| Die Proteste in Wisconsin

Juni 2011  Druckansicht
Von Erik Olin Wright und João Alexandre Peschanski

Im Februar und März 2011 erlebte der US-Bundesstaat Wisconsin die größten und nachhaltigsten politischen Proteste seiner Geschichte. Während dieser Proteste wurde der Regierungssitz in Madison von tausenden Menschen für eine Dauer von 17 Tagen besetzt, und an den Kundgebungen außerhalb des Gebäudes nahmen zeitweise mehr als 100000 Menschen teil. Die Proteste in Wisconsin erhielten enorme Beachtung seitens der Medien, und sie rüttelten die Arbeiter in Ohio, Michigan, Indiana und Maine auf. Hier kommt die Geschichte dieser Ereignisse.

Die Hintergründe

Wisconsin liegt am Michigansee nordwestlich von Chicago. Im 19. Jahrhundert ließen sich hier Immigranten aus Deutschland, Skandinavien und Polen nieder. Es leben fünfeinhalb Millionen Menschen in Wisconsin, und das Pro-Kopf-Einkommen liegt unter dem USDurchschnitt. Obwohl in Wisconsin immer noch mehr produziert wird als in vielen anderen ehemaligen Industrieregionen und die Arbeitslosenquote gegenwärtig unter dem nationalen Durchschnitt liegt (7,5 gegenüber 8,8 Prozent), ist der Bundesstaat ökonomisch gesehen Teil des deindustrialisierten »Rostgürtels«. In politischer Hinsicht handelt es sich um einen »swing state«, in dem sich die konservativen Republikaner und die progressiveren Demokraten die Wage halten. In den 1940er und frühen 1950er Jahren wurde hier Joseph McCarthy zum Senator gewählt, der scharf rechtsgerichtete Antikommunist, dessen Name Symbol politischer Repression während des Kalten Krieges war. Allerdings wurden hier auch einige der progressivsten Politiker der amerikanischen Geschichte gewählt.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2008 wurde Obama in Wisconsin mit einer Mehrheit von 56 gegenüber 42 Prozent gewählt, und die Demokraten zogen in beide Kammern des Parlaments ein (bereits 2006 wurde ein Demokrat zum Gouverneur gewählt). Bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus im November 2010 gewannen die Republikaner die Mehrheit in beiden Kammern und stellten den Gouverneur. Scott Walker – der von der rechtsgerichteten Tea-Party-Bewegung unterstützte Kandidat der Republikaner – konnte auf eine breite konservative Strömung zurückgreifen. Aber sein Erfolg ist weniger zurückzuführen auf die Beliebtheit seines politischen Programms als auf die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage in Wisconsin. Die Wahlbeteiligung sank von 60 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2008 auf 49 Prozent, was v. a. auf die Nichtbeteiligung der ehemals demokratischen Wählerschaft zurückzuführen ist. Die Wahlen wurden eher durch Apathie und Enttäuschung entschieden als durch einen eindeutigen Wechsel der politischen Einstellungen.

Die ausschlaggebenden Ereignisse

Als Walker im Januar 2011 sein Amt antrat, brachte er als eine der ersten Maßnahmen ein Paket unternehmerfreundlicher Steuersenkungen ins nun von Republikanern dominierte Parlament ein – er rechtfertigte sie mit Investitionserleichterungen und dem Zuwachs von Arbeitsplätzen. Die Steuergeschenke beliefen sich auf 140 Millionen Dollar, von denen 121,4 Mio im Etat des laufenden Haushaltsjahrs veranschlagt waren. Oder wie es auf einem Plakat in Walkers Büro hieß: »Wisconsin is now open for business!« (»Wisconsin ist bereit für Geschäfte!«). Die Steuersenkungen verursachten umgehend eine »Krise« in der Haushaltspolitik. Da die USBundesstaaten verpflichtet sind, einen ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, legte Walker ein »Gesetz zur Haushaltssanierung« vor. Es sah eine Reihe sofortiger Haushaltskürzungen vor, entscheidender waren aber die Maßnahmen, die nicht unmittelbar etwas mit dem Haushalt zu tun hatten. Insbesondere beinhaltete das Gesetz Festlegungen, die dazu bestimmt waren, Gewerkschaften im öffentlichen Sektor des Bundesstaates zu zerstören. Walker rechtfertigte die »Eindämmung« der Gewerkschaftsrechte mit der notwendigen Flexibilität, mit der lokale und Bundesbehörden auf fiskalische Probleme zu reagieren hätten. Das eigentliche Ziel war die Zerschlagung sämtlicher Gewerkschaften.

