| Die Türkei zwischen neuer EU-Annäherung, geopolitischen Verwicklungen und Putschbedatte

Juni 2021  Druckansicht
Von Axel Gehring

Im Frühjahr 2016 gab es Berichte über wachsenden Unmut innerhalb der Türkischen Streitkräfte und trotz eines energischen Dementi des Generalstabes folgte am 15. Juli ein Putschversuch einzelner Fraktionen des Militärs. Am 4. April 2021 veröffentlichten 103 pensionierte Admirale über Medien eine Erklärung, die erneut für Debatten und eine harsche staatliche Gegenreaktion sorgte.

Die Erklärung sorgte sich um eine Aufweichung des Abkommens von Montreux, das seit 1936 die freie Passage ziviler Schiffe durch die Meerengen um Istanbul garantiert und jene von Kriegsschiffen reglementiert. Zudem kritisiere sie eine wachsende Islamisierung der Streitkräfte. Die türkische Regierung, ihre Allianzpartnerin MHP sowie diverse regierungsnahe, islamistische und nationalistische Medien verurteilten die Erklärung rasch. Sie sei vom Putschgeist getragen. Noch am gleichen Tag leitete die Staatsanwaltschaft in Ankara Ermittlungen gegen die Unterzeichner ein. Wenige Tage später wurden die ersten zehn Admirale festgenommen. Ebenso rasch nutzte die AKP ihre staatsapparative und zivilgesellschaftliche Organisationsmacht, um die Strafverfolgung mit einer breiten Kampagne zu unterstützen. 910 Assoziationen, 408 Stiftungen, 114 Kammern, 550 Gewerkschaften und 46 Föderationen stellten öffentlich Strafanzeige gegen die Deklaration der pensionierten Admirale.

Dass der Streit über ein internationales Meerengenabkommen so hohe Wellen schlagen konnte, hat viel mit einer Verschiebung der innenpolitischen Machtbalance zu Lasten jener kemalistisch-nationalistischen Kräfte zu tun, die nach dem Putschversuch 2016 verstärkt in den Machtblock eingebunden worden waren. Wesentliche Ursache dafür ist die erneute Annäherung der AKP-Regierung an die EU im Kontext der multiplen Krise der Türkei.

Der außenpolitische Anlass: Vertrag von Montreux und der Istanbul-Kanal

Das Abkommen von Montreux hat in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung hohe symbolische Bedeutung. Mit dem 1936 geschlossenen Abkommen hatte die Türkei ihre Souveränität über die Meerengen der Dardanellen und des Bosporus zurückerlangt.[1] Im Zuge einer sich stärker offensiv ausrichtenden türkischen Außenpolitik und der schrittweisen, aber breiten innenpolitischen Revision kemalistischer Narrative wurde das Abkommen jedoch von gewichtigen Teilen der Regierung zunehmend in Frage gestellt. Hinzu kommt das schon vor einigen Jahren konzipierte Projekt des Istanbul-Kanals, der den bisher frei passierbaren Bosporus als kostenpflichtige künstliche Wasserstraße ergänzen soll. Ohne Revision oder Änderungen des Vertrages von Montreux stellt sich die Frage nach der Rentabilität des projektierten Kanals. Allerdings bemühen sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Krise in der Türkei und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Istanbul-Kanals nun chinesische Konzerne darum, das Projekt durch Erwerb von Grundeigentum entlang des Kanals zu finanzieren.

Durch die komplexen ökonomischen Verwicklungen wird zunehmend unklar, welche geopolitischen Implikationen der Kanal hätte: Würde er dazu beitragen den Vertrag von Montreux aufzuweichen und damit westlichen Kriegsschiffen den Zugang zum Schwarzen Meer erleichtern und ist in diesem Sinne ein pro-westliches Projekt? Oder bedeutet eine mögliche chinesische Finanzierung einen Schritt hin zur ökonomischen Desintegration der Türkei aus dem Westen? Haben westliche Regierungen überhaupt ein Interesse daran, im Kontext einer zunehmenden globalen Mächtekonkurrenz hier ein weiteres Konfliktfeld zu öffnen, während militärische Kapazitäten zunehmend im pazifischen Raum gebunden werden und der Vertrag von Montreux den Zugang ihrer Marinen zwar begrenzt, aber nicht gänzlich verbietet? Vor allem ist offenkundig, dass die Revision des Vertrages auch die Balance innerhalb des türkischen Machtblocks destabilisieren würde.

