisse im Weltsystem widerspiegeln. China spielt  im Rahmen des Technologietransfers eine immer wichtigere Rolle. Regionale Integrationsbemühungen im globalen Süden orientieren sich zunehmend an gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen. Einzelne Ländergruppen streben aufgrund der wachsenden internationalen Freiräume erfolgreich eine Entkopplung (delinking) an, eine partielle Deglobalisierung. Mit Konzepten einer Reagrarisierung und regionalen Wirtschaftskreisläufen wird versucht, die Gesellschaftskrisen insbesondere in Afrika zu bearbeiten.

Die radikal antikapitalistische Linke spielt in diesem Szenario eine entscheidende, aber letztlich untergeordnete Rolle. Sie wird an der Regierungsmacht beteiligt, aber führt nicht. Sie entradikalisiert sich: Massive Redistribution und Regulation werden zu entscheidenden Ebenen der Krisenbearbeitung. Der Abbau von Emissionen und von sozialer Ungleichheit erfolgt auf dem Wege einer aktiven Industrie-, Struktur- und öffentlicher Beschäftigungspolitik. Es kommt zu Rekommunalisierungen sowie zu einer Dekommodifizierung und Demokratisierung der Arbeitswelt, doch die private Kontrolle über die Produktionsmittel wird nicht angetastet. Entsprechend werden der Abbau sozialer Ungleichheit und die Reduktion umweltschädlicher Emissionen hinter den Zielen zurückbleiben. Der Klimawandel schreitet voran und seine Auswirkungen werden im öffentlichen Diskurs verhandelt. Die Klassengesellschaft ist durchlässiger geworden, aber die Lebensverhältnisse vom Bildungssektor bis hin zum Wohnen sind weiterhin von Ungleichheit geprägt. Allerdings hat sich die Ausgangsposition der linken Arbeiterbewegung für die unvermeidlichen Klassenauseinandersetzungen verbessert. Die Organisations-, Markt- und Produktionsmacht der Gewerkschaften ist hoch. Die Institutionalisierung der linken konfliktorientierten Politik hat aber auch einen neuen staatsfixierten Technokratismus, eine neue linke Staatsklasse hervorgebracht, die demobilisierend wirkt. Die Reformen drücken ähnlich wie in den 1970er Jahren auf die Profitabilität des Kapitals und kündigen die nächste organische Krise an.

5 // Grüner Sozialismus: Das fünfte Szenario entwickelt sich ähnlich wie das vierte, vollzieht sich aber unter Führung der antikapitalistischen Linken. Die Bewegung geht von Industrienationen mit entsprechenden ökonomischen und politischen Spielräumen aus und formuliert explizit ein revolutionär-realpolitisches »Übergangsprogramm«. Das Ziel einer sozial-ökologischen Transformation basiert auf dem Umbau des Staates und einer permanenten Demokratisierung. Dabei spielen verschiedene Formen der Sozialisierung eine Rolle, die neue Eigentumsformen als strukturelle Gegenmacht zum Kapital etablieren. Die Kontrolle des Bankenwesens, womöglich durch eine neue Finanzkrise und »Bankenrettungen«, wird zum Hebel der sozial-ökologischen Investitionskontrolle. Zudem werden in den transnationalen Konzernen neue wirtschaftsdemokratische Strukturen aufgebaut. Ein Bündnis von neosozialistischen Staaten forciert multilateral den Umbau hin zu einer demokratisch geplanten grünen Industriepolitik. Es organisiert einen solidarischen Internationalismus mit nicht marktvermittelten Austauschstrukturen, etwa für Bedarfsgüter und technologisches Wissen. Das Ziel dieses grünen Sozialismus ist die nachhaltige und umfassende Überwindung der multiplen Krisen, wobei die gesellschaftliche Kontrolle der Produktionsmittel den Schlüssel darstellt. Produktions- und Lebensweisen werden schnell, radikal und bewusst umgestaltet. Die Klimakrise hat zweifellos starke Zerstörungen hervorgerufen. Das Erschrecken über die Destruktionskraft von 250 Jahren bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft ist groß und schlägt sich im öffentlichen Leben, in der Wissenschaft, in Kunst und Kultur nieder. Aber die Eindämmung der Klimakrise ist nun ein realistisches Ziel. Die Menschheit überlebt und ebenso überlebt die Menschlichkeit.

Eine Langfassung dieses Textes findet sich demnächst auf Luxemburg-Online.

 

Literatur

IfG – Institut für Gesellschaftsanalyse, 2009: Die Linke in der Krise. Strategische Herausforderungen, in: Zeitschrift LuXemburg 1/2009, legacy.zeitschrift-luxemburg.de/die-linke-in-der-krise/

Dass., 2011: Organische Krise des Finanzmarktkapitalismus: Szenarien, Konflikte, Konkurrierende Projekte,
RLS-Papers, Berlin