Das Arbeitsrecht in den Vereinigten Staaten ist eine komplexe Verquickung nationaler und föderaler Rechtsbestimmungen.

Insbesondere Rechte, die Gewerkschaften für Angestellte im öffentlichen Sektor betreffen, fallen hauptsächlich in den Bereich der Bundesstaaten. Wisconsin gehörte 1959 zu den ersten Staaten, die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst rechtlich anerkannten, und hatte seitdem – für amerikanische Verhältnisse – immer starke Gewerkschaften in diesem Bereich. Zwar sind ihnen Streiks untersagt, aber sie verfügen über umfassende Rechte in den Schiedsverfahren bei Tarifstreitigkeiten. In Wisconsin ist ungefähr ein Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Dienst Mitglied einer Gewerkschaft. Aufgrund des massiven Niedergangs der Gewerkschaften in der Privatwirtschaft (mit momentan weniger als zehn Prozent Organisierungsgrad) während der letzten zehn Jahre sind die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor zum Herz der amerikanischen Arbeiterbewegung geworden. Die Konservativen waren gegenüber Gewerkschaften immer äußerst feindselig eingestellt, sowohl weil Gewerkschaftsmacht offensichtlich Klasseninteressen berührt, als auch aufgrund der politischen Bedeutung der Gewerkschaften als Unterstützer der Demokratischen Partei. Die republikanische Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments und das Amt des Gouverneurs sahen Walker und seine Anhänger als einzigartige Chance, die letzten Bastionen der Gewerkschaftsmacht anzugreifen. (Drei Gewerkschaften blieben von den rechtlichen Beschränkungen verschont – die der Polizei, der Staatspolizei und der Feuerwehr. Sie alle hatten Walker im Wahlkampf unterstützt…) Die Maßnahmen des Gesetzes sahen vor, dass die Gewerkschaften sich jedes Jahr aufs Neue durch ihre Mitglieder als zuständige Interessenvertretung bestätigen lassen. Gewerkschaftsbeiträge dürften nicht automatisch vom Gehalt abgezogen werden – die Mitglieder sollten sie jeden Monat gesondert bezahlen. Gewerk ­schaften würde es nicht erlaubt sein, an formalen Beschwerdeverfahren teilzunehmen, und es würde ihnen verboten, über andere als Lohnfragen zu verhandeln – und selbst Lohnforderungen dürften die Inflationsrate nicht übersteigen. Unter diesen Bedingungen wären die Gewerkschaften im staatlichen Sektor schnell verkümmert.