Die Erklärung vom 4. April zeigte das innenpolitische Eskalationspotenzial dieser außenpolitischen Angelegenheit: Die 103 pensionierten Admirale argumentieren in jener neutralistischen Semantik, die den außenpolitischen Diskurs in der Türkei in der Zwischenkriegszeit prägte und sich real in flexiblen Arrangements mit den Achsenmächten und den Alliierten niederschlug. Konkret betonen sie, dass der Vertrag von Montreux das Schwarze Meer zu „einem Meer des Friedens“ mache und die Türkei auf Grund dessen lang ihre Neutralität im Zweiten Weltkrieg wahren konnte. Sie sehen die Streitkräfte als die Beschützer des Mutterlandes und des „Mavi Vatan“ (Blaues Heimatland) – jene von ihnen maßgeblich entwickelte expansionistische Doktrin der Ausdehnung der türkischen Landesgrenzen in die umgebenden Meere, welche in den letzten Jahren die maritime Politik der AKP-Regierung geprägt hat. Diese Politik sorgte insbesondere für wachsende Spannungen mit Griechenland über den Verlauf von Seegrenzen und Wirtschaftszonen und schädigte massiv die Reputation der Türkei innerhalb der EU.

Des Weiteren betonen die Verfasser der Erklärung in einem Unterton, der an die Putschmemoranden vergangener Jahrzehnte erinnert, die „unabänderbaren fundamentalen [säkularen A.G.] Werte der Verfassung“ und verurteilen „mit der Kraft all ihrer Existenz“ die Versuche, die Türkei vom Pfad Atatürks wegzudrängen.

Fortwährende Rekomposition des türkischen Machtblocks

Eine nationalistische Politik, die zuweilen Konflikte mit westlichen Staaten sucht, ist in den letzten Jahren Teil einer größeren Praxis gewesen, mit der die AKP Führungsfähigkeit über eine disparate Koalition von ehemals verfeindeten nationalistisch-islamistischen und nationalistisch-kemalistischen Kräften erlangte. Mavi Vatan bildet auf dem Feld der maritimen Politik den konkreten Ausdruck jener Rekomposition des türkischen Machtblocks, die bis zur offenen Hegemoniekrise der AKP in Folge der Gezi-Proteste im Jahr 2013 zurückdatiert.

Bis dahin hatte es die AKP vermocht die materiellen Interessen der führenden Klassen an einer tiefen Integration in den europäisch-transatlantischen Raum mit einer Politik zu verknüpfen, die ihrerseits die verbliebenen kemalistischen Kräfte mittels des Weges einer EU-Integration bekämpfte und so ihre Position an der Regierungsmacht konsolidierte. Statt eines offen islamistischen Diskurses hatte die AKP zunächst einen prowestlich-antijakobinischen Diskurs bemüht, der das Land vom autoritären Modernismus kemalistischer Prägung – als eigentlichem Hindernis der EU-Annäherung – „emanzipieren“ wollte. Im Bündnis mit liberalen Intellektuellen und der islamistischen Gülenbewegung rechtfertigte sie unter diesem Topos die Verfolgung eines breiten oppositionellen Spektrums. Die ursprünglich in einem pro-westlichen Diskurs eingebettete islamistische Transformation des Landes stieß so zunächst im Inneren auf wachsende Widerstände, die sich schließlich 2013 vor der internationalen Öffentlichkeit in Gestalt der Gezi-Revolte entluden (vgl. Gehring 2016). Die Formen der Aufstandsbekämpfung und die Aufgabe der pro-westlich islamistischen Erzählung führten jedoch zum Bruch der liberalen Intellektuellen und der Gülenbewegung. Zuvor von der Gülenbewegung verfolgte Offiziere wurden zwecks Machterhalt rehabilitiert und diese gingen ein Zweckbündnis mit der AKP ein. In dem sie ihren Gesprächsprozess mit der PKK aufkündigte und ein erneuter Kriegszustand folgte, sicherte sich die angeschlagene AKP 2015 nicht nur nationalistische Stimmen, sondern festigte auch dieses Bündnis, während insbesondere der Polizei- und Gendarmerieapparat mehr und mehr von islamistischen Gruppen durchdrungen wurde. Das Unbehagen von Teilen der Eliten dagegen formierte sich in Form eines heterogenen Bündnisses aus Gülenenisten und pro-westlichen Kemalisten. Es putschte am 15. Juli 2016. Mangels eines artikulationsfähigen alternativen gesellschaftlichen Projektes unterlag es jedoch dem breiteren und besser organisierten Bündnis unter Führung der AKP, welches sich nicht zuletzt auf zahlreiche Milizen und islamistische Kräfte in den Sicherheitsapparaten stützen konnte (vgl. Gehring 2019a).

Danach intensivierte die AKP nicht nur die anhaltende Verfolgung der Opposition insgesamt, sondern festigte ihre Allianz mit rechtskemalistischen Kräften. Sie kooptierte die faschistische MHP und die elektoral bedeutungslose eurasische Vatan Partisi, die aber eine gewisse politische Bindekraft in Teile des Offizierskorps hinein entfaltet. In dieser Allianz wurde die türkische Außenpolitik soweit nationalistischen Erwägungen unterworfen, dass ein Dissens mit den USA und verstärkte Konsultationen mit Russland nun offen sichtbar inszeniert wurden. Neben dem Erwerb von russischen S-400-Luftabwehrsystemen ermöglichte ihr das nicht zuletzt die Invasionen Nordsyriens, die nicht nur US-amerikanisches, sondern auch russisches Einverständnis voraussetzten. Auch die maritime Doktrin vom Mavi Vatan und die Versuche ihrer Umsetzung entspringen jedenfalls wesentlich dieser nach 2016 gebildeten Allianz. Indem hochrangige Offiziere diese Außenpolitik offensiv unterstützten, erlangten sie ihre alte mediale Präsenz zurück. Allerdings verblieb diese Reintegration in den Machtblock in einer subordinierten Position und ist verbunden mit einer wachsenden Islamisierung der Streitkräfte.

Erneute Hinwendung der AKP zur EU? Oder beständige materielle Verankerung der Türkei im Westen?

Auf die globale Wirtschaftskrise von 2007ff. reagierte die AKP, indem sie den von EU- und IWF-Politiken abgesicherten disziplinierenden Neoliberalismus der 2000er-Jahre zugunsten expansiverer Wirtschaftspolitiken aufweichte. Ein neoliberaler Populismus (Akçay 2018) bildete sich in enger Verschränkung mit der Konzentration der Regierungsmacht an der Spitze der gewählten Exekutive heraus. Nicht nur jene Institutionen, die bis dahin technokratisch über die Regulierung der Ökonomie wachten, sondern auch die Organe der Gewaltenteilung gerieten unter Druck oder büßten gewichtige Teile ihrer Autonomie ein. Während die Türkei sich im Gegensatz zu anderen mediterranen Staaten nicht in deflationär wirkenden Austeritätspolitiken verfing, verzeichnete sie hohe, aber unstete Wachstumsraten. Der Preis für die expansive Wirtschaftspolitik war eine wachsende Verschuldung, eine steigende Inflation und ein sinkender Wechselkurs. Dies eskalierte im Sommer 2018 zu einer tiefen Währungs- und Wirtschaftskrise. Während sich die Spitze der Exekutive unter Führung von Präsident Erdogan der expansiven Wirtschaftspolitik nicht zuletzt aus Gründen des Machterhalts verschrieben hatte, wurden in den Staatsapparaten und Medien ebenfalls Stimmen lauter, die für eine Stärkung der lokalen Produktion und nationalen Unabhängigkeit eintreten – yerili ve milli (lokal und national) wurde ihr Schlagwort. Dieser Versuch einer Neuauflage importsubstituierender Wirtschaftspolitik trägt ökonomisch einerseits der durch den Währungsverfall und schwindenden Devisenreserven reduzierten Importkapazität Rechnung, anderseits korreliert sie mit den Interessen jener Kreise, die die nationalistische Außenpolitik der letzten Jahre mitformulierten.