Am 14. Februar, am Valentinstag, wurde das Gesetz offiziell vorgelegt. An diesem Tag begannen die Proteste in spielerischer Art und Weise. Die Teaching Assistants’ ­Association (TAA) der University of Wisconsin, die älteste Gewerkschaft von Angestellten in universitärer Forschung und Lehre des Landes, verteilte Valentinskarten, die an den Gouverneur adressiert waren und bekundeten: »We ♥ UW: Don’t Break My ♥« (»Wir ♥ die Universität von Wisconsin: Brich mir nicht das ♥«). Am nächsten Tag veranstaltete das Abgeordnetenhaus eine öffentliche Anhörung, in der die Menschen ihre Meinung zum Gesetz äußern konnten. Eine eigentlich rein formale Angelegenheit wurde die Anhörung für Gewerkschaftsmitglieder und Studierende zu einem Forum des Austauschs über die eigene Lebenssituation und ihre Meinung zur Regierungspolitik. Jede Wortmeldung dauerte zwei Minuten, und zusammengenommen ergaben sie eine kollektive Erzählung über die Situation von amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern unter Bedingungen der ökonomischen Krise und über die Bedeutung der Gewerkschaften bei der Verteidigung von ArbeiterInnenrechten. Auf einem Stück Papier berechnete eine Krankenschwester eilig, was Walkers Vorschläge für sie bedeuten würden; sie lebe schon jetzt mit weniger als 1 500 Dollar pro Monat. Ein Student rezitierte die Internationale. Ein Lehrer macht sich den Abgeordneten gegenüber Luft: »Sie kennen mich noch nicht, aber Sie sollten mich lieben. Ich bin großartig. Ich unterrichte Ihre Kinder. Ich arbeite mehr als 40 Stunden in der Woche, die Hälfte davon unbezahlt. Ich bringe dieses Opfer, weil ich meine Arbeit liebe. Dieses Gesetz zeigt, dass Sie nicht verstehen, was eine gesunde Gesellschaft ist, und dass Sie undankbar sind.«

Die öffentliche Anhörung dauerte siebzehn Stunden, und schlussendlich wurde sie von den Abgeordneten der Republikaner beendet. Anschließend versammelten sich die Mitglieder der TAA am Eingang des Saals und forderten »Hört uns an!« Viele der Menschen, die sich gemeldet hatten, um etwas vorzubringen, standen die ganze Nacht in der Schlange innerhalb des Parlamentsgebäudes. Die Wortmeldungen wurden am 16. Februar fortgesetzt. Am gleichen Tag organisierten die LehrerInnen der Madison school einen Sick-out (kollektives Krankmelden), um an den Protesten gegen das Gesetz teilnehmen zu können. Viele Schüler kamen mit ihnen, und am Nachmittag waren mehr als 15000 Menschen am Parlamentsgebäude versammelt. Die Anhörung dauerte abermals die ganze Nacht, und ebenso lange blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit zugänglich.

Trotz der Mobilisierung kündigte der Gouverneur an, das Gesetz werde dem Senat am nächsten Tag, dem 17. Februar, zur Abstimmung vorgelegt. Da die Republikaner die Mehrheit stellten und geschlossen hinter dem Gesetzentwurf standen, schien der Erlass so gut wie sicher. Aber dann geschah etwas Überraschendes. Die Verfassung des Staates Wisconsin legt fest, dass bei der Verabschiedung von Haushaltsgesetzen ein Quorum von 60 Prozent gilt. Das heißt, mindestens 20 Senatoren müssen an der Abstimmung teilnehmen. Bei 19 republikanischen und 14 demokratischen Senatoren hätte also wenigstens ein Abgeordneter der Demokraten bei der Abstimmung in der Kammer anwesend sein müssen. Um zu verhindern, dass die Wahl stattfindet, verließen alle 14 Abgeordeneten der Demokraten Wisconsin und begaben sich gemeinsam für mehr als zwei Wochen ins benachbarte Illinois. Der Gouverneur schickte ihnen die Staatspolizei nach Hause, aber da sie sich außerhalb des Rechtsbereichs des Bundesstaates befanden, hatte er keine Handhabe gegen sie.