Nicht zuletzt der Aufstieg der eurasischen Kräfte hat in den letzten Jahren zu einer Vielzahl von Debatten darüber geführt, ob die Türkei sich anschickt, den Westen zu verlassen. Doch in der Regel wird dabei die strukturelle Tiefe ihrer ökonomischen Integration in die regionale transatlantisch-europäische Ordnung übersehen (vgl. Gehring 2019b). Die führenden türkischen Konzerne sind durch Absatz-, Kredit- und Investitionsbeziehungen, Patentzugänge sowie durch ihre Einbindung in Produktions- und Lieferketten tief in die westlichen Märkte integriert. Selbst jüngere Exporterfolge in ihre mediterrane Nachbarschaft sowie in die post-sowjetischen Staaten beruhen nicht unwesentlich auf dieser Einbindung in das lokale kapitalistische Zentrum namens EU, welche der Türkei die Möglichkeit gibt, anspruchsvollere Produkte zu produzieren als die meisten anderen Ökonomien der Region. Den Preis einer relativ geringen Produktionstiefe und Abhängigkeit von anspruchsvollen Vorprodukten sind sie bereit zu entrichten, solange sie selbst profitabel produzieren oder es unklar ist, ob sie unter einem unilateral errichteten importsubstituierenden Regime weiterhin den nötigen Patentzugang für die Produktion anspruchsvoller Endgüter hätten. Als Innere Bourgeoisie (Poulantzas) stellen sie die ökonomisch wie politisch bei weitem wirkmächtigste Kapitalfraktion dar. Sie standen hinter den in den neunziger Jahren eingeführten disziplinierend-neoliberalen Politiken und stehen nach wie vor hinter dem EU-Beitrittsprojekt, das offiziell nie ad acta gelegt wurde. Ebenso beobachteten sie die niedrige Zinspolitik der Türkischen Zentralbank mit Skepsis – dies entspringt wesentlich ihrem Bedürfnis nach überschaubaren Wechselkursrisiken im Kontext ihrer Verschuldung in Fremdwährung sowie nach günstigen Importen für den Produktionsprozess. Allerdings scheut sich die Spitze der AKP davor, ihren Wünschen nach einer strafferen Geldpolitik und einer Stärkung technokratischer Institutionen im vollem Umfang Rechnung zu tragen – denn die damit verbundenen Reformen wären unter der lohnarbeitenden Bevölkerung unpopulär. Doch wegen der Tiefe ökonomischer Krisen und im akuten Kontext von akuten Abwertungsdynamiken der Lira sieht sich die AKP gezwungen, den Argumenten der Inneren Bourgeoisie ein stärkeres Gewicht einzuräumen. Vor Wahlen werden zugleich Schwenks in Richtung einer stärker expansiven Wirtschaftspolitik vollzogen. Angesichts der ausgeprägten Konzentration der politischen Macht an der Spitze der Exekutive sind die divergierenden ökonomischen Interessen kaum mehr flexibel gestaltbar. Abrupte Schwenks in Strategie- und Personalentscheidungen sind charakteristisch, während eine dauerhafte monetaristische Währungspolitik kaum durchsetzbar ist (Gehring 2018).