Der Rückzug der Senatoren bedeutete, dass über das Gesetz nicht abgestimmt werden konnte. Er sorgte auch dafür, dass die Proteste enormen Zulauf erhielten. Tausende Menschen strömten ins Parlamentsgebäude, veranstalteten im Sitzungssaal eine Dauerkundgebung, die die Proteste, Kundgebungen und Protestmärsche außerhalb des Gebäudes ergänzte. Weil die Anhörung der Kammer täglich 24 Stunden dauerte, blieb das Gebäude geöffnet, und immer mehr Menschen kamen am Abend und übernachteten dort. Innerhalb weniger Tage entwickelte sich daraus eine massenhafte Besetzung des Parlamentsgebäudes. In den nächsten zwei Wochen blieb das State Capitol permanent besetzt, bis am 3. März der Gouverneur die Polizei anwies, das Gebäude zu räumen. Während dieser zwei Wochen erreichten die Proteste die nationalen und dann die internationalen Nachrichten. Täglich kam es zu Kundgebungen außerhalb des Parlamentsgebäudes, an denen sich zehntausende Menschen beteiligten und die an Wochenenden auf bis zu 50000 Teilnehmer anwuchsen. Die größte Kundgebung am Ende der Protestwelle versammelte wohl mehr als 100000 Menschen. Ausmaß und Dauer der Proteste waren beispiellos in der Geschichte Wisconsins. Die Besetzung des State Capitol durch tausende Menschen war die am längsten dauernde Menschenblockade eines Regierungsgebäudes durch eine politische Protestbewegung, die in der amerikanischen Geschichte je stattgefunden hat. Niemand erwartete diese heftige Reaktion auf die Maßnahmen des Gouverneurs.

Leben im Plenarsaal

Der zentrale Ort innerhalb des Capitols ist eine große Rotunde, die sich nach oben ins Innere der Gebäudekuppel erstreckt. Über dem Parkett der Rotunde befinden sich zwei Etagen mit Balkonen. Jeden Tag war dieser Raum voll mit Menschen, die Sprechchöre riefen, Reden hielten und gelegentlich sangen. Das alte amerikanische Arbeiterlied Solidarity Forever wurde vermutlich das erste Mal innerhalb des Parlamentsgebäudes gesungen.

Die »Freigabe« des Capitols für die Öffentlichkeit bedeutete, dass, wer immer wollte, ins Gebäude kommen und übernachten konnte. Studierende, Obdachlose, Lehrer, Feuerwehrmänner, Umweltaktivisten und andere teilten sich den Platz, schufen ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl. Die Besetzer bildeten eine Gruppe (die »Marschalls«), die für Sicherheit sorgte, indem sie um das Gebäude patrouillierte und sicherstellte, dass die Protestierenden unbesorgt schlafen konnten; die Marschalls wussten, wo Hilfe zu organisieren war, verhandelten aber auch mit der Polizei – viele der diensthabenden Polizisten schienen dem Protest mit Sympathie zu begegnen.

Das Erdgeschoss und alle Balkone waren mit Bannern und Plakaten bedeckt. Einer der Sprechchöre auf den Demonstrationen bezeichnete das Capitol als »The People’s House« (»Haus für Alle«), daher trafen die BesetzerInnen Vorkehrungen, um Schäden an der Einrichtung zu verhindern und den Ort sauber zu halten.

Sehr schnell, nachdem die Menschen anfingen, im Gebäude zu übernachten, wurde kostenfrei Essen angeliefert. Um zwei Uhr in der ersten Nacht der Besetzung packte Ian’s Pizza, ein kleines Restaurant in der Nähe des Capitols, alle unverkauften Pizzas zusammen und brachte sie zu den Besetzern. Am nächsten Tag machten die Medien daraus eine menschelnde Geschichte, so dass Ian’s Pizza bald Bestellungen für die Besetzer von überall aus den USA und letztlich auch aus verschiedenen Ländern der ganzen Welt bekam. Im Capitol wurde ein Versorgungspunkt eingerichtet, wo die Lieferungen ortsansässiger und überregionaler Unterstützer entgegengenommen wurden. Die meiste Zeit während der Besetzung des Gebäudes gab es mehr als genug Verpflegung für alle.

Während der Proteste fand täglich spät am Nachmittag eine Kundgebung außerhalb des Gebäudes statt, auf der bekannte Redner auftraten: Abgeordnete der Demokraten; Prominente aus der Arbeiterbewegung, unter ihnen der Bundesvorsitzende der AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations, amerikanischer Gewerkschaftsverband), Vertreter aus der Lokalpolitik, Berühmtheiten wie der Filmemacher Michael Moore – und viele ganz normale Leute. Wenige Tage nach dem Beginn der Proteste entschuldigten sich die Vorsitzenden der Gewerkschaften der Feuerwehrmänner und der Polizei förmlich bei den Bürgern von Wisconsin, dass sie den Gouverneur im Wahlkampf unterstützt hatten. Nachdrücklich verurteilten sie den Versuch des Gouverneurs, die Arbeiterbewegung zu spalten, indem er ihre Gewerkschaften vor den Maßnahmen des Gesetzes verschonte. Von diesem Zeitpunkt an waren auf jeder Demonstration Feuerwehrleute und Polizisten zu sehen, die gerade keinen Dienst hatten. Während der Kundgebungen am Nachmittag versammelten sich die voll ausgerüsteten Feuerwehrmänner in einer Seitenstraße des Capitols und begannen unterstützt von Dudelsäcken einen Marsch um das Gebäude und durch den Plenarsaal, um am Ort der Kundgebung zu enden. Sie wurden von der Menge mit enthusiastischen Beifallsrufen empfangen. Auch Feuerwehrmänner und Polizisten, die nicht im Dienst waren, übernachteten im Gebäude.

Bemerkenswert war, dass die Proteste generationsübergreifend waren. Anders als Antikriegsdemonstrationen, die v. a. von Universitätsstudierenden besucht werden, kamen hier Alte und Pensionäre, Menschen, die mitten im Berufsleben stehen, Familien, Schüler, Kinder. Auch wenn die Demonstrationen fast ausschließlich weiß waren (der Anteil von Nicht-Weißen an der Bevölkerung von Wisconsin ist relativ klein und konzentriert sich in Milwaukee, 120 Kilometer von Madison entfernt), kam auf ihnen doch eine Mischung aus Arbeitern, Handwerkern und Angestellten aus dem privaten und öffentlichen Sektor sowie Angestellten zusammen.

Insbesondere die Teaching Assistants’ Association spielte für die Logistik der Besetzung eine ungeheuer wichtige Rolle. Kurz nachdem die Besetzung begann, stellte einer der demokratischen Abgeordneten einen großen Konferenzraum für die Zentrale der TAA im Capitol zur Verfügung. Die TAA organisierte die Verpflegung, medizinische Betreuung, einen Informationsdienst und eine Kinderbetreuung. Ebenso organisierte sie Trainings im gewaltfreien Widerstand – was wesentlich dazu beitrug, die Provokationen einiger Tea-Party-Anhänger abzuwenden – und mobilisierte die Leute immer wieder, an den Anhörungen teilzunehmen, um so die Dauer der Besetzung zu verlängern.

Der politische Gehalt der Proteste

Von Anfang an betonten die Besetzer, dass es ihnen nicht primär um die vorgesehenen Einschnitte im Staatshaushalt ging. Obwohl viele der Plakate die Haushaltskürzungen anprangerten, v. a. jene im Bildungsbereich, war das zentrale Anliegen der Proteste die Verteidigung der Rechte von Arbeitern und der Demokratie. Die Gewerkschaftsführung erklärte öffentlich das Einverständnis der Staatsbeamten mit den finanziellen Bestimmungen des Gesetzes zur Haushaltssanierung – insbesondere den höheren Krankenversicherungsbeiträgen und einer stärkeren Selbstbeteiligung an der Altersvorsorge. Die Gewerkschaften akzeptierten großteils die Floskeln, dass »wir alle« angesichts der finanziellen Umstände »Opfer bringen« müssten. Was sie nicht mittragen wollten, war die Beschränkung gewerkschaftlicher Rechte.