Auf dem Höhepunkt der Währungskrise im Sommer 2018 gab Präsident Erdogan schließlich drastischen Zinserhöhungen seine Einwilligung, behielt aber über seine Dekretvollmachten die Zentralbank unter seiner Kontrolle. Derweil hielt die türkische Regierung auch außerhalb der EU und der USA nach Finanziers für die Leistungsbilanzdefizite Ausschau. Während dies in einem nur unzureichenden Maße gelang, wurden rasch wieder Schritte zu einer expansiveren Geld- und Wirtschaftspolitik vollzogen. Allerdings brachte der Ausbruch der Corona-Krise im Frühjahr 2020 die fragile ökonomische Erholung zum Erliegen. Das Leistungsbilanzdefizit schoss in die Höhe und die Lira geriet im Laufe des Jahres wieder unter verschärften Abwertungsdruck. Im November 2020 ersetzte Präsident Erdogan den Präsidenten der Türkischen Zentralbank durch den Vertreter einer stärker monetaristischen Linie (FAZ Online, 7.4.2021). Bereits im März 2021 revidierte er diese Entscheidung wieder zu Gunsten eines Vertreters expansiverer Geldpolitik. Doch insgesamt zeichnet sich für die AKP-Akteure im Machtblock sehr deutlich ab, dass die strukturellen ökonomischen Probleme nicht allein auf dem Wege der Geldpolitik bearbeitet werden können. Die Hoffnung der Eurasier und einiger islamistischer Fraktionen, die Ökonomie durch eine rasche Hinwendung zu nichteuropäischen Staaten zu stabilisieren hat sich derweil nicht erfüllt. Insbesondere die führenden Kapitalfraktionen wissen um die qualitative Tiefe der Integration der türkischen Wirtschaft in das Zentrum EU. Daher bemüht sich die türkische Regierung seit einigen Monaten wieder um eine verstärkte Annäherung an die EU und sprach im Winter sogar von angestrebten Verbesserungen auf dem Feld der Menschenrechte.

Im politischen Alltag hält jedoch staatliche Repression an und die Konfrontation gegenüber oppositionellen Kräften wurde im Frühjahr verschärft. Während die Regierung innenpolitisch durch den Austritt aus der (nicht implementierten) Istanbul Konvention den Konflikt mit der Frauen- und LGBTQ-Bewegung suchte und sogar Positionen AKP-naher Frauenorganisationen öffentlich zur Disposition stellte, kam es im März zu einem Verbotsantrag gegen die HDP. Wegen Formfehlern wurde er vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt. Ende Mai fanden wieder neue Verhaftungskampagnen gegen HDP-Aktivist*innen statt. Kurzum: Im Vorfeld nicht allzu weit entfernter Parlamentswahlen verfolgt die AKP ihre etablierten Taktiken der Repression und Polarisierung.

Dennoch bewegte sich die EU sich in den vergangenen Monaten auf die Türkei zu und besuchte Anfang April mit einer hochrangigen Delegation die Türkei. Obwohl die EU-Kommissionspräsidentin van der Leyen im abschließenden Pressestatement die Bedeutung von Menschen- und insbesondere Frauenrechten betonte, ging es bei den Gesprächen in Ankara schlicht um eine andere Agenda: Die Türkei soll weiterhin die ihr zugedachte Aufgabe als Migrationsbollwerk erfüllen und ihre außenpolitischen Beziehungen insbesondere zu EU-Staaten verbessern sowie zudem in Konflikten in denen die EU erhebliche Interessen sie nicht offensiv herausfordern. Während die türkische Regierung im mediterranen Gasstreit seit dem Spätherbst 2020 ihre militärische Präsenz erheblich reduzierte, deutete EU-Ratspräsident Michel an, dass bei den Gesprächen in Ankara Fortschritte hinsichtlich des türkischen Engagements in Libyen erzielt wurden (FAZ Online, 6.4.2021). Die EU-Staaten haben wenig Interesse an einer weiteren Eskalation des dortigen Konfliktes, da sie selbst konkurrierende Seiten unterstützen. Mit den im Frühjahr erreichten Ergebnissen, zeigten sich der Europäische Rat und die EU-Kommission leidlich zufrieden, was der Besuch beim türkischen Präsidenten zum Ausdruck brachte. Im Gegenzug kommen sie der Türkei bei der Zollunion – dem Kernprojekt der EU-Türkeibeziehungen – entgegen. Die von Ankara seit langem geforderte Aktualisierung der Zollunion soll in Angriff genommen werden. Während zu diesem Entgegenkommen noch wenig Konkretes bekannt ist, sind die Kernprobleme aus türkischer Sicht seit langem benannt: Die Zollunion umfasst keine Agrargüter, gerade dort kann die Türkei aber Wettbewerbsvorteile geltend machen, gleiches gilt für Dienstleistungen. Vor allem aber muss die Türkei zum Zolltarif der EU aus Drittstaaten importieren, kann bei eigenen Exporten dorthin aber nicht die zumeist günstigeren Zolltarife der EU für sich geltend machen. Sollte die Türkei ihre handelspolitischen Vorstellungen umsetzten können, so könnte sie ihre Industrie und Landwirtschaft weitaus günstigere Konditionen im Außenhandel verschaffen und damit in einem erheblichen Umfang Leistungsbilanzdefizite reduzieren, da sie selbst dabei keine weiteren Importliberalsierungen vornehmen müsste. Der Weg stärker über verbesserte Außenhandelskonditionen die Leistungsbilanzprobleme anzugehen verspräche zudem mehr Arbeitsplätze in der Industrie und eine geringere Abhängigkeit von grobschlächtigen geld- und währungspolitischen Manövern, die nur kurzfristig Abhilfe verschaffen, aber die Beziehungen im Machtblock, sowie zwischen Machtblock und Bevölkerung erheblich belasten. Eine Verbesserung der Beziehungen zur EU gewinnt damit für die AKP wieder eine höhere ökonomische Bedeutung – dies erklärt auch das Bestreben außenpolitische Spannungen abzubauen. Und nicht zuletzt kommt die Aussicht auf weitere Milliarden im Rahmen des EU-Flüchtlingsdeals.

Montreux als hegemoniale Konzession an die Offiziere?

Migrations- und geopolitische Erwägungen sind derzeit die Kerndeterminanten europäischer Türkeipolitik. Fragen von Demokratie und Menschenrechten werden untergeordnet. Derweil sind für die EU-Politik der Türkei ökonomische Interessen so entscheidend, dass ihnen inzwischen außenpolitische Expansionsgelüste zumindest dort wo sie EU-Interessen gefährden, wieder eher untergeordnet werden. Der Rekurs der EU-Kommissionspräsidentin auf Menschen- und insbesondere auf Frauenrechte dient primär legitimatorischen Erfordernissen im Inneren – namentlich der symbolischen Einbindung des europäischen Parlaments, das sich kritischer positioniert. Das Pendant auf türkischer Seite dazu bildete beispielsweise die protokollarische Herabsetzung der Kommissionspräsidentin sowie die jüngste kontrollierte Eskalation auf einer Pressekonferenz zwischen den Außenministern Griechenlands und der Türkei – nationalistische Kreise gilt es beständig an die AKP zu binden. Doch die Erklärung der pensionierten Admirale illustriert, wie sehr zumindest der kemalistische Flügel des türkischen Nationalismus innerhalb des Machtblocks zuletzt an Einfluss verloren hat.

Allerdings ist das 2011 initiierte Kanalprojekt älter als das Zweckbündnis zwischen AKP und kemalistischen Militärs. Damals harmonierten das islamistische Hegemonieprojekt der AKP und eine im Kern pro-westliche außenpolitische Ausrichtung noch leidlich und die Kritiken am Kanal waren primär ökologische und ökonomische Bedenken zivilgesellschaftlicher Kräfte. Erst durch die angespannten westlich-russischen Beziehungen wurde die Frage des Kanals verstärkt geopolitisch aufgeladen. Im Falle einer Revision von Montreux wäre das Schwarze Meer auch für große westliche Flottenverbände zugänglich. Gleichwohl wurde derartiges noch nicht einmal während des ersten Kalten Krieges angestrebt, zudem werden heute mehr und mehr Marinekräfte im Indopazifik gebunden.