Beschränkung gewerkschaftlicher Rechte. Einige der Protestierenden fügten sich den Vorgaben der Gewerkschaften. Der größte Teil der Parolen und Sprechchöre richtete sich aber gegen das gesamte Gesetz und beklagte den Sparkurs der Regierung als Augenwischerei. Viele Plakate forderten höhere Steuern für die Wohlhabenden und verpönten die Finanzkrise als eine mutwillig herbeigeführte Krise. Für die Protestlandschaft der USA war besonders auffällig, dass sich in der Sprache der Proteste durchgängig Begriffe wie Klasse und sogar Klassenkampf fanden. Ein typisches Plakat auf einer Demonstration lautete: »Welcome to Walker’s Wisconsin: open for business. Come exploit our labor and our natural resources.« (»Willkommen in Walkers Wisconsin: bereit für Geschäfte. Kommen Sie, um unsere Arbeit und Bodenschätze auszubeuten!«) Typischerweise wird in den USA so über Klassen gesprochen: »Unterstützt die Gewerkschaften! Unterstützt die Mittelklasse!« Aber zumeist wird doch ein Bild polarer Klassengegensätze gezeichnet: Als Unterstützer Walkers gelten Kapitalisten, Reiche, große Unternehmen; als Betroffene die Arbeiterklasse, die Arbeiterschaft, die Arbeit, das Volk.

Mit dem Voranschreiten der Proteste wurde das Thema Demokratie prominenter. Das ging zum Teil auf die Bemühungen zurück, die symbolische Anziehungskraft der Proteste über Gewerkschaftsmitglieder hinaus auszudehnen – schließlich liegt auch in Wisconsin der Organisierungsgrad bei weniger als 15 Prozent der Beschäftigten. Es zeugte auch von der Einsicht, dass es in der Auseinandersetzung nicht nur um die Rechte der Arbeiter geht, sondern um die Grundsätze demokratischer Verfahren. Einer der häufigsten Sprechchöre auf den Demonstrationen waren Ruf und Echo »Tell me what democracy looks like: This is what democracy looks like!« (»Wie sieht Demokratie aus? Genau so sieht Demokratie aus!«) In vielen Redebeiträgen betonten die Redner, dass der Angriff auf die Gewerkschaften ein Angriff auf demokratische Rechte sei. Insbesondere unter den politischen Bedingungen in den USA, wo Unternehmen das Recht haben, unbegrenzt Geld in politische Kampagnen zu stecken, würde mit der Zerstörung der Gewerkschaften die einzige große nicht-gewerbliche Quelle zur Finanzierung politischer Parteien ausgetrocknet.

Hauptziel der Proteste war, das politische Klima so zu verändern, dass das Gesetz nicht durchgeht, zumindest nicht mit seinen gewerkschaftsfeindlichen Bestimmungen: »Kill The Bill!« Da die 14 Senatoren den Bundesstaat verlassen hatten, wurde die Abstimmung verzögert. Man hoffte auf verstärkten Druck auf die republikanischen Abgeordneten. Doch nur ein republikanischer Senator äußerte überhaupt Zweifel an den Bestimmungen gegen die Rechte der Gewerkschaften.

Das politische Ziel verschob sich dahin, die Abberufung des Gouverneurs und einiger Senatoren durch die Wähler voranzutreiben. In Wisconsin können gewählte Repräsentanten frühestens nach einem Jahr Amtszeit abgesetzt werden. Innerhalb von 60 Tagen muss eine Anzahl Unterschriften gesammelt werden, die 25 Prozent der abgegebenen Stimmen bei der letzten Wahl entspricht. Innerhalb weniger Tage wurden Unterschriftenaktionen für die Absetzung von acht Senatoren der Republikaner gestartet. Im Falle des Gouverneurs, der sein Amt gerade erst angetreten hatte und bei dem eine Abwahl daher nicht vor Januar 2012 in Frage kommt, zielte die Abwahlkampagne auf das vorsorgliche Versprechen der Wähler, im November 2011 der Abwahl zuzustimmen. Bis zum April 2011 waren zwei Unterschriftenaktionen erfolgreich, so dass sich im Sommer zwei Republikaner erneut zur Wahl stellen müssen.