So haben sich bis heute weder Russland noch westliche Staaten positiv zu einer möglichen Revision des Vertrages von Montreux geäußert. Und während Präsident Erdoğan die pensionierten Admirale verfolgen ließ, würdigte er die historischen Errungenschaften von Montreux und kündigte an daran gebunden zu bleiben, bis es die Möglichkeit für ein besseres Abkommen gäbe. Das allerdings setzt Übereinkommen sämtlicher Vertragsmächte voraus – ein höchst unwahrscheinlicher Fall. Ob Erdoğan primär vor den innenpolitischen Druck oder vor dem Hintergrund der außenpolitischen Konstellation die Revision ad acta legte sei dahingestellt. Es fällt jedoch auf, in welcher Form sich westliche Interessen mit denen des türkischen Präsidenten sich im Ergebnis überschneiden: Der Erhalt des Vertrages von Montreux ermöglicht es neutralistische und eurasische Kräfte weiterhin an die AKP zu binden, aber damit ihren Einfluss auf anderen Feldern – darunter solchen, die für das Verhältnis zur EU wichtig sind – sukzessive zu begrenzen. Ihre Frustration und die daraus resultierenden Spannungen im Machtblock sind dennoch nicht zu unterschätzen.

Doch schon im Juli 2016 zeigte sich, dass die damals putschenden Offiziere kein gesellschaftliches Gegenprojekt vertraten, welches auch von führenden Klassenakteuren unterstützt wurde – ihnen fehlte in der Putschnacht nicht zuletzt deshalb eine breitere Unterstützung. Die politischen Dynamiken des türkischen Machtblocks, speisen sich nicht nur aus den Interessen der politischen, sondern wesentlich auch denen der führenden ökonomischen Akteure. Sie werden im Kalkül der AKP berücksichtigt. Dies begrenzt auch die reale Macht jener Offiziere, die sich als Eurasier verstehen, aber weder über eine hinreichende Massen- noch Klassenbasis verfügen.

Literatur

Akçay, Ümit, 2018: Die Krise der türkischen Wirtschaft und die Grenzen abhängiger Finanzialisierung; doi.org/10.32387/prokla.v48i193.1149

Gehring, Axel, 2016: Die Türkei vor einem Putsch? , in: LuXemburg Online, legacy.zeitschrift-luxemburg.de/die-tuerkei-vor-einem-putsch/

Ders., 2018: Brüchige Stabilität. Die Türkeit nach den Wahlen, in: LuXemburg-Online, Juli 2018, legacy.zeitschrift-luxemburg.de/bruechige-stabilitaet-die-tuerkei-nach-den-wahlen/

Ders., 2019a: ‘Crisis of Hegemony, but no Counter-Hegemonic Project – Making Sense of the Failed July 15th Coup in Turkey; Failed July 15th Coup in Turkey’; in: Christofis, Nikos: Erdoğan’s ‘New Turkey’: The Attempted Coup d’état and the Acceleration of Crisis in Modern Turkey, London, 140–155.

Ders., 2019b: NATO-Austritt der Türkei?, in: Wissenschaft und Frieden 1/2019, 33–36, www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=2344

Anmerkung

[1] Die darin geregelte freie Passage zivilen Schiffsverkehrs und die strikte Reglementierung militärischen entsprach den gemeinsamen Interessen der Vertragsmächte, die neben Balkanstaaten auch die UdSSR, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Japan umfassten. Tatsächlich gelang über Jahrzehnte mit dem in seinem Geist neutralistischen Abkommen regionale Konfliktdynamiken zu begrenzen. Während des Zweiten Weltkrieges konnten weder Schiffe der Achsenmächte noch der Alliierten das Schwarze Meer erreichen, im Kalten Krieg und heute können Flugzeugträger und große Schiffsverbände der NATO dies ebenfalls nicht.