Das Ende der Proteste

Am 3. März leitete Gouverneur Walker die Räumung des Capitols in die Wege. Zum Vorwand diente die Besorgnis um den Zustand des Gebäudes. Die Polizisten, die großteils nicht aus Madison kamen, hinderten so gut wie jeden am Betreten des Gebäudes. Die TAA musste den Konferenzraum verlassen, den die Studierenden als Hauptsitz nutzten. Besetzern, die sich weigerten zu gehen, wurde Haft angedroht, wenngleich es letztlich keine Festnahmen gab. Die Kundgebungen außerhalb des Gebäudes wurden auch die kommenden Tage fortgesetzt, die Leute skandierten »Lasst uns rein!« – aber nur kleine Gruppen wurden in Begleitung von einem gewählten Mitglied des Parlaments ins Gebäude gelassen und sie durften nicht über Nacht bleiben.

Am 9. März trafen sich die Senatoren der Republikaner, gliederten die gewerkschaftsfeindlichen Bestimmungen des Gesetzesentwurfes aus und machten daraus ein selbständiges Gesetzesvorhaben. Da es somit formal nicht mehr Teil des Haushaltssanierungsgesetzes war, war auch das Quorum von 60 Prozent hinfällig, und es konnte allein mit den Stimmen der Republikaner verabschiedet werden, die sich denn auch mit 18 zu einer Stimme für die Annahme entschieden. Einige Protestierende gelangten ins Gebäude und machten solchen Lärm, dass die Republikaner ihre Sitzung nur schreiend abhalten konnten. Die Polizei entfernte Demonstranten, die vor dem Plenarsaal ein Sit-in veranstalteten. In den sozialen Netzwerken verbreitete sich die Nachricht von der Abstimmung schnell und einige Tausend Menschen fanden sich am frühen Abend am Capitol ein. Unter dem Stillschweigen der Polizei zogen die Menschen für eine letzte Nacht ins Gebäude. Für kurze Zeit lebte die Intensität der vergangen Wochen wieder auf. Am Morgen wurden die verbliebenen Protestierenden abermals geräumt. Das Gesetz wurde am 10. März in aller Eile verabschiedet und vom Gouverneur als rechtskräftig unterzeichnet.

Eine letzte zentrale Kundgebung mit mehr als 100000 Teilnehmern fand am 12. März statt. Sie begann am Morgen mit einer Traktorparade der Kleinbauern aus der Umgebung, die sich mit den Arbeitern solidarisierten, und dauerte bis zum Nachmittag an. Die 14 Senatoren, die den Bundesstaat zwischenzeitlich verlassen hatten, kehrten zurück und sprachen auf der Kundgebung. Es war lebhaft und energisch, markierte aber auch das Ende dieser Phase des Kampfes in Wisconsin.

Bis Mitte April kamen die Gesetzesbestimmungen nicht zur Anwendung. Ein ortsansässiger Richter hatte eine einstweilige Verfügung gegen die »Veröffentlichung« des Gesetzes – der letzte Schritt, bevor es in Kraft tritt – erlassen, weil das Abstimmungsverfahren die Versammlungsfreiheit im Bundesstaat verletze, die anordnet, dass eine Gesetzesabstimmung 24 Stunden zuvor angekündigt werden muss und die Öffentlichkeit der Abstimmung beiwohnen darf. Es ist nicht vollständig geklärt, wie das Prozedere weitergeht, zumal zwei Senatoren sich der Wiederwahl stellen müssen und es daher möglich ist, dass bei einer Neuabstimmung drei Republikaner gegen das Gesetz stimmen. Es wird jedoch erwartet, dass das Anti-Gewerkschaftsgesetz letztlich in Kraft tritt und erst nach einer Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zurückgenommen werden kann.

Einige Schlussfolgerungen

Auf dem Hochpunkt der Finanzkrise 2008/09 war die Hoffnung groß, dass die ökonomische Misere den Raum für eine progressive staatliche Politik in den USA öffnen würde. Obamas Wahl stand im Zeichen der Notwendigkeit eines Wandels (change), und die Ziele, die er vertrat, waren mit einer aktiven und bürgernahen staatlichen Politik vereinbar. Diese Hoffnungen wurden durch die zaudernde Art, mit der Obama die Schritte zur Bewältigung der Krise ging und in der er seine politischen Projekte in der Gesundheitsvorsorge und anderen Bereichen anging, zunichte gemacht. Innerhalb weniger Monate begannen die Rechten mit gezielten Kampagnen gegen seine relativ moderate Politik, und bis zum Herbst 2009 hatten sie es tatsächlich geschafft, die politische Agenda umzuwerfen. Bei den Kongresswahlen 2010 stachen das Haushaltsdefizit und die »Sachzwänge« zur Kürzung der Staatsausgaben alle anderen Themen aus.

Schwerpunkt der politischen Debatte war die Frage, wie stark der Staat in seiner Rolle zurückgedrängt werden solle, wie stark die Ausgaben und Steuern gesenkt werden sollen, aber nicht ob sie überhaupt gekürzt werden sollen. Die amerikanische Kapitalistenklasse machte sich in keinem Moment Gedanken über die langfristigen Folgen der steuerfeindlichen und antistaatlichen Politik für die Wirtschaft der USA. Außer ein paar Politikern am linken Rand der Demokraten vertrat bei den Wahlen 2010 kein prominenter Politiker die Notwendigkeit einer aktiven staatlichen Politik, um durch die höhere Besteuerung von Vermögenden stabiles ökonomisches Wachstum zu schaffen.

In diesem politischen Klima brachen Mitte Februar die Massenproteste in Wisconsin aus. Im Laufe der Ereignisse kam es zu einer dramatischen Verschiebung im öffentlichen Diskurs. Der Protest erhielt starke Unterstützung seitens der Öffentlichkeit: In Umfragen gaben mehr als 70 Prozent der Erwachsenen an, steigende Steuern zu befürworten, wenn so die im Gesetz zur Haushaltssanierung vorgesehenen Kürzungen zu verhindern seien, und eine große Mehrheit sprach sich gegen die gewerkschaftsfeindlichen Bestimmungen aus. Mit der Dauer der Proteste nahm die geäußerte Unterstützung noch zu.

Die Ereignisse in Wisconsin haben bedeutende Auswirkungen: Vergleichbare Angriffe auf die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst wurden auch in anderen Staaten – Michigan, Indiana, Ohio, Florida und andere – gestartet, gepriesen als sparpolitische Maßnahmen zur Abschaffung von Kollektivverhandlungen »à la Wisconsin«. Die Proteste stehen für die Möglichkeit aktiven Widerstands gegen diese Angriffe wie auch gegen die Tea-Party-Bewegung und die rechte Stimmungsmache gegen Steuern. Die umgehenden und verheerenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Sparpolitik für viele Familien, die Gefährdung der Schulen, in die sie die Hoffnungen für ihre Kinder setzen, und der Abbau sozialer Hilfen schaffen ein Gefühl der Empörung sowohl über die undemokratischen Seiten der Haushaltsplanung als auch die ideologischen Rechtfertigungen der Kürzung öffentlicher Mittel. Vor den Protesten in Wisconsin war die Reaktion von Resignation und Apathie geprägt. Die Proteste zeigten das Potenzial für Widerstand und eine Änderung des politischen Klimas. In den Protesten wurde für viele die Berufung auf Demokratie, Anstand und Diskussionskultur vorrangig. Für kurze Zeit entstand das Gefühl, dass einfache Menschen es mit der politischen und ideologischen Offensive des korporatistisch organisierten Kapitalismus aufnehmen können.

Auswirkungen auf die örtliche Parteipolitik, das Auftreten der Gewerkschaften, die juristischen Prozesse, die Bürgermobilisierung und die Auffassungen der amerikanischen Demokratie in Wisconsin und anderswo sind spürbar. Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig der politische Meinungsumschwung ist. Und natürlich bleibt ebenso abzuwarten, ob die Demokraten, die immer abhängiger werden von der Finanzierung durch Unternehmen, diese neuen Impulse aufnehmen, um die politische Rechte, die den Staat momentan kontrolliert, effektiver und progressiver herausfordern zu können als bisher.

Aus dem Amerikanischen von Peter Bescherer